Von Embodiment zu Embodying

Nina Degele, Sigrid Schmitz, Marion Mangelsdorf und Elke Gramespacher haben einen erhellenden Sammelband zu „Gendered Bodies in Motion“ herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist nun bereits annähernd zwei Jahrzehnte her, seit die Ikone der dekonstruktiven Gender-Theorie Judith Butler betonte, dass Körper sehr wohl von Bedeutung seien. Seither scheinen sie für die diversen geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer sowie für die interdisziplinären Gender Studies kontinuierlich weiter an Gewicht zu gewinnen. So wurde verschiedentlich sogar davon gesprochen, dass der „linguistic turn“ von einem „body turn“ abzulösen sei und 2006 erschien ein von Robert Gugutzer herausgegebener Sammelband, der den neuen Topos im Titel trug. Eine der Beitragenden war Nina Degele. Nun hat die in Freiburg lehrende und forschende Soziologin gemeinsam mit Sigrid Schmitz, Marion Mangelsdorf und Elke Gramespacher selbst einen Band zum Thema herausgegeben, dessen Aufsätze „Gendered Bodies in Motion“ in den Blick nehmen, wie der Titel des Buches verspricht.

Je zwei der Herausgeberinnen haben gemeinsam einen einleitenden Text beigesteuert. Mangelsdorf und Gramespacher bieten auf wenigen Seiten einen Überblick über das Zustandekommen und Anliegen des Bandes, der aus einer Ende 2008 durchgeführten Tagung der „Koordinierungsstelle Gender Studies“ an der Freiburger Albert-Ludwigs-Universität Freiburg hervorging, deren Ziel es war, „den Wissenstransfer zwischen unterschiedlichen disziplinären Ansätzen im Rahmen moderner Körperdiskurse zu stärken“. Zudem bieten sie eine „kurze Skizze der Geschichte, der Freiburger Gender Studies“, die zugleich einen beispielhaften „Einblick in eine für die bundesdeutschen Gender Studies exemplarische Entwicklung“ gewährt, der allerdings keinen optimistischen Ausblick in die Zukunft versprechen kann. Denn im Jahr 2009 lief die Förderung des „Kompetenzforums [gin]Genderforschung in Informatik und Naturwissenschaften am Freiburger Institut für Informatik und Gesellschaft“ aus, was „einen der größten Rückschläge“ für die Freiburger Gender Studies bedeutete, denen es – wie Mangelsdorf und Gramespacher vermuten – künftig nicht mehr möglich sein dürfte, das „ausdifferenzierte Anspruchsniveau“ ihrer „transdisziplinären Lehrangebote“ zu bewahren. Dies wiederum habe unmittelbar negative Auswirkungen auf den geplanten Masterstudiengang Gender Studies der Freiburger Universität.

Noch vor den beiden Hauptteilen des Bandes entfalten die beiden anderen Herausgeberinnen Schmitz und Degele in einem grundlegenden Beitrag den von ihnen geprägten Begriff „Embodying“ und begründen in einer luziden Argumentation, wieso der mit ihm bezeichnete „dynamische Ansatz für Körper und Geschlecht in Bewegung“ das „statische Verständnis bisheriger Embodiment-Ansätze“ ablösen sollte. Letztere beschreiben ebenso wie der mit ihnen verbundene Terminus „Verkörperung“ Zustände oder Ergebnisse von Verkörperungsprozessen. Damit werden sie dem Umstand nicht wirklich gerecht, dass Körper „dynamisch, permanent in Bewegung – in Motion“ sind, sodass sie „Prozesse der Körperformung, -gestaltung und -agency“ nicht „einfangen“ können, wie die Autorinnen überzeugend darlegen. Mit dieser Feststellung ist bereits der „Dreh- und Angelpunkt“ ihrer Argumentation für die „begriffliche Weiterentwicklung von Embodiment zu Embodying“ benannt.

Mit ihrem – im Unterschied zum Embodiment „nicht-reduktionistischen“ Ansatzes des Embodying schlagen Schmitz und Degele eine „auf verschiedenen Ebenen ansetzende Konkretisierung und Operationalisierung“ vor, „die verschiedene Lebensphasen und -zyklen differenziert und umfasst“. So könne die „Embodying-Perspektive“ herausarbeiten, wie sich „Körperprozesse“ in „gesellschaftlich-kulturellen Kontexten“ entwickeln und in einem – wenn man so will – dialektischen Prozess ihrerseits auf diese einwirken. Darüber hinaus werden auch die gegenseitigen Einflüsse erfasst, die „soziale Erfahrungen“ einerseits und „körperliche Strukturen und körperinterne Prozesse“ andererseits aufeinander haben. Schmitz und Degele nennen hier die Stichworte „Hirnplastizität, Physiologie, Körper- und Muskelausbau“.

