Fragen ohne Antwort

Kathrin Passig, Aleks Scholz und Kai Schreiber listen auf, was wir (noch) nicht wissen

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Wissen um das Nichtwissen ist seit jeher Dreh- und Angelpunkt des abendländischen Bildungsideals. Mehr noch: Seit Sokrates und der antiken Philosophie gehört die Einsicht, dass mit zunehmendem Wissen auch der Raum dessen anwächst, von dem man weiß, dass man es (noch) nicht weiß, zum festen Wissensbestand. Es ist das Paradoxon der Wissenschaft, dass sie uns mit ihren immer größeren Erkenntnissen letztlich nur immer deutlicher vor Augen führt, wie gering unser Wissen im Vergleich zu dem ist, das wir (noch) nicht wissen.

Wer um dieses Phänomen weiß, der scheut sich auch nicht, unser Nichtwissen zu ordnen und auszustellen. So wie Kathrin Passig, Aleks Scholz und Kai Schreiber es 2007 in ihrem „Lexikon des Unwissens“ taten und es nun, vier Jahre später, mit dem Nachfolgeband „Das neue Lexikon des Unwissens“ wieder tun. Dabei knüpfen sie unter etwas veränderten Bedingungen an ihre frühere Arbeit an: Das Kriterium der prinzipiellen Lösbarkeit einer Frage haben die Verfasser im neuen Lexikon „schweren Herzens“ aufgegeben. Nicht genug Stoff? Wohl kaum: Die behandelten Themen wurden aus einem Pool von Ungelöstem und Rätselhaften entnommen, in dem sich noch weit mehr Probleme tummeln. Und diese weiteren „über 200 Fragen“ bleiben auch dort; einen dritten Band soll es nicht geben.

Die offenen Fragen, die in ihrer Ungelöstheit unterhaltsam aufgeworfen werden, sind manches Mal von großer Bedeutung und stellen ernste Probleme der Wissenschaft, aber auch der Gesellschaft dar, an denen weiterzuforschen sich lohnt (etwa die Frage, warum es Krieg gibt, denn offenbar lässt sich „eine einzelne notwendige oder hinreichende Ursache“ für Krieg nicht finden). Daneben gibt es Themen zum Schmunzeln (Was genau ist das: ein Loch?) und zum Staunen, vornehmlich aus dem Tierreich (Walkrebs: Bekommen die Meeressäuger die tödliche Krankheit, ohne dass es ihnen schadet? – Und: Warum merkt der Zitteraal selbst offenbar nichts von dem Stromschlag, den er oder seine Artgenossen produzieren?). Einiges an Unwissen will, anderes muss man aber auch nicht unbedingt wissen. Insgesamt sind die Einträge in ihrer Relevanz für das, was Wissen beziehungsweise Unwissen spannend macht, nämlich die Bedeutung des Gegenstands für das Alltagsleben, sehr unterschiedlich.

Dass sich um den Begriff Wissen selbst viel Unwissen rankt, wird eigens angesprochen, ebenso wie die Kulturtechnik, die Wissen schafft: die Wissenschaft. Als Einführung in die Wissenschaftstheorie ist der Beitrag zwar etwas dünn, aber dennoch gibt er eine gewisse Orientierung, nennt einige Protagonisten der Disziplin, um dann wieder ins pralle Leben wissenschaftlicher Praxis einzumünden: Der Wissenschaftsbetrieb scheint die eigentliche Quelle allen Übels zu sein. Man erfährt, dass im Schnitt nur jedes fünfte Zitat am Original geprüft wird und dass es auch auf wissenschaftlich weniger relevante Umstände ankommt, ob sich ein Forschungsbeitrag in der community etwa durchsetzt oder nicht. Beispielsweise spielt die Uhrzeit des Hochladens eines Online-Papers eine nicht zu unterschätzende Rolle.

Sehr interessant ist die Rezeption der philosophischen Debatten um rätselhafte Phänomene wie die Zeit oder den unbestimmten Begriff der Qualia, bei dem nicht einmal klar ist, was „Wissen“ und was „Unwissen“ in diesem Kontext genau bedeuten soll. Die launig geschriebenen Abhandlungen werden insbesondere einer Leserschaft Vergnügen bereiten, die über Hintergrundwissen zu diesen Debatten rund um das Wissen und Unwissen in der philosophischen Forschung verfügt – manche augenzwinkernde Anspielung dürfte sonst verpuffen.

Schließlich wird Bilanz gezogen: Was hat sich hinsichtlich der 2007 vorgestellten Probleme der Wissenschaft getan? Konnte diese in der Zwischenzeit gelöst werden? Die Autoren hatten schon befürchtet, dass bereits in der einjährigen Phase von der Idee über die Manuskriptentwicklung bis zur Drucklegung das meiste von dem, was behandelt wird, geklärt werden würde, also gar kein „Unwissen“ mehr sei, wenn das „Lexikon des Unwissens“ in die Buchhandlungen kommt. Doch so einfach scheint das mit dem Fortschritt nicht zu sein. Kaum eine der 42 Fragen aus dem ersten Band sei heute beantwortet. Zu 29 Themen gebe es immerhin neue Forschungsarbeiten und damit eine Belebung der Diskussion, 13 Themen seien komplett unbearbeitet geblieben.

Ähnlich dürfte das Resultat wohl in vier Jahren ausfallen. Unser Unwissen bleibt zwar stets vom Prinzip Hoffnung auf Lösung begleitet, doch ist es weit mehr als „Noch nicht-Wissen“, bei dem das Unbekannte ein klares Verfallsdatum trägt. Der Stoff für die „Wissenschaft vom Unwissen“ wird selbst dann nicht weniger, wenn sich unsere Hoffnung auf Lösung erfüllt. Aber das wussten wir ja bereits von Sokrates: Mit dem Wissen steigt das Unwissen. Zumindest das kann als gesichert gelten.

Titelbild

Kathrin Passig / Aleks Scholz / Kai Schreiber: Das neue Lexikon des Unwissens. Worauf es bisher keine Antwort gibt.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2011.
300 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871346989

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