Die unendliche Weite der Prärie

Weite und Enge bei Karl May, James Fenimore Cooper und Arno Schmidt

Von Friedhelm RathjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedhelm Rathjen

Kleinheit und Enge auf der einen, Größe und Weite auf der anderen Seite – das ist eine Dichotomie, mit der Arno Schmidt die Ferne-Sehnsucht seines Jugendschwarms Karl May zu erklären sucht. Schmidt selbst ist nie in Amerika gewesen; das, was er über Amerika weiß oder zu wissen glaubt, speist sich aus zwei Quellen. Die eine Quelle ist seine Schwester Luzie (später: Lucy), die in den 1930er-Jahren mit ihrem jüdischen Mann in die USA auswandert und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg regelmäßig mit Schmidt korrespondiert, zudem mit ihren Lebensmittel- und Büchersendungen zum Lebensunterhalt des unter desolaten wirtschaftlichen Umständen lebenden Bruders beiträgt.

Timm Menke, der den unveröffentlichten Briefwechsel Arno Schmidts mit seiner Schwester einsehen konnte, teilt in seinem Aufsatz „Vorbild und Abschreckung: Das Amerikabild Arno Schmidts“ mit, dass Lucy Kiesler „in der […] Korrespondenz mit dem jüngeren Bruder mit ihrem neu erworbenen Reichtum freizügig angab, ohne dessen wirtschaftliche Bedrückung überhaupt richtig wahrzunehmen“; sie habe „in Briefen und Postkarten stets recht gefühllos von ihrem neu erworbenen Wohlstand zu berichten“ gewusst. Schmidts Schwester hätte damit – dies legt Menke zumindest nahe – Schmidts Aversionen gegen die USA verstärkt. In die andere Richtung gewirkt haben wird allerdings Schmidts zweite Quelle für das Bild, das er sich von Amerika machte, nämlich die Literatur. An Schmidts früheste prägende Leseerlebnisse erinnert sich die Schwester im weiten zeitlichen Abstand: „He loved Karl May. He loved, uh… Cooper, very much so“. Schmidts frühes Bild von Nordamerika war deshalb dasjenige, das vor allem May vermittelte: das Bild weiter Prärien und der wilden Rocky Mountains.

Nun ist Karl May bekanntlich selbst nie in Amerika gewesen, bevor er seine dort angesiedelten Bücher schrieb, und hat sich sein Klischee-Amerika aus früherer Literatur und den eigenen Vorstellungswelten zusammengeschrieben. Warum dieses vorgestellte Amerika gerade so aussehen musste, wie es dann aussah, und zwar mit einer Art Zwangsläufigkeit, dazu hat Arno Schmidt – im späteren Stadium der äußerst kritischen Analyse – eine These formuliert. Verfallen, so Schmidt, sei der ehemalige Sträfling May auf „die Weite des ‚Wilden Westens‘ und östlicher ‚Wüsten‘ deshalb, weil dreitausend Tage Zellenangst auszutarieren waren: er flüchtet in Gedanken protektiv ‚ins Freie‘? Und setzt sich jetzt hin, und schreibt seine unzähligen Bände.“ Ausgangspunkt der Gedankenflucht ist danach die Beschränkung der persönlichen Möglichkeiten: „Vollkommenheiten, die ihm das Leben versagt, muß die Phantasie liefern. Zur Austarierung der Claustrophobie erzeugt er imaginäre Fluchtbewegungen durch weiteste Räume.“ Hintergrund dieser These ist Schmidts Vorstellung, dass zumindest ein bestimmter Autorentypus das eigene Werk als ein „Längeres Gedankenspiel“ (von Schmidt „LG“ abgekürzt) inszeniert, bei dem das, woran es in der realen Welt mangelt, ins Werk gesetzt wird: „Beispiel: ein ‚Gefangener‘ wird sich zur Austarierung, um nur Überleben zu können, gerne LG’s der absoluten ‚Freiheit‘ suggerieren; wie es etwa KARL MAY im Zuchthaus zu Waldheim tat, (und so mancher Kriegsgefangene auch tun mußte); in solchem Fall ist nun der Gegensatz – obschon voll als solcher begründet – dennoch so gewaltig, daß der oberschichtige bildmäßige Zusammenhang nur noch ganz dünn sein, ja meist ausdrücklich abgelehnt werden wird. (Daß unterschwellig die grausamste Determinierung stattfindet – dies dem Leser darzutun, wird Sache des ‚gekonterten‘ LG sein: den ‚Gefangenenwärter‘ der Realität, wird man im LG schon ganz schön über die Prärie scheuchen!).“ In der Weite der Prärie kann Karl May dieser These zufolge also alte Rechnungen begleichen, die aus seiner Zeit in der Enge des Zuchthauses noch offen sind. Die Attraktion, die die leere Weite auf den Autor ausübt, wäre mithin eine unmittelbare Folge der Tatsache, dass er die prägende frühe Zeit seiner Realexistenz in qualvoller Enge hat verbringen müssen.

