»Hosi-Anna!« – Oder doch nicht?

Ernst Jandl wird zum 10. Todestag in Johann Georg Lughofers Aufsatzband neu interpretiert, kommentiert und didaktisiert.

Von Heide KunzelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heide Kunzelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johann Georg Lughofer, Dozent an der Germanistikabteilung der Universität Ljubljana, fungiert als Herausgeber einer neuen Reihe namens „Ljurik – Internationale Lyriktage der Germanistik Ljubljana“, deren erster Band aus dem Praesens Verlag Wien nun vorliegt. Er widmet sich dem auch über die Grenzen Österreichs hinaus bekannten Experimentaldichter Ernst Jandl, dessen 10. Todestag im Juni 2010 zum Anlass genommen wurde, eine Veranstaltungsreihe zu begründen.

Der Praesens Verlag verlegt sich vor allem auf germanistische Themen und weist unter seinen AutorInnen bereits ein Stammpublikum aus dem gesamtösterreichischen universitären Bereich auf. Nicht zuletzt hat auch Wendelin Schmidt-Dengler, der verstorbene Doyen der österreichischen Germanistik, einige seiner Bücher bei Praesens verlegen lassen.

Mit Lughofers Reihe soll nun auch der slowenischen und, in Ansätzen, auch der kroatischen Germanistik ein Forum geboten werden, in dem jedes Jahr das Werk eines/r Lyrikers/in in kurzen Beiträgen kommentiert, interpretiert und didaktisiert werden. So stellt man es sich jedenfalls in der Kurzbeschreibung von „Ljurik“ auf der Verlagswebseite vor. Die substanzielle Unterstützung durch das österreichische Kulturforum bedeutet in diesem Kontext wohl, dass es sich in Zukunft weitgehend um LyrikerInnen österreichischer Provenienz handeln wird, die im Zentrum stehen werden. Das scheint auch bestätigt zu werden durch die Wahl des 2012 im Mittelpunkt stehenden Autors Erich Fried.

Lughofer begründet die Wahl Ernst Jandls, dessen Werk als erstes im Rahmen der „Internationalen Lyriktage“ besprochen werden soll, jedenfalls mit dessen herausragender Bedeutung für die deutschsprachige Literatur, aber auch mit der Tatsache, dass sein Werk geradezu nach sprach-, literatur- und kulturwissenschaftlichen Interpretationen verlange. Und nicht zuletzt damit, dass Jandl als Lehrer immer „an didaktischen und pädagogischen Fragen interessiert“ gewesen sei, worauf in diesem Band wiederholt in der Betrachtung des Rezeptionsaspekts bei Jandl hingewiesen wird.

Für Lughofer ist die Lyrikinterpretation die philologische „Königsdisziplin“. Er fordert eine besonders präzise Handhabung der analytischen Fähigkeiten der InterpretatorInnen ein; ein Anspruch, der aber im vorliegenden Band nicht in jedem Fall erfüllt wird. Denn Präzision darf nicht mit Überinterpretation verwechselt werden – und genau das scheint ein Hauptproblem mancher Zugänge zu Jandls Werk zu sein, obwohl genau dieses Dilemma an mehreren Stellen von den BeiträgerInnen selbst thematisiert wird. Der Band beinhaltet elf Beiträge, wovon der letzte eine höchst gelungene paratextuelle Antwort des Sprachinstallateurs Martin Köhle auf ein frühes Gedicht Jandls („Da kommen sie gelaufen“, 1952 in H. C. Artmanns kurzlebiger Zeitschrift „publikationen“ erschienen) ist. In den übrigen zehn Kurzaufsätzen kommen LiteraturwissenschaftlerInnen, LinguistInnen und SpracherwerbsforscherInnen aus Österreich, Slowenien und Kroatien zu Wort. Dementsprechend thematisch, aber auch theoretisch unterschiedlich sind die eingenommenen Positionen.

