Die Ökologie der Ameisen

Der Ameisenforscher Edward O. Wilson hat seinen ersten Roman geschrieben

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Egal, es war geschafft. Der Nokobee war da, jetzt und für immer, er lebte, war unversehrt und heiter, so, wie er ihn seit Kindheitstagen kannte. Dies war sein Heiligtum, so wie seine urzeitlichen Vorfahren heilige Stätten besessen hatten. Der Nokobee war ein Lebensraum unerschöpflichen Wissens und voller Geheimnis, er überstieg den armseligen menschlichen Verstand, genau wie die Lebensräume seiner Urahnen. Hier war seine Insel in einem Meer der Bedeutungslosigkeit.“ Wie ein Urwald sind die Auwälder am Lake Nokobee, einem Gewässer in der Küstenregion in Alabama, am Golf von Mexiko. Hier ist die Heimat von Raphael Semmes Cody, der Raff genannt wird, hier wächst er auf. In diese Urwälder flüchtet er vor den Streitereien seiner so unterschiedlichen Eltern: Seine Mutter kommt aus der reichen Oberschicht der Südstaaten und hat durchaus Ambitionen für ihren Sohn, sein Vater versteht sich als einfacher, bescheidener Arbeiter. Raff geht seinen eigenen Weg, beobachtet am Lake Nokobee die reiche Tierwelt, Schildkröten, Alligatoren, Nattern, Raubvögel, Käfer und Schmetterlinge. Hier lernt er auch zum ersten Mal die Lebenswelt der Ameisen kennen. Seine Beobachtungen und Funde teilt er mit einem emeritierten Professor für Ökologie, Frederick Norville, lange Jahre schon ein Freund der Familie, der die Sumpfkiefersavanne seit Jahrzehnten erforscht.

Norville, der Erzähler der Geschichte von Raff Cody, rät ihm auch zu, als ein reicher Onkel ihm, dem einzigen männlichen Erben der Familie, anbietet, sein Biologiestudium zu finanzieren, wenn er, das ist die Bedingung, hinterher Jura studiert. Und Raff Cody greift zu, denn es gehen Gerüchte um. Und später, als sich die Gerüchte bestätigen, wird ihm das Jura-Studium helfen, denn es gilt, den Nokobee Lake vor einer Baufirma und gierigen Politikern zu retten, die den Urwald zerstören wollen, damit hier Vorstädte und Parks entstehen können.

Der Roman springt zwischen zwei Welten hin und her: der menschlichen und der Ameisen. Immer wieder wird der Leser des Romans gezwungen, Parallelen zu ziehen, die nicht immer zum Vorteil der Menschen geraten. Denn auch die Ökologie der Ameisen gerät in ein Ungleichgewicht, das durch Überbevölkerung zu einer viel zu großen Superkolonie führt. Sie zerstört ihre eigene Umwelt und wird schließlich, weil sie den Menschen lästig wird, mit Insektiziden vernichtet. Nur eine kleine Kolonie am Rande, die noch „traditionell lebt“, übersteht den Massenmord und beginnt von vorne.

Und auch Raff Cody, der das „traditionelle Leben“ noch gut kennt, gelingt es, einen Kompromiss auszuhandeln, weil er juristischer Berater der Firma ist, die den Nokobee Lake erschließen will, und weil er die Leute um den Konzernchef gut kennt. War es da wirklich „geschafft“, wie er ganz am Schluss schreibt? Man muss es bezweifeln.

Wilson ist wohl der berühmteste Ameisenforscher der Welt, veröffentlicht seit fünfzig Jahren wissenschaftliche Beiträge, vor allem in der Evolutionstheorie und der Sozialbiologie, für seine Sachbücher hat er bereits zwei Mal den Pulitzer-Preis bekommen. Vor allem in dem fast hundert Seiten langen Kapitel „Die Ameisenchronik“ beschreibt er das Zusammenleben und die Konkurrenz verschiedener Ameisenvölker sehr anschaulich und detailliert, auch die Landschaft mit Fauna und Flora, man spürt sein lebenslanges Engagement auf jeder Seite.

Leider bremsen die vielen Einschübe den Lesefluss erheblich, Personen tauchen auf und verschwinden wieder, der Familienkonflikt wird völlig vergessen, und auch Raffs Entwicklung wird eher stiefmütterlich behandelt. Und so zerfällt die eigentliche Handlung, die auch Auseinandersetzungen mit religiösen Rechtsauslegern und „Kreationisten“ behandelt, wie sie wohl Wilson als Evolutionsbiologie sehr genau kennt, immer mehr in Häppchen und Anekdoten. Die Geschichte hätte einen sehr viel disziplinierteren Autoren gebraucht, denn sie ist eigentlich sehr spannend, vielschichtig und bedeutungsvoll.

Titelbild

E. O. Wilson: Ameisenroman. Raff Codys Abenteuer.
Übersetzt aus dem Englischen von Elsbeth Ranke.
Verlag C.H.Beck, München 2011.
432 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406621987

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