Wenn Schmidt eine solche These formuliert und wenn man gleichzeitig berücksichtigt, dass Schmidt selbst zeit seines Leselebens für den Reiz der weiten Prärien, die er bei May, Cooper und anderen fand, anfällig war, dann lässt sich kaum der Versuchung widerstehen, einen Blick auf Schmidts eigene frühe Lebensumstände zu werfen. In dem späten, von Erinnerungen an die eigene Jugendzeit geprägten Dialogroman „Abend mit Goldrand“ entwirft Schmidt folgendes Bild seiner Kindheit in Hamburg: „die Mentalität meiner Eltern war so gruselich, daß Wir die ‚Gute Stube‘ vorn, (die mit dem Balkong), nie benützten! Wir hausten, jahraus=jahrein, nur in der Küche! (Mit Ausnahme der Tage vom 24. Dezember bis 1. Januar.) In drangvollster Enge; in Koch= und WäscheDunst, (die näm’ich in der Küche getrocknet ward: unter der Decke zogen sich Leisten mit eingeschraubten Haken hin, wo die Leinen gezogen wurdn.“

Diese Beschreibung „drangvollster Enge“ müsste jenem kompensatorischen Prinzip zufolge, das Schmidt im Falle Karl Mays als Erklärung für die Vorliebe für Prärien und Wüsten heranzieht, folglich auch bei Schmidt zu einer solchen Vorliebe geführt haben.

In den Hamburg-Reminiszenzen von „Abend mit Goldrand“ beschreibt Schmidt einige Lokalitäten, die ihn anzogen, wenn er aus der Enge des Zuhauses entkommen konnte – da ist einmal der „Bauerberg“, Schmidts Beschreibung zufolge „ein ziemlich großer Platz; mehr ein weiter freier Raum, ungepflastert, halb mit kargem Rasen“; da ist weiterhin ein sehr ländlicher Landstrich an der Peripherie der Stadt, das Hammer Moor: „Da ging ich dann auch schon allein […], und bei grauem Wetter; auch wenn’s regnete: da waren Bad & Wasser oft ganz leer, das Schilf windgebogen, und jenseits die graue Weite von Acker und flachen Wiesen, kein Haus mehr, nichts – wenn ich keine Menschen sah, war mir immer am wohlsten.“ Dies sind natürlich nur zwei Details aus einer Lebenswelt, die sehr viel komplexer gewesen sein wird, als wir sie zu rekonstruieren vermögen, so dass wir uns vor allzu vereinfachenden Schlussfolgerungen hüten sollten; festzuhalten bleibt immerhin, dass ein „weiter freier Raum“ und „die graue Weite von Acker und flachen Wiesen“ Schmidt eine Ausflucht aus der heimischen Enge boten.