In Michael Hammeschmids Einleitung wird der Ton einer teilweise fast zu eindimensionalen, apologetischen Betrachtung Jandls als singuläre ästhetische Lichtgestalt der österreichischen Nachkriegslyrik angestimmt, wenn auch in noch sehr moderatem Rahmen. Hammerschmids Aufgabe ist es, einleitend Jandls Stellenwert in der deutschsprachigen Literatur nach 1945 zu skizzieren. Mit großem Kenntnisreichtum kommt der Autor der Aufgabe nach, deponiert jedoch deutlich, dass er Jandl für eine Art avantgardistischen Renaissance-Menschen hält, der sich an der Peripherie der tendenziell so vielfältigen wie verwirrenden Nachkriegsliteratur zum Synthetisierer aller heterogenen Strömungen der Zeit in- und außerhalb Österreichs geriert, ohne in die Grabengefechte der neo-avantgardistischen Gruppierungen der engagierten Kunst der 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahre hineingezogen zu werden. Dass Jandl, wie Hammerschmid es darstellt, nicht von der Wiener Gruppe ‚einverleibt‘ werden konnte, liegt wohl vor allem daran, dass dieser Gruppengedanke ein Konstrukt ist, dem kaum jemand außer Gerhard Rühm letztlich was abgewinnen konnte. Jandls freundschaftliche Beziehungen zu Rühm und Artmann sind jedoch bekannt (man vergleiche Andreas Okopenkos Ausführungen in „Progressiv-Literatur“ oder Jandls eigene Darstellung aus „Weltdichtung“, wo er sich und Friederike Mayröcker durchaus als „verwandt [mit Artmann und Rühm] nach Herkunft und Ziel“ und gar nicht splittergruppen-motiviert zeigt). Dass es in der Nachkriegszeit eher um persönliche Affinitäten und das Bedürfnis nach Stärkung in einem Gruppenzusammenhang, als um programmatischen Ein- und Ausschluss ging, ist heute ebenfalls durchaus zu belegen. Hammerschmids Einleitung positioniert Jandl jedenfalls etwas allzu enthusiastisch in eine zentrale Wirkungslage bei gleichzeitig praktisch anmutender Unvereinnahmbarkeit, was letztlich eine Frage der Perspektive ist.

Die richtige Wahl der Perspektive scheint auch ein wenig das Problem des vorliegenden Bandes zu sein. Es zeigt sich, dass man auch zu präzise in der Deutung der Jandl’schen Texte sein kann – verleitet von dem Mehrdeutigkeitspotenzial, das zwar korrekt, aber auch etwas oberflächlich aus linguistischer Sicht von Tanja Škerlavaj, für Jandls Gedichte konstatiert wird. Eine ausführlichere Passage zur Einbettung ihrer Ergebnisse in den literaturwissenschaftlichen Diskurs (durch sie selbst oder den Herausgeber) gäbe einer präzisen linguistischen Textdurchleuchtung mehr Gewicht. Gleiches gilt für Stojan Bračič’ Diskussion von Jandls poetischer Praxis vor dem Hintergrund der Frage nach Textkohärenz. Man erfährt, dass Jandls Texte zwar nicht den gängigen Beispielen kohärenter Texte entsprechen, dafür aber dennoch Sinn produzieren, wenn auch nicht auf herkömmlichen Wege, und dass dieser Sinn der modularen Anordnung von Wortkomplexen und Textkomponenten geschuldet ist – ansonsten jedoch nichts Neues. Soweit sogut, möchte man sagen. Aber wie sind diese linguistischen Befunde in Beziehung zum größeren Werk- und Wirkungskontext von Jandls Texten zu setzen?

Es wäre die Aufgabe des Herausgebers, diese Beziehungen herzustellen, etwa in einem ausführlichen und integrativen Vorwort. Dies ist ein großer Schwachpunkt der ansonsten impulsreichen Sammlung von Ansätzen. Gerade der Anspruch Kommentare, Interpretationen und Didaktierungsansätze serienmäßig zusammenzuführen, verlangt nach einem Beitrag, der sich dem Nutzen aller Ergebnissen im Zusammenspiel widmet. Es braucht einen Herausgeber, der etwa darauf eingeht, wie die konträren Ansätze Milka Cars, deren Aufsatz sich diskurstheoretisch mit Jandls Werk auseinandersetzt, und des bereits erwähnten Linguisten Stojan Bračič, der Jandls Texten strukturalistisch begegnet, zu verbinden seien. Oder der der Frage nachgeht, wie sich die Betrachtung des Jandl’schen Werks im Kontext der klassischen Reiseliteratur (Kristian Donko) vor einem nach wie vor äußerst delikaten, Karl Riha nachempfundenen Brückenschlag zwischen klassischem Idealismus des reisenden Goethe und dem modernen Pessimismus des Jandl’schen „Ichs“ auf Reisen ausnimmt. Ein Beitrag, der dort kontextualisiert, wo die Auseinandersetzung des modernen Nachkriegsindividuums Jandl mit der Goethe-Tradition ihn letztlich im österreichischen literarischen Feld einordnet, wäre den LeserInnen, die verschiedene interessante Fäden in Händen halten, geschuldet.

