Der Preis des Dazugehörens

Sherko Fatah ergründet in seinem Roman „Ein weißes Land“ anhand der Abenteuer eines jungen Mitläufers die irakische Geschichte im 20. Jahrhundert

Von Monika RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die deutschsprachige Literatur wird allmählich um neue Schauplätze reicher. Immer mehr Schriftstellerinnen und Schriftsteller schwärmen aus, um neue Weltgegenden kennenzulernen und literarisch fruchtbar zu machen. Man setzt sich neuen Reizen aus, schaut und hört zu, vermengt Bekanntes mit Unbekanntem, stellt den herkömmlichen medialen Bildern bestenfalls neue, unverbrauchte zur Seite. Nicht selten holt man verschüttetes historisches Wissen aus der Vergessenheit, wagt sich einen Roman lang an amüsante, provokante oder gar heikle Themen heran.

Sherko Fatahs Romane bieten von allem ein bisschen. Als Sohn einer Deutschen und eines irakischen Kurden 1964 in Ostberlin geboren, in der DDR, Wien und Westberlin, zwischen Deutschland und dem Irak pendelnd, aufgewachsen, hat er sich literarisch das Grenzgängertum zum Credo gemacht. Schon in seinem mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichneten Debütroman „Im Grenzland“ (2001) konfrontierte er den Leser mit unbequemen Tatsachen über das Leben im streng bewachten und verminten Grenzgebiet zwischen dem Iran, dem Irak und der Türkei, wo Menschenleben wenig zählen, erfolgreiche Lebensentwürfe nur mit der Billigung der Machthaber möglich und folglich stets unfreiwillige Arrangements sind. Man macht sich entweder unsichtbar oder buckelt.

Dass Loyalitäten mit schwindelerregender Geschwindigkeit wechseln können und dass man sich dabei verlieren kann, diese Erfahrung macht auch der Protagonist in Fatahs Roman „Das dunkle Schiff“, der 2008 für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde. Kerims Wunsch nach Verwandlung, die er mit der Flucht nach Europa zu verwirklichen sucht, gründet nicht ausschließlich in seinen realen Lebensbedingungen. Für den jungen, in die Fänge einer extremistischen Gruppierung geratenen Koch stellt er auch den letzten Ausweg aus der Gewalt dar. Doch was immer er auch versucht, seine Vergangenheit holt ihn ein. Fatahs unsentimentale Darstellung eines Mannes, der trotz seiner Bemühungen permanent Opfer äußerer Einflüsse wird, erschüttert, und rückt diese für das 20. Jahrhundert so bezeichnende Migranten-Figur unerwartet in die Nähe einer Figur der deutschen Literatur, den ebenfalls seine Lebensumstände formen – Georg Büchners Woyzeck.

Auch der Roman „Ein weißes Land“ nimmt die Chancenlosigkeit zum Ausgangspunkt seiner Erzählungen. Kerim heißt hier Anwar, wurde 1921, im Gründungsjahr des Königreichs Irak, eines unter der Aufsicht der Briten aus Teilen des Osmanischen Reichs gebildeten Nationalstaats, geboren. Als Sohn eines beschränkten Vaters, der Stärke höchstens als Aufseher einer Dattelfabrik demonstriert, wenn er seinen Schlagstock schwingt, wächst er im Bagdad der 1930er-Jahre ohne Vorbilder, aber mit einem trotz der Demütigungen seines Umfeldes ungebrochenen Aufstiegswillen auf. Das Gefühl, ein unsichtbarer, ja überflüssiger Mensch zu sein, aber dazu gehören zu wollen, macht ihn in den unterschiedlichsten Situationen zum Mitläufer.

Er gehört zeitweilig einer Gruppe jüdischer Jugendlicher an, die, wenn aus wohlhabenden Familien stammend wie Ezra, von Langeweile getrieben mit sozialistischem Gedankengut kokettieren – oder aber wie Ephraim kühle Denker und überzeugte Zionisten sind. Von den Häusern der reichen Freunde fasziniert, und der Ungleichheit ihrer Herkunft bewusst, wird er zum Mitglied einer Diebesbande, deren Anführer ihn für seine Zwecke missbraucht und den er später in Aussicht auf eine Anstellung im Offiziersclub an seinen neuen Herren verrät.

Man staunt über so viel Überlebensinstinkt, mit dem der ungebildete Araberjunge seine Naivität und fehlende Einsicht in gesellschaftliche Zusammenhänge kompensiert. Denn außer der Tatsache, dass er, je überzeugender er den Trottel spielt, desto größere Chancen auf einen Platz im gesellschaftlichen Gefüge hat, reflektiert er die eigene Situation nicht: „Wenn ich das bin, […] dann kann ich noch viel mehr sein. Ich muss nicht einer jener vielen überflüssigen jungen Männer bleiben, die in Bagdad die Straßen säumten, vor Geschäften herumlungerten oder an den Straßen auf jemand warteten, der ihnen Arbeit für ein paar Stunden gab.“ Diese Berechnung treibt ihn, ohne die moralischen Konsequenzen erfassen zu können, in die faschistische Jugendbrigade des Irak, dann in den Umkreis des antisemitischen „Großmuftis von Jerusalem“, der sich als Partner der Deutschen im Orient profilieren möchte und ihn als Leibwächter nach Berlin mitnimmt. Zum Schluss sieht man ihn in der muslimischen Einheit der Waffen-SS („fremdvölkische Hilfstruppen“) in Russland kämpfen und in Polen emotional unbeteiligt bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes helfen.

All dies ruft Anwar Mitte der 1950er-Jahre in Bagdad in sein Gedächtnis zurück, ausgelöst durch das Wiedersehen mit jenem Nazi-Arzt, der ihm nach seiner Verwundung in Warschau das Leben rettete. Indem Fatah den bisherigen Lebensweg seines Protagonisten schildert, zeichnet er auch das Schicksal des „weißen“ Landes Irak nach, der nur „das Glück [hatte], unter das Dach jenes gewaltigen Gebäudes des Empire geraten zu sein“, während in Europa Geschichte gemacht wird. In den im Roman mehrmals als „Umbruchzeit“ bezeichneten 1920er- und 1930er-Jahren ist der Irak wegen seiner Ölvorkommen und geostrategischen Lage jenen einheimischen wie fremden „Glücksrittern“ ausgeliefert, die eine große Zukunft nur mit Fortschritt und Gewalt erreichen zu können glauben. Die Bilder des kosmopolitischen Bagdad werden allmählich von Beschreibungen antisemitischer Ausschreitungen und zwangloser Treffen der irakischen Militärs mit Anhängern der nationalsozialistischen Ideologie abgelöst. Wieder einmal erweist sich Sherko Fatah als Meister der Langatmigkeit, ohne den Leser mit seinen (zugegebenermaßen stellenweise gewagten, aber stets kommentarlosen) Denkexperimenten und peniblen Ausführungen zu langweilen.

Der Roman schließt mit der Schilderung des nächsten „Neuanfangs“ im Land: Während die letzten Juden aus Bagdad ausgeflogen werden, lässt man sich in den Kampf gegen den Kommunismus einspannen. Bei der Gelegenheit erinnern sich die alt-neuen Machthaber an den treuen Diener Anwar. Ob er Kontakt zu seinen ehemaligen jüdischen Freunden aufnehmen und vermitteln könnte? Und Anwar, der einsame Bote, macht sich auf den Weg.

Titelbild

Sherko Fatah: Ein weißes Land. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2011.
478 Seiten, 21,99 EUR.
ISBN-13: 9783630873718

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