Wichtiger als solche punktuellen biografischen Details sind sicherlich die Tendenzen, die sich Schmidts frühen Texten ablesen lassen. In den sogenannten Juvenilia – romantischen Erzählungen, Gedichten und Dialogen, die Schmidt in den 1930er-Jahren und der ersten Hälfte der 1940er-Jahre schrieb, die jedoch zu seinen Lebzeiten nicht veröffentlicht wurden – findet sich die Dichotomie von Enge und Weite vielfach umgesetzt. Schon in dem 1935 entstandenen Gedicht „Bürgerlicher Abend“ wird die Weite einer fernen Welt zum Fluchtpunkt der Vorstellungen eines Ichs, das im beengenden Zimmer situiert ist: „Und während lautlos ich zum Fenster schreite, / so musiziert mein Radio sehr sacht: / das Zimmer flüstert; strahlend schweigt die Weite.“ Die Helden der juvenilen Erzähltexte bewohnen ein „enges ärmliches Zimmerchen“ und sehen „zum engen Fenster hinaus“. Treten sie aus dem Haus, so kommen sie in eine „enge Gasse“, bewegen sich in „engen holperigen Strassen“ und schreiten „langsam über das holprige pflaster der engen strassen“. Der autobiografischste dieser Helden, nämlich das heranwachsende Ich der kurzen Prosa „Der Rebell“, zieht aus den Vorlieben der Erwachsenen den Schluss: „Es blieb immer seltsam genug, wie sie darüber hinwegsahen – mit diamantenen Seelen und sicheren großen warmen Händen – daß sie sich, um das Leben zu ertragen, von der Welt kleine enge Stücke – Stuben – abtrennten.“ Dies ist die literarisierte Fassung der Schmidt’schen Realexistenz, eines engen Lebens, das eigentlich mehr will und sich deshalb in die Weite einer fernen Außenwelt hinausträumt. Der Held von „Der Rebell“ gelangt, als er die enge Stube endlich hinter sich lassen kann, „auf den klaren Straßen staunend in die zartkalte Weite“ und schließlich ans „Ufer eines weiten gefrorenen Sees […], auf dessen Rand die rosige Sonne rollte.“ In den zur Poetisierung und Romantisierung neigenden übrigen Juvenilia wird die Evokation der Weite durch die Häufung entsprechender Textstellen noch deutlicher. Da begeben sich die Helden auf eine „kühle, klar und blau ins Weite deutende Landstraße“, ziehen „durch das weite Land“ und in „die weiten kühlen Wälder“ hinein, gelangen an „weite goldsäumige Bergketten“ oder ins „böhmische bergland; soweit mein auge reichte, sah es nur die bleichen wälder alle höhen und weiten überziehen, endlos und sehnsüchtig.“ Sie werden an der Seite eines „weiten langgedehnten Tales“ durch „weite, düstere kiefernwälder aufgenommen“, und unter diesen „weiten glühenden Wäldern“ sehen sie unweigerlich „ein weites unabsehbares Tal“ oder auch „eine weite öde Heide“, geraten auf manch eine „weite, mondhelle lichtung“, begeistern sich an „weiten grasflächen“ oder „weiten bleichen, nebligen wiesenflächen“, „den weiten Nebelwiesen“, erblicken gar „unsäglich tief in den stummen Wassern eine weite Stadt“, schauen „ruhig atmend in das weite Land hinaus“, sehen „in weiter ferne himmel und meer ineinander“ sinken und horchen „versunken, wie der Schall gleich einem Silberball endlos über die Weiten rollte, weiter und weiter, bis kein Mensch ihn mehr vernehmen konnte.“ Diese fast schon penetrante Betonung von Elementen, die in immer neuen Variationen eine „weite Landschaft“ evozieren, setzt sich selbst noch auf dem engen Areal jener Insel fort, die der Schauplatz von „Pharos oder von der Macht der Dichter“ ist – fantastische Glasmalereien, die in die umlaufenden Fensterscheiben des Leuchtturms eingearbeitet sind, zeigen hier „ein weites Wolkenmeer“ über „weiten gelben Landstriche[n]“, bei Nacht „weite Hochflächen im Mond“ und bei Tag „ein weites lachendes Tal“, ergänzt von „weiten lila Heiden“, und so ergibt sich insgesamt eine ungebrochene und unbegrenzte Weite: „alles geht ineinander über ohne Rahmen, ohne Begrenzung.“

