Der Totalverweigerer

Über John Boynes Roman „Das späte Geständnis des Tristan Sadler“

Von Friedhelm RathjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedhelm Rathjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Tristan Sadler, der Protagonist und Ich-Erzähler dieses Romans, am Ende (und viel zu spät) ein Geständnis ablegen wird, erfährt die deutsche Leserschaft schon aus dem Titel. Der Leserschaft der Originalausgabe hingegen bleibt diese Enthüllung etwas länger erspart, denn der Originaltitel lautet: „The Absolutist“. Man muss schon einigermaßen historisch beschlagen sein, um zu wissen, was ein „Absolutist“ ist; heute würden wir diesen Terminus wohl als „Totalverweigerer“ übersetzen, aber diese Terminologie stammt aus jüngerer Zeit, nicht aus jener, von der hier erzählt wird (was leider nicht heißt, dass es in diesem Roman keine sprachlichen Anachronismen gäbe). Der Verweigerer, um den es geht, verweigert seine Mittäterschaft dem Ersten Weltkrieg; der Roman spielt abwechselnd in den Jahren 1919 und 1916.

Dass der Krieg und dessen Folgen Thema des Romans und Problem des Protagonisten sind, wird schnell deutlich; einige Seiten länger braucht es, bis sich auch das zweite Problemthema des Romans herauskristallisiert, nämlich die Homosexualität. Zu beiden Problemthemen möchte John Boyne uns belehren: Wir kommen nicht umhin, zu lernen, dass der Krieg eigentlich schlimm ist und die Homosexualität eigentlich nicht. Und wir kriegen in immer neuen Anläufen beigebracht, dass die zeitgenössische Gesellschaft es genau andersherum sah, nämlich im Krieg einen Sinn und guten Zweck erkannte, die Homosexualität hingegen als etwas Schlimmes verdammte. Gegen diese perverse Werteumkehrung rennen die Figuren dieses Romans an, und indem sie dies tun, rennen sie gegen Mauern, die stärker sind als sie – folgerichtig scheitern sie.

Leider lässt sich der irische Autor John Boyne von seinen guten Absichten und lobenswerten Einsichten dazu hinreißen, den Roman weitgehend als verkappten Ideen- und Thesenroman anzulegen, und das macht ihn über weite Strecken unerträglich. Dabei hat das Thema durchaus (auch literarisches) Potential. Mit der auf den Kopf gestellten Moral und der Frage, wer denn wohl ein Feigling sei – derjenige, der noch im Krieg an Menschlichkeit festhält, oder derjenige, der blindem Gehorsam den Vorzug gibt –, ließe sich erzählerisch durchaus einiges machen, und Boyne beweist ein gewisses Talent, trickreiche Personenkonstellationen zu ersinnen. Leider wuchert er mit diesem Talent so sehr, zieht diesen Personenkonstellationen immer noch neue Symmetrien und zufällig sein sollende Zusammenhänge ein, dass darüber die Gesetze nicht nur der Wahrscheinlichkeit, sondern auch der fiktionalen Glaubwürdigkeit komplett abhanden kommen.

1919, im Nachkriegsjahr und mit einiger Verzögerung, sucht Tristan Sadler die Schwester seines toten Kriegskameraden und Freundes Will Bancroft auf, um ihr einen Stapel Briefe zu bringen, die Hinterlassenschaft des Toten. Während er dabei ist (und fast permanent der Versuchung widerstehen muss, das Vorhaben abzubrechen), gehen ihm die Geschehnisse des Krieges immer wieder durch den Kopf – die dem Leser nach und nach durch Rückblenden ins Jahr 1916 eröffnet werden – und er ringt mit gravierenden Gewissensbissen, die über das simple „Ich lebe noch“ im Angesicht des Todes fast aller Kameraden weit hinausgehen. An der Front nämlich hat Tristan schwere Schuld auf sich geladen, hat sich an Will und an seiner Freundschaft zu ihm auf eine Weise vergangen, die ihm niemand vergeben kann. Worum es sich handelt, sei hier nicht verraten, aber bei der Lektüre dämmert es uns schon, bevor Tristan mit seinem Geständnis herausrückt, denn nach der wenig realistischen Logik des zwanghaft symmetrische Konstellationen herstellenden Erzählprinzips von John Boyne passiert genau das, was passieren muss, wenn man sich die schlimmstmöglichen Zufälle ausdenkt.

Hinzu kommt, dass Boyne sich permanent in der Kunst der Andeutung und des Drumherumredens versucht, diese Kunst aber offensichtlich nicht beherrscht. Umständlich deutet er Dinge an und deutet sie nochmals an und notfalls auch ein drittes Mal, bis kein aufmerksamer Leser mehr überlesen kann, worauf all das wohl zielen mag – dann kommt freilich auch noch der Holzhammer zum Zug und benennt den so penetrant angedeuteten Sachverhalt zu allem Überdruss so platt, wie das der drumherumredende Duktus, der wohl die spätviktorianische Gesellschaft einfangen soll, erlaubt.

Überhaupt dieser Duktus – er gleitet bisweilen in unfreiwillige Stilparodien ab. Wie lässt sich möglichst umständlich die traurige Tatsache ausdrücken, dass fast jede Familie Sprösslinge an den Krieg verloren hat? Boynes Erzähler versucht es so: „Der Gebrauch des Konjunktivs war zu einer weitverbreiteten Krankheit geworden, wenn das Alter von Kindern erwähnt wurde, und viel mehr brauchte nicht gesagt zu werden.“ In einem ähnlichen Duktus reden leider auch die Figuren miteinander, sie unterhalten sich eigentlich nicht, sondern sie tauschen Statements aus. Selbsterkenntnis seitens des Erzählers sieht dann so aus: „Das war typisch für Männer wie mich“ – noch plakativer lässt sich kaum ausdrücken, dass die Figuren hier nicht Figuren sind, keine Individuen, sondern Abziehbilder, die Klischees illustrieren sollen. Notfalls schreckt der Autor auch vor den plumpesten und banalsten aller Sätze nicht zurück: „Vielleicht ist es nur ein Traum, aus dem ich gerade erwache.“ Will er so ein moralisches Dilemma einfangen oder gar in Erzählung überführen?

Ganz am Ende, aus einer Zukunft, die auf den Oktober 1979 datiert ist, meldet sich der Erzähler dann noch einmal mit einer ganz anderen Haltung zu Wort. Aus dem seines Halts und aller Orientierung beraubten, an seiner eigenen Schuld und der Unfähigkeit, zu ihr zu stehen, leidenden Kriegsheimkehrer ist im Abstand von sechzig Jahren ein Zyniker geworden, der genau aus diesem Zynismus heraus erst sein „spätes Geständnis“ ablegt. Innerfiktional ist das nicht glaubhaft, erzähltechnisch ist es ein untauglicher Griff in die Mottenkiste. Diesem Roman lässt sich eigentlich nur mit einer Totalverweigerung begegnen.

Titelbild

John Boyne: Das späte Geständnis des Tristan Sadler.
Übersetzt aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence.
Arche Verlag, Zürich 2012.
333 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783716026649

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