All dies ist sehr erhellend. Dass aber auch „die Trennung in Rationalität und Emotionalität obsolet“ werde, weil „zunehmend auf die Bedeutung von Emotionalität in der kognitiven Verarbeitung verwiesen“ wird, schüttet denn doch das Kind mit dem Bade aus.

Grundsätzlicherer Art ist ein anderer Kritikpunkt. Er betrifft eine soziologische Verkürzung, deren Ursache in den Disziplinen der beiden Autorinnen – Schmitz ist Biologin, Degele Soziologin – zu suchen sein dürfte. Sie tritt zutage, wenn die Autorinnen im Zusammenhang mit ihrem Plädoyer „für eine Dynamisierung und Erweiterung des Begriffs Embodiment als Embodying“ ausdrücklich betonen, dass es ihnen um die „permanente gegenseitige Modifikation von Sozialem durch Körper und Körperprozesse durch Soziales“ geht, wobei sie „Prozesse der Verkörperung von Gesellschaft und Vergesellschaftung körperlicher Materialität zwischen/jenseits von Konstruiertheit und Determination“ im Sinn haben. Anstelle von Sozialem wäre wohl besser, von Kulturellem zu sprechen, und an Stelle von gesellschaftlichen Prozessen besser von kulturellen. Denn auch noch so solitäre kulturelle Tätigkeiten wie etwa, ein Musikstück zu komponieren oder einen Text zu verfassen, stehen in einer Wechselwirkung zum Körper der jeweiligen Kulturschaffenden. Und dies auch dann, falls die Musik nie aufgeführt und das Buch nie publiziert und gelesen werden sollten.

Dem Beitrag von Schmitz und Degele schließen sich die beiden Hauptteile des vorliegenden Bandes an. Die erste Sektion gewährt „interdisziplinäre Einblicke“, während sich die Beiträgerinnen der zweiten je einzelnen „forschungsmethodischen Aspekten und Anwendungsfeldern“ zuwenden. Martina Schuegraf und Sandra Smykalla gehen hier etwa anhand der Musikerinnen Peaches und Madonna den „Inszenierungsstrategien von KünstlerInnen im Musikvideoclip“ nach oder verfolgen wie Nadja Sennewald den „medialen Diskurs über Geschlecht und Macht“ am Beispiel des letzten US-amerikanischen Wahlkampfes.

Im ersten der beiden Hauptabschnitte bietet Nicole C. Karafyllis „eine gendertheoretische Diskursanalyse zum Phänomen Autismus“, Isabella Marcisnski sieht „Anorexie mit anderen Augen“ und Ilse Hartmann-Tews beleuchtet „Alter und Geschlecht im Kontext von Sport und Bewegung“.

Den instruktivsten der neun Beiträge beider Sektionen hat wohl Kerstin Palm verfasst. Es ist nachgerade brillant, wie sie in ihren „Reflexionen zur evolutionstheoretischen Attraktivitätsforschung“ das Buch „Signale der Liebe“ auseinandernimmt, in dem der Wiener Verhaltensbiologe Karl Grammer sich diverse „biologische Gesetze über die Partnerschaft“ ausdenkt, und ihm geradezu auf jeder Seite „ein wissenschaftlich äußerst unseriöses Vorgehen“ nachweist. Es ist dies nun nicht irgendein beliebiges Buch, sondern vielmehr „prägend und wegweisend für den Aufbau“ des die Attraktivitätsforschung betreffenden Bereichs der sich heute gerne „Evolutionäre Psychologie“ nennenden Soziobiologie. Am liebsten möchte man seitenlang aus Palms Beitrag zitieren. Das geht natürlich nicht. Deshalb gilt es, sich hier auf einiges Wenige zu beschränken und ansonsten die Lektüre des Aufsatzes selbst zu empfehlen.

Bevor sich Palm jedoch Grammers Buch vornimmt, wirft sie einen kritischen Blick auf die „biologische Attraktivitätsforschung“ im Allgemeinen, bei deren Befunden es sich keineswegs um anthropologische Konstanten handelt, wie es etwa die „Proportionalitätsthese“ gerne möchte, der zufolge Frauen ein „Verhältnis von Taillenumfang zu Hüftumfang von 0.7“ haben müssen, um einem als universell angenommenen Schönheitsideal zu genügen. Es versteht sich, dass die einschlägigen Untersuchungen überwiegend Männern befragen – wie dies in der evolutionären Psychologie überhaupt gang und gäbe ist. Mehr noch, es sind vor allen Dingen Männer westlicher Industrienationen. Palm weist nun darauf hin, dass diese Untersuchungen diverse andere Kulturen einfach ausblenden, deren Männer (denn um die geht es ja hier) dieses Verhältnis von Taillen- zu Hüftumfang ganz und gar nicht attraktiv finden, sondern eher an Mangel- und Unterernährung denken, wenn sie Bilder von Frauen sehen, die diese Proportionen haben.