Die „Pharos“-Glasmalereien stehen natürlich für die „Macht der Dichter“ im Titel, eben für die fantastischen Kräfte, mit deren Hilfe sich der realen Enge in die so vielfach beschworenen Weiten entfliehen lässt. Welche Dichter aber sind es, die für Schmidts Juvenilia in dieser Hinsicht Leitbildfunktion haben? In „Pharos“ ist es vor allem Schmidts Lieblingsromantiker Friedrich de la Motte Fouqué, der mit diversen Textdetails heraufbeschworen wird; in einem späteren Essay beschreibt Schmidt Fouqué in der Gestalt eines „perfekten Ritters“, der „isoliert im Käfergehäuse der Rüstung“ eine „Bewegung durch weite Räume“ vollbringe, und in seiner monumentalen Fouqué-Biografie erwähnt Schmidt keineswegs absichtslos Fouqués Reisen „durch den damals noch sehr öden Fleming und dessen weite dichte Waldungen, zumal eine, an der sächsisch=preußischen Grenze gelegene, und »Brand’s Haide« geheißen“ – hier kombiniert Schmidt weite bergige Wälder und Grenzlandsphäre auf eine Weise, die man eher bei James Fenimore Cooper als bei Friedrich de la Motte Fouqué vermuten möchte. Aber als Gegenbild zu realweltlich-heimischer Enge ist die Weite grundsätzlich in fast jeder Art von Literatur anzusiedeln. In „Die Fremden“, einem der in diesem Zusammenhang ergiebigsten Texte der Juvenilia, ist es die Welt Shakespeares, die einen Blick in fremden Welten erlaubt, „als sähe man in eine weite Landschaft“. In „Dichtergespräche im Elysium“, einem dialogischen Werk, in dem Schmidt anfangs der 1940er-Jahre fast alle seine literarischen Götter versammelt, preist Daniel Defoe „die Weite Sicht“, Homer „den ganzen weiten Raum des herrlichen Mittel-Meeres“ und Herodot den „Mondschein über dem weiten Lande“. Edgar Allan Poe, der einzige Amerikaner, der an den „Dichtergesprächen“ beteiligt ist, berauscht sich im Zwiegespräch mit Fouqué am „Blick in Weite und Höhe“, und als er sich am Beispiel der Vokabeln „Nebelglanz, mondhell, Bergland, Hochwald“ über den „Zauber oft eines einzelnen Wortes“ auslässt, erinnert er sich an „das zärtliche Lachen des Kuckucks in der Tiefe der weiten Wälder“ – der Versuch, daraus nun endlich eine spezifisch amerikanische Weite herauszuhören, fällt allerdings schwer, und so scheint Poes Auftreten in den „Dichtergesprächen“ Schmidts spätere Einschätzung vorwegzunehmen, dass Poe „so gâr=nicht ‘Amerikaner’ war“. Die Vokabeln, die Schmidt Poe in den Mund legt – insbesondere der Begriff „Hochwald“ –, verweisen eher auf europäische Dichtungstraditionen und speziell auf Adalbert Stifter, der in den „Dichtergesprächen“ ebenfalls einschlägig präsent ist. Stifter entwirft hier „Eine weite Landschaft; die tiefen Wälder ziehen über alle Hänge und Kämme; wie die Sonne leicht auf den Wipfeln liegt –“. Von Stifter allerdings führt eine amerikanische Fährte direkt zu Cooper. Stifters „Hochwald“ scheint eine frühe Lieblingslektüre Schmidts gewesen zu sein; im Nachkriegswerk allerdings verkehrt sich Schmidts Hochschätzung Stifters ins Gegenteil, und Teil dieser veränderten Wertschätzung ist die häufig wiederholte These, Stifters „Hochwald“ sei ein weitgehendes Plagiat von Coopers Lederstrumpf-Roman „The Deerslayer“. Erstmals angedeutet wird diese These in Schmidts Erzählung „Leviathan oder Die beste der Welten“ von 1946: „Cooper fiel mir ein (also auch der »Hochwald«).“

Die zitierte Stelle aus „Leviathan“ ist erstaunlicherweise die erste in Schmidts Werk, an der sich ein Hinweis auf den frühen Liebling Cooper findet; der zweite Jugendliebling Karl May wird sogar noch später erstmals erwähnt. In den Texten, die Schmidt bis 1945 schreibt, blendet er also jene beiden Autoren, die ihm als erste und am nachhaltigsten weite Wälder und Prärien als amerikanische Landschaftsklischees vermittelt haben, vollständig aus; auch sonst ist Amerika nie Thema in Schmidts Juvenilia. Sollten die weiten amerikanischen Szenerien Coopers und Mays auf Schmidts Juvenilia einen Einfluss ausgeübt haben, so ist dieser indirekter und deshalb kaum nachweisbarer Natur gewesen. Offenbar hat Schmidt – bewusst oder unbewusst – den amerikanischen Topos der Weite re-europäisiert, um ihn für die romantisierende Ästhetik der Juvenilia fruchtbar machen zu können. In die sehr betulichen mitteleuropäischen Erzählwelten der Schmidt’schen Juvenilia hätten sich ungehobelte Wildwestelemente in Rohform gewiss schwerlich einfügen lassen, und vielleicht schämte sich Schmidt, als er in die hehren Welten edler Hochliteratur drängte, auch ein wenig jener profanen Jugendlektüre, die ihn einst auf den Weg gebracht hatte. Die wilde Weite Amerikas taucht in den Juvenilia deswegen höchstens kulturell gezähmt und feingeistig sublimiert auf – wie stark der durch solche Zähmung und Sublimierung erzeugte untergründige Druck ist, bleibt allerdings am vorgeführten inflationären Gebrauch der Vokabel „weit“ und ihrer Ableitungen vor allem im Kontext der Beschreibung imaginärer Landschaften in Schmidts Juvenilia ablesbar.

