Einerlei im Vielerlei

Deutschland im Bild ist immer so, wie sich die Deutschen sehen – von ein paar Aufnahmen abgesehen. Über Thomas Wiegands beeindruckendes „Deutschland im Fotobuch“

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die große Aufmerksamkeit, die in der letzten Zeit Fotobücher auf sich gezogen haben, mag damit zusammenhängen, dass sie wie kaum ein anderes Genre die kulturelle Sehweise einer historischen Phase und einer intellektuellen Perspektive (lassen wir die Ideologie kurz beiseite) so ungemein präzise auszudrücken scheinen. Dabei ist die Übereinkunft, was denn als Fotobuch anzusehen ist, nicht allzu strikt. Reportagen mit Fotobeilagen sind ebenso darunter zu finden wie Fotosammlungen zu bestimmten Sujets oder gar Fotoerzählungen.

Die Bindung zum Buch scheint eine der wenigen Gemeinsamkeiten der in letzter Zeit erschienenen Sammlungen zu sein (was die Frage übergeht, was denn ein Buch selbst überhaupt sein soll). Und Überschneidungen finden sich allemal. Aber gelegentlich pfuscht sich auch ein Quartett oder ein Kalender in die Reihe der als Kulturgut geadelten Fotobücher, und so mancher Reiseführer wird durch die Einreihung in die von einzelnen Autoren ausgeführten Konzeptbände noch nachträglich aufgewertet.

Aber das macht nicht viel aus, denn die Ubiquität der visuellen Anker in der Moderne lässt die Grenzen zwischen den einzelnen Varianten des Fotobuchs verschwinden. Aber nicht das ist das eigentlich Interessante, sondern die Langzeitwirkung einzelner Stile und Fotografen, die vieles über die Sicht der Deutschen von sich selbst aussagt.

Von den im von Thomas Wiegand bearbeiteten und von Manfred Heiting herausgegebenen, allein schon durch seine Dimensionen beindruckenden Band, der den lapidaren Titel „Deutschland im Fotobuch“ trägt und wie immer beindruckend schön vom Steidl-Verlag präsentiert wird, ist das vielleicht einzig und allein August Sander mit dem 1929 erschienenen schmalen Band „Antlitz der Zeit“ gelungen, einem schmalen bei Kurt Wolff erschienenen Fotobuch, das heute zu den Höhepunkten der sozial engagierten Fotografie des frühen 20. Jahrhunderts zählt.

Seinerzeit aber war Sanders Buch derart grandios erfolglos, dass die Nazis sogar die Restauflage vernichten mussten – was dazu führte, dass es später eine Rarität wurde. Das soll man ihnen erst einmal nachmachen. Auch nach dem Krieg interessierte sich erst einmal niemand für Sander, sein Fotoklassiker wurde erst mit der Wiederentdeckung der 1920er-Jahre und der Ideologiekritik 1974 neu aufgelegt. Seitdem gilt Sander als der wohl prägendste Fotograf des frühen 20. Jahrhunderts, zumindest was die öffentliche Wahrnehmung angeht. Sein Zeitgenosse Alfred Renger-Patzsch hatte sich hingegen durch den im selben Verlag erschienenen Band mit dem Titel „Die Welt ist schön“ verdächtig genug gemacht. Und selbst wenn er noch nach dem Krieg enorm produktiv war – Sander war der Vorbildfotograf der sozialkritischen deutschen Fotografie und ist es bis heute geblieben.

Immer wieder kommen Fotografen vor allem der 1970er-Jahre auf Sanders Vorbild zurück und versuchen sich an sozialen Bestandsaufnahmen. Beate und Heinz Roses Band über die „Menschenbilder aus der Bundesrepublik Deutschland zu Beginn der siebziger Jahre“ (1972), Stefan Moses’ „Deutsche“ (1980), Stefan Hankes „Menschen einer deutschen Stadt“ (1988), Derek Bennett „Stille Zwiesprache“ (1983) – die Beispiele lassen sich schnell auffinden. Diese Bände sind typisch, die Fotos treffend, und sie drohen doch ins Leere zu laufen – da sich die relativ starken Gruppenstile, die die Gesellschaft noch im frühen 20. Jahrhundert prägen, und damit das Verhalten, die Kleidung, das gesamte Auftreten, mehr und mehr in Individualstile aufgelöst haben. Auch wenn die sozialen Differenzen in der deutschen Gesellschaft nicht geringer geworden sind, am Äußeren sind sie nur bedingt ablesbar. Und auch eben nicht mehr an Fotografien. Niemandem ist mehr notwendig anzusehen, woher er kommt und wohin er gehört.

Das wird vielleicht an jenen Fotografien besonders gut erkennbar, die sich an der Schwelle zwischen den noch recht starren Konventionen der Nachkriegszeit und den immer offeneren Verhaltenshorizonten seitdem befinden: der Schnappschuss, auf dem der uniformierte Schütze ebenso zu sehen ist wie seine Frau, die im kurzen Rock neben ihm über die Wiese eilt, begleitet von den beiden Kindern. Mode mag ein geschlechtsspezifisches Korsett sein, aber sie ist flexibel genug, in seinem Rahmen alles zu erlauben – und das ist mehr als man von einer Konvention sagen kann, der es ja vor allem darum geht, die Veränderung draußen zu halten.