Besonders ausführlich widmet sich Palm aber wie bereits erwähnt Grammer und seinen „Signalen der Liebe“, wobei sie „die Untersuchungsmethoden, die Ergebnisqualität und die Argumentationsweisen an den eigenen Forschungsstandards der Biologie“ selbst misst, was zu einem Ergebnis führt, das für den Wissenschaftsanspruch von Grammers Buch kaum vernichtender ausfallen könnte. So moniert Palm etwa seine „unsystematische Aufzählung einer großen Fülle von disparaten und sich häufig widersprechenden Ergebnissen empirischer Untersuchungen“, „die zudem mit ganz unterschiedlichen Forschungsdesigns arbeiten.“

Die auf diese Weise zustande gekommenen Befunde werden von Grammer sodann „recht willkürlich mit zahlreichen kleineren und größeren Schlussfolgerungen und Kommentaren begleitet.“ Ein Beispiel mag dies illustrieren: Nach Grammer, so legt Palm dar, finden Männer weibliche Durchschnittsgesichter besonders attraktiv, Frauen hingegen mögen ausgefallene und markante Männergesichter, die etwa durch ein besonders kräftiges Kinn dominiert werden. Mehr als klapprig sind nun die Hilfskonstruktionen, mit denen Grammer die beiden Befunde für die Ansicht der evolutionären Psychologie stark machen will, die besagt, „was unseren Sinnen spontan an einem menschlichen Körper so gefällt, dass wir es übereinstimmend schön finden“, sei „ein positives Urteil über die voraussichtliche Reproduktionsfähigkeit dieses Körpers“.

Nach Auffassung Grammers – so referiert Palm weiter – werde ein „durchschnittliches Frauengesicht“ von Männern attraktiv gefunden, weil „die Ebenmäßigkeit der Gesichtszüge keine nachteilige Extremmutationen, sondern im Gegenteil eher Gesundheit und ein starkes, Parasiten abweisendes Immunsystem anzeige“. Geradezu halsbrecherisch ist nun Grammers ‚Begründung‘, warum es bei Männern gerade umgekehrt sein soll. Denn wie Palm darlegt, „signalisiert“ ihm zufolge „ein weit jenseits des Durchschnitts angesiedeltes breites männliches Extremgesicht gute Gesundheit und gute Reproduktionserfolge.“ Denn „ein breites Kinn zeige viel Testosteron an, welches sich aber bekanntlich negativ auf das Immunsystem auswirke. Nur wirklich sehr gesunde und widerstandsfähige Männer könnten sich“ daher „gesundheitsgefährdende Entwicklungen wie ein ‚Testosteronkinn‘ überhaupt leisten. Also zeige ein breites Kinn nicht nur soziale Dominanz, sondern auch außerordentliche Gesundheit seines Trägers an.“

Bezeichnend für Grammers eigene und die von ihm herangezogenen empirischen Studien ist Palm zufolge auch, dass die Ergebnisse der Befragungen bloße „Status-quo-Beschreibungen“ liefern. Sie geben also bestenfalls darüber Auskunft, „dass etwas so ist“, nicht aber, warum es so ist. Denn „aus Status-quo-Beschreibungen, also der empirischen Erhebung eines Faktums, folgt bekanntlich noch nicht die Ursache des Beschriebenen.“ Selbst, wenn die Befunde der Erhebungen valide sein sollten, bleibt offen, wodurch sich die von ihnen festgestellten „geschlechtergruppenspezifische Kriterien für die Partnerwahl“ herausgebildet haben. Dies müsste „in zusätzlichen, weitaus schwierigeren empirischen Untersuchungen ermittelt werden“. Eine solche Untersuchung, inklusive einer „sorgfältige[n] Prüfung alternativer biologischer und sozial- bzw. kulturwissenschaftlicher Thesen gegeneinander“ wird bezeichnenderweise nie vorgenommen. „Stattdessen argumentieren Grammer und auch viele andere Studien immer spekulativ biologisch“.

So bleiben die Theorien der biologischen Attraktivitätsforschung „durchgängig unbelegte Spekulationen“, die sich einen Beweisgrund erschleichen, indem sie „einfach die Ausgangsannahme, alle Verhaltensweisen und Wertsetzungen seien letztlich evolutionsbiologisch bedingt, zirkulär in der Ursachenbeschreibung noch einmal wiederholen, ohne, dass zwischenzeitlich eine empirische Ursachenforschung stattgefunden hat.“

Mit Schmitz’ und Degeles erhellendem Entwurf eines auf Embodying statt auf Embodiment fußenden Forschungsansatzes und Palms exquisiter Kritik an der evolutionären Psychologie konnten hier nur zwei der Glanzlichter eines Buches etwas ausführlicher gewürdigt werden, das der genderorientierten Körperforschung insgesamt einige wichtige Impulse zu bieten hat und darum in toto zur Lektüre empfohlen sei.

Titelbild

Nina Degele / Sigrid Schmitz / Marion Mangelsdorf / Elke Gramespacher (Hg.): Gendered Bodies in Motion.
Budrich UniPress, Opladen 2010.
206 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783940755575

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