Dieser Gebrauch schwappt noch in den ersten Erzähltext hinüber, den Schmidt nach 1945 fertigstellte, nämlich „Enthymesis oder W.I.E.H.“ von 1946. Hier treffen wir wieder auf „ein fast kreisrundes weites Tal“, von dem aus „weit drüben in den duftenden dünstenden Wiesen“ eine Wasserfläche zu erkennen ist, und schließlich auf „ein weites schier ebenes leeres Hochland“ – ganz so, wie es der Ästhetik der Juvenilia entspricht. Allerdings hat sich der Schauplatz verändert; „Enthymesis“ beschreibt eine Expedition durch die nordafrikanische Wüste, nähert sich mithin – als Reiseerzählung mit einschlägigen Szenerien – den Erzählwelten Karl Mays, und zudem hat Dieter Kuhn in „Enthymesis“ einige mögliche Cooper-Anspielungen ausgemacht. In „Enthymesis“ löst sich Schmidt von der Ästhetik seiner Juvenilia ab, und das hat auch zur Folge, dass an diesem Punkt der beschriebene inflationäre Gebrauch der Vokabel „weit“ endet.

Aber die Vorstellung einer landschaftlichen und auch gedanklichen Weite bleibt, sie wird von Schmidt fortan nur auf eine neue Basis gestellt, die weniger weltflüchtige als vielmehr weltkonfrontative Züge trägt und deshalb auf das allzu penetrante Hantieren mit einschlägigen Vokabeln verzichten kann. Schmidt verlegt nun die Schauplätze ins Hier und Jetzt seines (jedoch nur kurzzeitigen) neuen Lebensraums im ländlichen Niedersachsen, am Rande der Lüneburger Heide. Die „weiten Horizonte, waldumkränzt, meilenfern“ – sie markieren jetzt nicht mehr erträumte Fantasieländer, schon gar nicht mehr solche in romantisierter Vergangenheit, sondern sie sind in der unmittelbaren Gegenwart der Erzählungen real vorhanden. Der Erzähler von „Schwarze Spiegel“ ist nicht weltflüchtig, sondern in seiner unmittelbaren Umwelt verankert, wenn er „aufs leere Moor“ blickt, „wilde Weite, süß und eintönig“, und befindet: „Das ist das Schönste im Leben: Nachttief und Mond, Waldsäume, ein stillglänzendes Gewässer fern in bescheidener Wieseneinsamkeit“. Auch dies ist wiederum ein europäischer und kein amerikanischer Schauplatz, doch handelt es sich nicht mehr um die zähmende und sublimierende Europäisierung früher Schmidt’scher Amerika-Leseerlebnisse, sondern im Gegenteil wird das niedersächsische Areal ganz offen amerikanisiert. Der Erzähler von „Schwarze Spiegel“ liest Cooper, bekennt sich (wie schon zuvor der Erzähler von „Brand’s Haide“) zu dieser Lektüre, da für ihn Cooper und Poe „die Spitzen der US-Entwicklung“ sind, und er inszeniert das eigene Herumstreifen durch die niedersächsischen Wälder als unmittelbaren Nachvollzug jener Welten, durch die der Cooper-Held Natty Bumppo gestreift ist: „Natty hatte schon recht: Wälder sind das Schönste!“ „Schwarze Spiegel“ ist ein Text, der – obwohl er in der Mitte Europas spielt – auf vielfache Weise einen Kommentar Schmidts zu Amerika darstellt und das Flachland Niedersachsens auf eine Weise in den Blick nimmt, wie dies nur jemandem möglich ist, der sich aus Büchern eine umfassende Vorstellung von der Landschaft Nordamerikas verschafft hat.

