Liberal, national, jüdisch

Zum Selbstverständnis Berthold Auerbachs

Von Fabian SandelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fabian Sandelmann

„Vergebens gelebt und gearbeitet“ schrieb Berthold Auerbach 1880 an seinen lebenslangen Freund Jakob Auerbach. Im Berliner Parlament hatten die Vertreter der antisemitischen Berliner Bewegung in jenem Jahr eine Petition eingereicht, in der sie die sofortige Annullierung aller Gleichstellungsgesetze für die Juden forderten. Für den aufgeklärten Volkserzieher Berthold Auerbach, der sich zeitlebens für die Gleichstellung der Juden eingesetzt hatte, war diese Petition der Anlass zur endgültigen Resignation. Auerbachs Verzweiflung lässt sich jedoch nicht auf die enttäuschten deutsch-jüdischen Emanzipations- und Integrationsbestrebungen reduzieren. Seine liberalen und nationalen Hoffnungen an einen Nationalstaat hatten sich ebenso wenig in dem 1871 proklamierten Deutschen Reich erfüllt wie die erhoffte soziale Gleichstellung der Juden und anderer Minoritäten. Um die Resignation an seinem Lebensende vollständig begreifen zu können, müssen daher Auerbachs idealistische Überzeugungen näher erörtert werden.

Bereits in seiner Zeit als Schüler des Karlsruher Gymnasiums setzte sich Auerbach für die Emanzipation der Juden und eine Reformation der jüdischen Religion ein. In Tübingen studierte er daraufhin bei dem aufklärerischen Bibelexegeten David Friedrich Strauß, mit dem er später eng befreundet war. Er versuchte fortan seine philosophischen Erkenntnisse mit seinen Vorstellungen von der jüdischen Religion zu verbinden. 1832 schrieb er an seine Kommilitonen, dass zwar der Mosaismus ewig wahr sei und bleibe, „aber so wie Moses nicht für uns allein, so haben auch Plato, Leibniz, Baco, Kant und Hegel ihre ewigen Wahrheiten auch für uns verkündet, es ist die Weltseele, der Geist der Menschheit, der sich schon in Moses manifestierte und ewig derselbe auch in Hegel bleibt.“

In dem religiösen Konzept Auerbachs ist es die Vernunfterkenntnis, die zur Religion führt. Dadurch tritt ein übergreifendes, universales Verständnis von Religion an die Stelle konfessioneller Grenzziehungen. Die Emanzipation und Gleichberechtigung aller Religionen war damit für Auerbach nicht nur ein bloßer Wunsch, sondern die konsequente Folge seiner Überlegungen. Allerdings musste diese Erkenntnis ihre Wurzel im Volk selber finden: „Die Religion muss Bildung werden, innere Befreiung und Erlösung des Menschen, seine wahre Wiedergeburt; nicht in Worten und Bräuchen, sondern in der That, im Charakter, in der Gesamtheit des Lebens“, heißt es in seiner theoretischen Abhandlung „Schrift und Volk“. Gemäß seiner Überzeugung entfernte er sich selbst zunehmend vom praktizierenden Judentum.

Auerbachs Religionsverständnis steht augenscheinlich in der Tradition der Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Lessings Drama „Nathan der Weise“ erhob der jüdische Schriftsteller deshalb zu seinem paradigmatischen Vorbild: In dem Stück offenbarte sich ihm, was Lessing zuvor im „Fragmentenstreit“ mit Johann Melchior Goeze vertrat: Die „Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten: sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist“. Damit verweist Lessing auf die „innere Wahrheit“ der Religionen. Die Inhalte des Glaubens sind Vernunftwahrheiten, und aus Vernunftgründen müsse ihre Wahrheit evident werden. Auch sein Freund und Lehrer David Friedrich Strauss hatte diesen Streit nachvollzogen und war von vielen Argumenten Lessings überzeugt. Durch das Konzept einer Vernunftreligion konnten aus der Sicht Auerbachs die konfessionellen Disparitäten überwunden werden, sodass Humanität und Toleranz in einer religiös heterogenen Gemeinschaft denkbar wurden.

