Erlösung des Übels

Der österreichische Philosoph Peter Strasser legt ein Wort für das „verfolgte Ideal“ der „Unschuld“ ein

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Merkwürdig: „Alle Völker, die eine Geschichte haben, haben ein Paradies, einen Stand der Unschuld, ein goldenes Alter; ja jeder einzelne Mensch hat sein Paradies, sein goldenes Alter, dessen er sich, je nachdem er mehr oder weniger Poetisches in seiner Natur hat, mit mehr oder weniger Begeisterung erinnert.“ So schreibt Friedrich Schiller in „Über naive und sentimentalische Dichtung“. Der Gewissheit, den „Stand der Unschuld“ verloren zu haben, korrespondiert der „sentimentalische“ Kultur-Impuls, ihn – als „Ideal“ – suchend gegenwärtig zu halten – um der „Menschheit als Idee“ willen.

Nun gehört der Idealismus Schillers zu den inzwischen ziemlich ramponierten „großen Erzählungen“ und ist im Zuge der postmodernen „Um- und Aufwertung der Geilheit zum Existential“ (Ferdinand Fellmann, „Der Liebes-Code“) kurzerhand dem Traditionsmüll hinzugeworfen worden. Jetzt aber verfasst der Grazer Universitätsphilosoph Peter Strasser mit „Unschuld. Das verfolgte Ideal“ ein schmales, bis zum Bersten dichtgepacktes Traktat und entdeckt ein uraltes „Antigeilheitsprogramm“ neu; und zwar in jener Stelle des Römerbriefs (13,13-14), die schon den heiligen Augustinus zum Christentum bekehrte: „Lasset uns ehrbarlich wandeln“, sagt Paulus, „nicht in Fressen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid, sondern ziehet an den Herrn Jesum Christ, und wartet des Leibes, doch also, dass er nicht geil werde.“ (Strasser zitiert Paulus aus einem Nachdruck des „Novum Testamentum Tetraglotton“.)

Natürlich war dieser Appell an unsere Potenz zur Leibeslustminimierung für die vom „egoistischen Gen“ getriebenen Menschen eine Zumutung. „Kein Wunder also“, vermerkt Strasser, „dass das Ideal der Unschuld im Laufe der Zeit, zumal unter liberalem Vorzeichen, als repressiv und scheinheilig empfunden wurde. Kritik und Hohn blieben nicht aus. Psychohygienische Argumente [die ‚Oswald Kolles und Beate Uhses‘!] traten hinzu. So kam es, dass niemand, der sich in erotischen Dingen als aufgeklärt begriff, unschuldig bleiben wollte.“

Mit „Unschuld“ wird ein Thema aufgegriffen, in dem sich kultur- und religionsphilosophische sowie insbesondere theologische Diskurslinien kreuzen. Demgemäß wird es auch nicht immer klar, ob Strasser in seiner Eigenschaft als gelernter Philosoph oder bloß als nachdenklicher theologischer Autodidakt schreibt. Jedenfalls begibt er sich auf das – selbst für Geübte keineswegs leicht zu bewirtschaftende – Feld der Marienkunde, um darzulegen, warum und wieso ihm die Mutter Gottes als Ideal seines Verlangens nach Unschuld vorschwebt. „Die Jungfräulichkeit Mariens ist der Archetypus: Sie steht für das erlöste Übel.“

Sicherlich, es ließe sich an Strassers Ausführungen über die Position der jungfräulichen Gottesmutter im Heilsgeschehen aus kirchen- und dogmengeschichtlicher Perspektive manches präzisieren oder ergänzen, zumal die zitierte mariologische Quellenbasis mit den etwa zwanzig Seiten aus Ludwig Otts „Grundriß der katholischen Dogmatik“ von 1952 etwas dürftig scheint. Doch das ist sekundär. Primär ist der intentionale Gehalt, von dem Strassers dezente „Marienverehrung“ sich inspirieren lässt. Mit dem Wunder der Sündenlosigkeit Marias und der Geistzeugung des Heilands ist der schicksalhafte „Schuldzusammenhang von Lebendigem“ (Walter Benjamin) aufgelöst. Strasser stellt fest: „Um den Erbsündenlauf für einen Moment lang auf direktem Weg zu stoppen, musste – so die Doktrin der Kirchenlehrer – Maria selbst unbefleckt empfangen werden. Wie war das innerhalb der Erbsündenlogik möglich? Nur dadurch, dass Gott sich dazu herabließ, bei der Schwängerung der Mutter Mariens durch ihren Gemahl eine Ausnahme zu machen. Es wurde für dieses eine, einzige Mal ein heilsgeschichtliches Privileg gewährt, denn nur dadurch war es möglich, ein vollkommen reines Gefäß zum Empfang des Menschensohnes zu erhalten, nämlich Mariens erbsündenlosen Leib.“ Ein andermal findet Strasser zu der folgenden bekenntnishaften Formulierung: „Maria ist die Hoffnung, die Welt ließe sich mit dem Blick des Paradieses, mit Paradieses-Augen anschauen und man könnte sehen, dass alles ist, wie es ist, und dabei aber gut.“