Selbstverständlich gibt es auch jene Fotografen, die dem großen Vorbild Erich Salomons gefolgt sind und seinen Ansatz weiter entwickeln: Gesellschaftsbilder als Bilder der feinen Gesellschaft. Herlinde Koelbl hat das versucht, Barbara Klemm ebenso. Klemms Foto Heinrich Bölls 1983 in Mutlangen ist vielleicht eine der wenigen Ikonen, die in diese Fotobände gewandert sind. Die wichtigsten stammen sicher von Michal Ruetz, dem Hausfotografen der APO, der erst 1980 seinen schönen Band mit Fotografien von 1966 bis 1969 vorlegte.

Und in diesem Zusammenhang ist auch der große Irrtum neuerer Fotografen zu finden, der sich in ihren Projekten so fatal auswirkt. Die ideologiekritische Wendung der 1970er-Jahre nimmt ein kulturkonservatives Muster auf, für das die Gesellschaft, wie sie sich in der Moderne zeigt, vor allem ein Verfalls-, Herrschafts- und Enthumanisierungskonstrukt ist.

Frühe konservative, ja auch völkische Projekte machten Front gegen die Moderne und wollten noch eine große Tradition vorführen, die aus der Masse der zahlreichen unverbundenen Einzelnen so etwas wie eine Gemeinschaft machen konnte. Bamberger Reiter und Kölner Dom, Bauerngesichter, die engen Gassen mittelalterlicher Städte, die Giebel der bürgerlichen Prunkbauten und die Ansichten vom romantischen Rhein standen aber vor allem für ein Imago, das in der Realität schon lange keine Basis mehr hatte. Zu sehr hatte sich die moderne Industriegesellschaft bereits aus dem engen Korsett der Vormoderne gelöst. Dass solche Ansichten touristischen Charakter hatten, zeigt ja bereits, dass man nach solchen Orten suchen muss. Sie sind nicht mehr allgegenwärtig. Was für die Nazis und ihre Projekte vielleicht noch Gewissheit schaffen sollte, hat bei den konservativen Projekten dann doch schon eher melancholischen Charakter.

Mit dem Wechsel ins moderne Fach nun verändert sich merkwürdiger Weise eigentlich nicht der Zugriff: Es bleibt die Melancholie, die sich je später je mehr als Kritik ausgibt. Die Moderne wird nicht gefeiert und ihre Optionen werden nicht ausgelobt. Stattdessen finden sich Verlustanzeigen bis in das Dokumentationsprojekt von Bernd und Hilla Becher, das bei Fachwerkhäusern beginnt und bei aufgegebenen Industrieanlagen fortgesetzt wird.

Verlust ist das eine, Kritik jedoch das andere; eine Kritik zudem, die Fotografien von leeren Straßen oder Hochhaussiedlungen immer als Ausdruck der Entfremdung versteht. Zugegeben, die Nachkriegsmoderne, vor allem in der Architektur, hat den Innenstädten manch betonselige Geschmacklosigkeit beschert, was die Fotografen gern und begeistert aufgenommen haben. Aber Gewaltverhältnisse aus einer Betontreppe, einem Hochhauskomplex oder einer Neubausiedlung abzuleiten? Essen langweilig und hässlich wie in Hans-Peter Feldmanns „Eine Stadt: Essen“ (1977) oder Würzburg so wie in Reinhold L. Hilgerings „Stadtansicht: Würzburg“ (1982) – das ist schon fast wohlfeil. Das ist vor allem dann gewagt, wenn als Folie dazu eine großbürgerliche Gartenlandschaft zu denken ist, in der dann das nichtentfremdete Leben zu führen wäre. Oder eine vorzivile Dorflandschaft, in der es weder Kanalisation noch Strom gibt.

Ähnliches gilt auch für jene Fotobücher, die die Erfolge der DDR feiern oder ihren Gewaltcharakter und ihre Öde hervorkehren. Es ist lehrreich, sich die einen wie anderen Bände vorzunehmen – aber argumentativ hilft der Band hier nicht weiter, auch weil er sich als Katalog versteht und keinen analytischen Ansatz verfolgt oder gar eine These. Das mag man ihm übelnehmen.

Im Ganzen sieht dieses Deutschland, wie es aus dem Fotobuch herausschaut, aus, wie man es erwartet. In vielen Fällen banal und wenig erbaulich, in anderen Fällen auch wieder ganz amüsant und hinreißend. Es überwiegt ein etwas schwermütiger Blick, dem anscheinend vieles nicht gefällt, was aber anderswo auch nicht schlimmer ist. Man muss Beton ja nicht über den grünen Klee loben (egal, was man draus macht), aber wenigstens hinnehmen, dass ohne ihn vieles nicht so hinzubekommen wäre, wie man es gerne hat.