Dass ein derart populärer Dichter, dessen Produktion über die Maßen konferenz- wie unterrichtstauglich ist, wie Neva Šlibar uns im Zusammenhang mit dem Didaktisierungspotenzial von Jandltexten auseinandersetzt und es wirkungstechnisch deutlich auf die Motivation der RezipientInnen anlegt, zeigt uns Imelda Rohrbachers persönliche Lesart einiger Jandl-Gedichte. Um ihren dezidiert subjektiven interpretativen Zugang nicht selbst zu unterwandern, möchte man der Autorin jedoch raten, in Zukunft auf diverse Bescheidenheitstopoi zu verzichten: Die Gedichtinterpretationen sprechen durchaus für sich selbst.

Ebenso gut nachvollziehbar sind Špela Virants Ausführungen zu Jandls Nicht-Eignung für das Theater. Einzig ein paar Bezüge zu anderen zeitgenössischen neo-avantgardistischen Theaterexperimenten etwa denen H. C. Artmanns, Konrad Bayers, aber auch später der Grazer Gruppe, könnten Jandls wenig dramatisierungsfreundlichen Stücken ein schärferes Profil verschaffen. Auch Johann Lughofers Betrachtung der gegenseitigen Beeinflussung Ernst Jandls und des oberösterreichischen VolXmusik-Duos „Attwenger“ könnte durch einen Rückblick auf die Verwertung der österreichischen Volkskultur der Jandl’schen ZeitgenossInnen – etwa der Pervertierung der Wiener Dialektkultur in Wort und Gesang in den ersten drei Nachkriegsdekaden – an Argumentationstiefe gewinnen. Inwiefern Attwenger als Hauptimpuls Jandls zur Verfassung der „Stanzen“ zu werten ist, ist ebenfalls noch zu klären.

Fakt ist, dass die meisten Merkmale, die Lughofer als Beleg für die Beeinflussung Jandls durch die jungen Musiker anführt, durch H. C. Artmann, Gerhard Rühm, Friedrich Achleitner und Oswald Wiener bereits thematisiert und diskutiert wurden. So erwähnt Achleitner 1990 in dem als „Neuberger Gespräch“ bekannt gewordenen Austausch mit Artmann, Rühm und Wendelin Schmidt-Dengler charakteristische Wiederholungen im oberösterreichischen „Ob-der-Ennser“-Dialekt, um nur ein Beispiel zu nennen. Jandl waren die Dialektexperimente von Rühm und Co. sicher bekannt, auch wenn er selbst zu jener Zeit wesentlich Anderes produzierte. Die von Lughofer hier exemplarisch angedachte Verbindung zwischen österreichischer experimenteller Literatur und einer neuen Art von „VolXkunst“ setzt dennoch durchaus den Impuls zu einer neuen Perspektive auf die Rezeption von „Volkskunst“ in der österreichischen Nachkriegsliteratur. Wie auch der Band allgemein interessante Anknüpfungspunkte für eine Beschäftigung mit Ernst Jandls Poetik und Sprache schafft. Schade nur, dass man eine wegweisende Einleitung vermissen muss.

Für Ljurik 2 wünscht man sich jedenfalls, neben einem deutlich sorgfältigeren Lektorat, dass auch stilistische Stolperer, Tippfehler und grammatikalische Ungereimtheiten ausbügelt, vor allem einen Herausgeber, der den sicherlich nicht ausschließlich fachnahen, interessierten LeserInnen mit einer kontextorientierten Übersicht über die Beiträge ein wenig zur Hand geht.

Titelbild

Johann Georg Lughofer (Hg.): Ernst Jandl. Interpretationen, Kommentare, Didaktisierungen.
Praesens Verlag, Wien 2011.
168 Seiten, 24,30 EUR.
ISBN-13: 9783706906494

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