Mit dieser Gemeinschaft verband Auerbach vornehmlich das deutsche Volk, womit die zweite wichtige Säule des auerbachschen Denkens genannt ist: Seine Wunschvorstellung von der deutschen Nation basierte auf ethischen Grundfesten; sie basierte auf humanitären Erwartungen. Wie sich schon die Religion in der „Gesamtheit des Lebens“ widerspiegeln musste, so sollte sich die deutsche Nation aus dem gemeinsamen Willen der Deutsche herausbilden, die sich dabei der Humanität verpflichtet fühlen sollten, da sie laut Auerbach die Vernunftwahrheiten der Religionen zu erkennen vermochten. Aus diesem gemeinsamen humanitären Streben heraus wünschten sich die Deutschen laut Auerbach zugleich, sich zu einer Nation zu vereinigen. Zunächst aber beruhe alles auf der Bildung des Individuums, da es die ethischen und sittlichen Vernunftwahrheiten erkennen müsse. Diese Bildung ist jedoch nicht etwa Selbstzweck, denn „der schöne Mensch lebt und wirkt für die schöne Menschheit“, wie Auerbach in einer Rede über Schiller schreibt. Für ihn ist die Identifikation mit der Nation Voraussetzung für eine spätere Überwindung des Nationalen, die zur kosmopolitischen Nation der Menschheit führen soll. Er dachte sich diesen Prozess induktiv und wies dahingehend in seinen frühen Jahren immer wieder auf die kosmopolitischen Dimensionen seiner Vaterlandsliebe hin.

Nach dem Scheitern der Märzrevolution 1848 ließ er jedoch seine kosmopolitischen Maximen fallen, zugunsten eines rein nationalen Engagements, woraufhin er sich zunehmend mit dem preußischen Staat solidarisierte. Dennoch blieb Auerbach dem idealistischen Kern seines Nationalismus, der damit viele Gemeinsamkeiten mit dem romantischen Nationalismus aufwies, bis zuletzt treu: Auerbachs Nationalismus ist idealistischer Prägung, insofern seinem Staatsgebilde ein abstraktes Prinzip, nämlich das des humanitären Volksgeistes, zugrunde liegt. Auerbach dachte zugleich jakobinisch, wonach der Staat den allgemeinen Volkswillen gemäß Rousseaus „Contrat social“ widerspiegele. Eben diese Punkte konstituierten auch das Novum des romantischen Nationalismus.

Mit seinen nationalen und religiösen Überzeugungen ist Berthold Auerbachs liberale Gesinnung eng verknüpft. Er sah seine Ideale zeitlebens durch die liberalen Parteien auf politischer Ebene vertreten und verfolgte eifrig deren Werdegang. Dabei spielten für ihn weniger die realpolitischen, als vielmehr die ideellen liberalen Forderungen eine Rolle. In Auerbachs Vorstellung konstituiere sich aus der idealen Gesellschaft auch der Staat, der den Individuen zwangsläufig die völlige Freiheit gewähre. Freiheit war für Berthold Auerbach der politische Leitgedanke: Damit sich ein Mensch frei entfalten könne, dürfe er durch keine staatlichen Repressionen daran gehindert werden. Pressefreiheit und Meinungsfreiheit seien daher ebenso notwendig wie der Schutz des Individuums und seines Eigentums. Die Dichotomie von Staat und Individuum wird durch Auerbachs nationales Konzept im Spiegel vom „Contrat social“ gleichsam aufgehoben. Auch hier gilt, dass die Freiheit erst dann ein „wahres, unentwendbares Besitztum [wird], wenn sie ihre lebendige Wurzel in dem Charakter der Einzelnen und nicht bloß in gegebenen Institutionen hat.“

Was er hier in „Schrift und Volk“ formulierte, knüpft nahtlos an die bisherigen ideellen Maximen an, wodurch er den Forderungen des deutschen Frühliberalismus nahe stand. Dieser forderte keine Freiheit vom Staat, sondern im und zum Staat, wodurch dieser zum Spiegel der Überzeugungen des Volkes avanciert. Auerbach rechtfertigte seinen quasi-teleologischen Geschichtsoptimismus, wonach ein stetes Streben zu humanitäreren Lebensumständen bestehe, mit dem hegelschen „Weltgeist“. In dem Nachwort von „Schrift und Volk“ schrieb Auerbach dann auch: „Man mag es immerhin Optimismus schelten, ich halte fest an der Überzeugung, daß die Menschheit und das Vaterland der Freiheit, und die reine Kunst ihrer gesunden Weiterbildung entgegen geht.“