Dass die Deutschen angeblich besonders melancholisch sein sollen – meinetwegen im Vergleich zu den Franzosen, Italienern oder Engländern, die ihrerseits vor allem lüstern, geschwätzig oder betrunken sein sollen –, gehört freilich ebenso zu den europäischen Mythen wie die umgekehrte Annahme, dass sie nämlich der Welt gezeigt hätten, was für ein gastfreundliches Völkchen sie sind. Da aber Wahrnehmung nie ohne Vorgaben und Denkmuster funktioniert, kann man auch Fotografen nicht davon freimachen. Sie fotografieren eben auch immer nur so, wie wir alle zu denken gelernt haben. Damit wird man sich einigermaßen arrangieren müssen.

Solches Denken, Sehen und fotografisches Gestalten ist in diesem Band allerdings besonders eindrucksvoll präsentiert: „Deutschland im Fotobuch“ legt man nicht einfach mal so aufs Teetischchen, ohne Angst um das fragile Möbelstück zu bekommen. Auch regaltechnisch stellt es Anforderungen. Besser also, man geht nicht allzu leichtfertig mit dem Band um.

Die beigegebenen Texte sind zwar nicht immer wirklich belastbar, was dann auffällt, wenn man die Fotobücher zufällig selbst im Bestand hat: Über die Mängel und Brüche in Heinrich Hausers Reportage über das Ruhrgebiet „Schwarzes Revier“ hinwegzusehen (in Text und in der Fotografie) und einfach von einem Meisterstück zu schwätzen, ist nicht eben seriös und macht misstrauisch, was andere Einschätzungen angeht. In Paul Wolffs und Hausers Opel-Auftragsarbeit „Im Kraftfeld von Rüsselsheim“ von 1940, wird zwar bemerkt, dass sich Hauser zu dem Zeitpunkt bereits im Exil befunden habe, die Frage jedoch unterbleibt, warum das Buch dann überhaupt bis 1942 drei Auflagen erlebt hat, wo ansonsten der Buchbetrieb doch hart unter der Papierkontingentierung litt. Wiegands Kommentar zu Kurt Tucholskys Kooperation mit John Heartfield („Deutschland, Deutschland über alles“, 1929) – eines der großen Bücher für Literaturwissenschaftler, die sich mit den 1920er-Jahren beschäftigen – ist dann schließlich nur noch mau.

Das ändert im Übrigen nichts daran, dass Hausers Ruhrgebietsband im Original und in der Neuausgabe bei Weidle bemerkenswert ist, dass das Opel-Buch beeindruckendes Farbmaterial enthält und Tucholskys und Heartfields Band hervorragend präsentiert wird. Auch sei Wiegands Arbeit nicht abgewertet, nur weil er zwar viel weiß, noch mehr gesammelt hat und eine Menge präsentiert, und dabei immer nochmal danebenhaut. In der Masse des Materials, das er verarbeitet, kann das passieren.

Zumal es verblüffend ist, dass Wiegand einen seinerzeit katastrophalen Misserfolg wie Hartmut Mirbachs Niederrheinband „Schönes Wochenende“, 1987, aus der Versenkung holt und ihn und seine Ausstattung ausführlich ehrt. Da kramt man doch gern in seinen Beständen nach dem Band, der lange Jahre aus der Wahrnehmung verschwunden war und seinerzeit einer der Totengräber des kleinen Juni-Verlags im beschaulichen Viersen-Dornbusch war. Der Verleger backt heute Plätzchen.

Bleibt nur die Frage, was der Band eigentlich soll. Für ein Nachschlagewerk hat er die falsche Ausstattung und Aufmachung. Auch ist die Auswahl nicht systematisch genug. Die Struktur, die sich nach Sujets richtet, macht den Zugriff auch nicht einfacher. Bleiben also nur drei Aufgaben, die Aufwertung des Genres Fotobuch, die Lieferung eines leidlich funktionsfähigen Orientierungsrahmen, an dem entlang man sich eine eigene Sammlung zusammenstellen kann, und schließlich das staunende Blättern durch hundert Jahre Deutschlandbilder im Fotobuch. Gegen keine der drei Aufgaben ist etwas zu sagen, und wer den Band daheim hat, wird sich immer wieder an ihm erfreuen können. Beim nächsten Umzug jedoch, gehört er zu dem Ballast, der immer nur Ärger macht, Kosten verursacht und auch noch Schaden nimmt. Aber das werden wir dann mal abwarten und bis dahin unseren Spaß haben. Und immer die Augen offen halten.

Titelbild

Thomas Wiegand / Manfred Heiting: Deutschland im Fotobuch. 287 Fotobücher zum Thema Deutschland aus der Zeit von 1915 bis 2009.
Steidl Verlag, Göttingen 2011.
491 Seiten, 75,00 EUR.
ISBN-13: 9783869302492

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