Aus diesem neuen Blick heraus gewinnen in der Rückschau jedoch auch frühere Schmidt’sche Szenarien plötzlich eine konkretere Cooper-Qualität. Schmidt lässt den Erzähler von „Schwarze Spiegel“ befinden: „schön, die weiten wirren Wälder“ – das ist sein Cooper-Land, aber es ist doch kein Neuland für Schmidt. Die Formulierung hat er schon mehrfach in den Juvenilia verwendet. In „Die Insel“ lässt Schmidt schon 1937 den „ton eines posthorns aus den weiten wirren wäldern“ kommen; in „Der junge Herr Siebold“ steigt „aus den weiten wirren Bergwäldern […] in großer Ferne ein feiner Rauchfaden senkrecht in die flimmernde Luft“; in „Die Fremden“ erfüllt der Mond „die weiten wirren Wälder mit seinem blassen schönen Licht“. In „Schwarze Spiegel“ zitiert Schmidt also eine Wendung aus seinem eigenen Frühwerk herbei, doch gleichzeitig weist er auf spätere Texte voraus, in denen diese Wendung wiederum aufgegriffen wird. So verbindet Schmidt „die weiten wirren Forste“ einerseits mit Samuel Christian Pape, einem vergessenen Lyriker, der ihn vermutlich nur deshalb interessierte, weil er in Visselhövede unweit von Schmidts Nachkriegswohnsitz am Rande der Lüneburger Heide (und damit am Schauplatz von „Schwarze Spiegel“) aufgewachsen ist, Schmidt biografische Ähnlichkeiten zu sich selbst entweder entdeckte oder konstruierte, und wiederum mit seinem Lieblingsromantiker Fouqué, der „in den weiten wirren Waldungen des Fläming“ herumgereist sei. Andererseits benennt Schmidt das, was er an Cooper über alles schätzt, wiederum unter Gebrauch der einschlägigen Wendung: „Wo er kein ‚Ideal‘ zeichnen wollte, sondern sich (vermutlich nachsichtig lächelnd) damit begnügt hat, seine weiten wirren Wälder, seine Wasserflächen und Prärien zu ‚staffieren‘, kann man sogleich aufatmen.“ Aufatmen und durchatmen kann man da, wo alles weit ist: Wälder, Gewässer und Prärien – das schätzt Schmidt, und er weiß zu schätzen, dass auch Cooper es schätzt. Als „Mann der weiten wirren Wälder“ bezeichnet Schmidt an anderer Stelle einen der einsamkeitssüchtigen und menschenfeindlichen Cooper-Helden, und zwar in einem Aufsatz mit dem Titel „Amerika, du hast es besser…“ – es gibt wohl nur wenig an Amerika, was Arno Schmidt „besser“ fand als die europäischen Entsprechungen, aber die gering besiedelte Weite zählt zu diesem Wenigen in jedem Fall dazu.

Es ist möglich, aber nicht nachzuweisen, dass die Formulierung von den „weiten wirren Wäldern“ schon in den Juvenilia von Schmidt als untergründige Cooper-Anspielung eingesetzt wird; an die Oberfläche gelangt die Verbindung zu Cooper dann in „Schwarze Spiegel“. Allerdings ist hier ja keineswegs von amerikanischen Schauplätzen die Rede, sondern von niedersächsischen – genauer: von Schmidts Lebensraum der Jahre 1946-50 am Westrand der Lüneburger Heide. Schmidt hat aus der Lektüre Coopers (und auch einiger weniger anderer Autoren) ein Bild von Amerika gewonnen, doch in der Praxis des eigenen Schreibens trägt er dieses Bild nicht an seine eigenen Leser weiter, sondern er trägt einzelne Elemente dieses Bildes in die geliebte eigene Lebenslandschaft hinein. So kann er, als er Samuel Christian Papes Heimatstädtchen Visselhövede beschreibt, ganz organisch eine amerikanisch unterfütterte Landschaftskulisse aufbauen: „Visselhövede selbst, damals, 1780, ein Flecken von rund 60 Feuerstellen, mit spitzer Kirche, und von durchaus ländlichem Charakter, liegt inmitten von Wiesen und spärlichen Feldern; im Grenzgebiet des Bistums Verden, wo im Westen die Pferde mit Holzpantoffeln durch den Moorrauch stapfen; nach Osten beginnen die Prärien Lüneburgs: wir haben alles hierzulande: Savannen und Galeriewälder!“