In diesem Idealismus gleichsam gefangen, sah Auerbach die Proklamation des Deutschen Reiches 1871 sogar als „messianische“ Erfüllung. Nach Hegel war der Staat die Emanation des sich entfaltenden absoluten Geistes, wodurch dem Staat als Repräsentant des Absoluten eine metaphysische Bedeutung zukam. Der moderne Nationalismus übernahm diese quasi-religiöse Vorstellung und die Auffassung Hegels, dass jedes Volk eine unersetzbare Rolle in der Universalgeschichte einnehme. Hegel zufolge gab es in jeder Epoche ein Volk, das unter den anderen das Herrschende sei, da es als Träger der jeweiligen Entwicklungsstufe des Weltgeistes auftrete. Es war dem modernen, idealistischen Nationalismus geschuldet, dass sich die verschiedenen Nationen als die jeweils beste Realisationsstufe des Weltgeistes sahen und sich eine universale Sendung innerhalb der Geschichte zuschrieben. Diese Rhetorik übernahm Auerbach noch in seiner polemischen Schrift „Was will der Franzos und was will der Deutsche“ von 1870, als er über den deutsch-französischen Krieg schrieb: „Was können die Franzosen auf ihre Kriegsfahne als Spruch schreiben? Weiter nichts als: wir wollen raufen und rauben! Was aber wollen wir Deutschen? Was können wir auf unsere Fahne schreiben? Das sittlich Reinste und Heiligste. […] Heute kämpft Deutschland um die Gleichberechtigung der Völker.“

Die politische Realität des neuen Deutschen Reiches stand jedoch schnell im Gegensatz zu Auerbachs ideellen Überzeugungen. Der sogenannte Kulturkampf, den die Regierung gegen die Katholiken führte, bewies, dass der Staat und die Religion keineswegs im Begriff waren, eins zu werden, wie Auerbach es forderte. Zum ersten Mal wurde er damit konfrontiert, wie konträr seine Idealvorstellungen tatsächlich zur Realpolitik standen. In dem gesunden Staat dürfe „es gar keine geistliche Behörde geben, die sogenannten Geistlichen sind nur Lehrer, der Staat hat sie zu examinieren und sie sind in der Staatspflicht“, schrieb er 1871 hinsichtlich des Kanzelparagraphen, dem ersten Gesetz, das im Zuge des Kulturkampfes erlassen wurde. In dem Brief heißt es weiter: „Ich verstehe jetzt vollkommen, warum Spinoza nur eine Religion (nicht Kirche) in einem Staate zulassen wollte, und warum er die höchsten Staats- und Religionsämter in denselben Personen vereinigen wollte. Dadurch allein ist die Weihe des Geistes immanent im Staat und im Staat allein. Sobald man den Menschen in einen weltlichen und in einen geistlichen Bestand theilt, ist die Hierarchie eine nothwendige consequente Institution.“

Als sich Bismarck Ende der 1870er-Jahre zudem von den liberalen Parteien abwendete, sah Auerbach seine liberalen Ideale in die politische Opposition versetzt. Da Bismarck nicht auf die Unterstützung der liberalen Parteien hinsichtlich der Durchsetzung von Schutzzöllen hoffen konnte, versuchte er sich der damaligen Zentrumspartei und den Konservativen anzunähern. Missmutig schrieb Auerbach in dieser Situation an seinen Freund Jakob: „So sind wir Liberalen also wieder in der Opposition und schlimmer dran als je; denn die idealen Interessen verfangen nicht mehr, und es ist gelungen, materielle obenauf zu bringen.“

Am ärgsten traf ihn indes der aufkeimende Antisemitismus im neuen Reich. Scharfsinnig erkannte Berthold Auerbach die neue Gestalt des Judenhasses, des „furor teutonicus“, wie er ihn nannte. Es war ein Rassenhass im Gegensatz zum Antijudaismus, der sich nunmehr zu formieren drohte. In einigen öffentlichen Publikationen versuchte er gegen den Antisemitismus anzukämpfen, resignierte jedoch zunehmend ob seiner enttäuschten Ideale. 1881 hielt Auerbach seine letzte Rede „Die Genesis des Nathan“, in der sich noch einmal zeigte, dass er seine zentralen ideellen Überzeugungen bis an sein Lebensende vertrat. Angesichts der realpolitischen und sozialen Umstände blieb ihm nichts anderes mehr übrig als die optimistische Mahnung am Ende dieser Rede: „Aus allen Erschütterungen des Gemüths, aus allen Versuchungen der Verzweiflung heraus ruft mit mir: Und doch ist Gott! Und doch wird der Geist der Humanität siegen!“