Es wäre nun verfehlt, dem Autor einen Hang zu sentimentalem Kitsch, psychopathologischem Keuschheitswahn oder „reaktionärer“ Gegenaufklärung zu attestieren. Im Gegenteil: Vernunft- und verstandesloser Schwärmerei begegnet er fühlbar unwirsch, und mit scharfer Polemik wehrt er „neomythische“, „falsche“ Unschuldsversprechungen ab, die er, so exemplarisch die Anthroposophie Rudolf Steiners, für Erscheinungsformen irrationalistischer „Verwilderung“ hält. Demgegenüber findet er in literarischen Figuren wie dem Parzival Wolframs von Eschenbach, dem Don Quichotte Miguel de Cervantes’ und Fjodor Dostojewskis Fürst Myschkin Prototypen des närrischen Daseins, dem in der Welt universeller Schuldhaftigkeit allein die Gabe der stellvertretenden Unschuld verliehen ist. Allerdings ist der Preis, den die Parzivals, Don Quichottes und Myschkins zu zahlen haben, beträchtlich, weil das Leben um sie herum nichts unterlässt, diesen kindlichen, „idiotischen“ Narren des nicht lebbaren Lebens in hiesiger Unschuld mit aller Macht und Gewalt „das Leben einzubläuen“.

Unser aller eigentlich unausweichliches Verhängnis besteht laut Strasser in der „Schuld, die das Leben ist“. Oder der Autor beklagt die „Unerlöstheit unserer Körper“ und entdeckt, dass wir selbst als Paradiesvertriebene das Übel sind, von dem die Schöpfung zu befreien wäre und das wie jedes Übel der Erlösung harrt. Der von der kirchlichen Orthodoxie als häretisch verworfene Gedanke der Allversöhnung (Apokatastasis panton) ist offenbar für Strasser von nicht geringer Attraktivität: „Nicht Hinwegnahme des Übels allein brächte den Mechanismus, die Seuche des Bösen endgültig zum Stillstand; nein, es bedürfte einer Wandlung, eines das Herz der Dinge umschmelzenden Blitzstrahls. Entweder ist alles mit einem Schlage erlöst, oder das, was sich als Erlösung ausgibt, ist ein Trick der verhärteten Seele, die, um ihrer Glückseligkeit frönen zu können, ihre Augen vor aller Müh- und Trübsal fugenlos verschlossen hat, bis sie verkümmern: Nirwana-Augen.“

Das Thema der verlorenen und verfolgten Unschuld erzwingt geradezu eine Ausdeutung des biblischen Berichts vom Ur-Sündenfall und die Inaugenscheinnahme der Erbsündenlehre. Als moderne Zeugen unseres existenziellen Schuldigseins benennt Strasser Arthur Schopenhauer, Sören Kierkegaard, Franz Kafka und Ludwig Wittgenstein, stiftet jedoch auch die Möglichkeit, weitere verschwisterte Geister im Streit gegen den blinden Hochmut menschlicher Selbstgerechtigkeit zu assoziieren. E. M. Cioran („Vom Nachteil, geboren zu sein“) oder Albert Camus wären wahrscheinlich nicht die übelsten Kombattanten. „[I]ch werde mich bis in den Tod hinein weigern, die Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden“, sagt Rieux in Camus’ „Die Pest“. „Es gibt keine Erlösung, solange es irgendwo noch ein Wesen gibt, das leidet“, sagt Peter Strasser.

Titelbild

Peter Strasser: Unschuld. Das verfolgte Ideal.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2012.
184 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783770552979

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