Den Ausdruck „Galeriewälder“ verwendet Schmidt noch ein weiteres Mal in seinem Werk, und zwar im ersten Teil des Romans „Die Gelehrtenrepublik“ von 1957, dem einzigen Erzähltext Schmidts, der tatsächlich an einem amerikanischen Schauplatz angesiedelt ist; allerdings gehorchen die in der Wüste von Arizona spielenden Szenen der „Gelehrtenrepublik“ nicht dem von Schmidt an Cooper so bewunderten topografischen Realismus, denn Schmidt fügt gezielt Details afrikanischer Flora und Fauna in den Text ein und schafft damit eine fiktionale Paraphrase zu den Wüsten-, Prärie- und Savannenartikeln in „Meyers Großem Konversationslexikon“, aber keine naturalistisch korrekte amerikanische Landschaft. Wenn der Held und Erzähler der „Gelehrtenrepublik“ „über eine weite Lichtung“ kommt oder „auf eine weite Sandebene“ gerät, dann haben wir es keineswegs mit der amerikanischen Weite eines Cooper zu tun, sondern allenfalls mit der erfundenen pseudo-amerikanischen Szenerie eines Karl May, auf den in der „Gelehrtenrepublik“ wiederholt angespielt wird.

In der 1955 entstandenen Erzählung „Schwarze Haare“ lässt Schmidt seinen Erzähler ganz direkt aussprechen, dass sich jene weiten Prärielandschaften, für die Karl May ein Faible hatte, keineswegs nur in Übersee finden ließen: „was Ihre gerühmte Wüstenöde anbetrifft, Herr Hauptmann,: warum in die Ferne schweifen? Es ist gar nicht so lange her – in meiner Kindheit haben es mir Augenzeugen noch selbst erzählt! – da konnte unsere Lüneburger Heide es mit jeder Einöde aufnehmen.“ Im weiteren Text von „Schwarze Haare“ wird das aus Karl Mays Indianerromanen bekannte Motiv von den Markierungsstangen, die in der unwegsamen Prärie den Weg kennzeichnen sollen und von Banditen umgesteckt werden, um Reisende in die Irre zu locken, kurzerhand in die Lüneburger Heide und die Zeit der napoleonischen Besatzung transferiert. (Dieses Motiv greift Schmidt auch in anderen Texten aus dieser Zeit auf, teilweise unter ausdrücklichem Hinweis auf Karl May. Dafür, dass es sich um authentische Geschehnisse aus den Befreiungskriegen gehandelt haben könnte, lassen sich bislang keine Belege ermitteln. Bei Karl May tauchen die „Stakemen“ des „Llano Estacado“ immer wieder auf, so etwa in „Winnetou III“, „Old Surehand I“ und der Erzählung „Der Geist des Llano estakado“.) Beinahe planmäßig baut Schmidt in etlichen Texten seines Gesamtwerks die von ihm präferierte Landschaft der Lüneburger Heide zu „Lüneburger Prärien“ aus, so dass er sich selbst gleichsam in Coopers Nachbarschaft sehen kann. Dass es Landschaften, die den ihm nur aus der Literatur bekannten Weiten Nordamerikas ähneln, ohne Reizverlust auch in ganz anderen Weltgegenden gebe, behauptet Schmidt gelegentlich, wenn er auf Sibirien zu sprechen kommt: „Das trägt, vielleicht sogar heute noch, annähernd Texas= & Canada= Züge: endlose Weiten, von Zobeljägern durchstreifte; angenehmste Kalt=Urwälder; Bergketten, den ‹Rocky Mountains›, Seen, den ‹Great Lakes›, Wüsten, dem ‹Llano Estacado›, Steppen, jedweder ‹Prärie› mühelos vergleichbar, (wenn nicht gar überlegen!).“ Für Schmidt gibt es offensichtlich kein wirkliches Spezifikum rein amerikanischer Landschaft – kein Wunder eigentlich, denn er selbst kennt die amerikanische Landschaft ja nicht. Für ihn gibt es Grundbedingungen, die jede reizvolle Landschaft zu erfüllen hat, und dazu zählen vor allem der Waldreichtum (aus diesem Grunde beendet Schmidt 1952 seine zuvor angestellten Erwägungen, vielleicht auf die südatlantischen Falkland-Inseln auszuwandern, als er erfährt, dass es dort keine Wälder gibt, und verfällt statt dessen auf Kanada) und eine landschaftliche Weite, die auch von der Abwesenheit von Bergen herrührt. Solche Grundbedingungen sieht Schmidt in jenem fiktionalen Amerika, das er in den Büchern Coopers vorfindet, gegeben, aber selbstverständlich auch anderswo – namentlich in Niedersachsen, wo er „Weite, um nicht direkt zu sagen ‹endlose› Waldungen“ aus eigener Anschauung kennt, „einsam in der weiten Fläche“. Schmidts Credo lautet: „gebt mir Flachland, mit weiten Horizonten“; in einem seiner Cooper-Aufsätze überträgt Schmidt seine häufig geäußerte Flachlandliebe ausdrücklich auf den geschätzten amerikanischen Kollegen: „Ich begreife mindestens ebenso gut wie STIFTER (der COOPER im ‹Hochwald› begeistert plagiiert hat) schlechthin Alles: die ‹Grands Arbres› seiner Wälder; das ‹Siebzehn sind zu viel!› (nämlich Nachbarn); vor allem aber die endlosen Haide=Weiten eben dieser just neugebackenen ‹Prärie› – ah, Flachland & Nachschlagewerke; da kriegt man doch noch Luft!“

Flach und leer muss das Land sein, das Schmidt lieben kann, deswegen entvölkert er in seinem (Cooper nacheifernden) Text „Schwarze Spiegel“ den geschätzten niedersächsischen Lebensraum, indem er die Bevölkerung der Atombombe zum Opfer fallen lässt. Dies ist Schmidts Variante dessen, was er an dem Cooper-Helden Natty Bumppo, dem „Lederstrumpf“, so schätzt: so bald diesem die Zahl der Nachbarn zu groß wird, zieht er „angewidert weiter: in den leeren Westen.“

Das Ideal der flachen Weite findet sich in Nordamerika in der Prärie des Mittelwestens. Schmidt kommt immer wieder nicht nur auf Coopers Wälder, sondern auch auf seine Prärien zu sprechen; zum „für mich impressivsten Stücke“ der „Lederstrumpf“-Serie erklärt Schmidt zudem den Abschlussband „Die Prärie“, der als einziger nicht in den Wäldern des östlichen, sondern eben auf den Prärien des zentralen Nordamerika spielt, und Schmidts Vorliebe gründet sich auf das Argument, in diesem Schlussroman trete „eine solche Kombination der Verlorenheits=Gefühle von Froschperspektive plus Vogelschau ein – daß man gleich dort sein möchte!“

Nun hat allerdings nicht nur Arno Schmidt (ebenso wie der vermutlich erste Lieferant seiner Wildwestbilder, Karl May) die Prärien des amerikanischen Mittelwestens nie selbst gesehen, sondern auch Cooper kannte sie gar nicht aus eigener Anschauung. Cooper selbst stützte sich für die Beschreibung der Weiten des amerikanischen Westens wiederum auf die Literatur, so vor allem auf die Expeditionstagebücher von Meriwether Lewis und William Clark, an denen sich in noch sehr viel stärkerem Maße auch Schmidts zweiter amerikanischer Lieblingsautor Edgar Allan Poe bei der Abfassung seines „Julius Rodman“ orientierte. Schmidt erfährt diese Zusammenhänge allerdings erst spät, nämlich 1963 oder 1964, als er im Rahmen der Vorarbeiten zur von ihm mitübersetzten Poe-Ausgabe des Walter Verlags auf die Tagebücher von Lewis und Clark aufmerksam gemacht wird; er überprüft den Sachverhalt kurz durch eine rasche Querlektüre besagter Tagebücher und äußert sich dann auch in einem seiner Cooper-Texte zu den „Wirkungen eines bei uns wie billig gänzlich ungekannten Buches“, das er sogleich als ein „Buch wie HOMER“ rühmt: „Ihm verdankt ein Großteil der ‹Prärie›=Staffage ebenso ihr Dasein, wie die im ‹Julius Rodman› POE’s […]. Das Original also ein permanentes Gemisch aus Windespfeifen & Grasgewischel; das, wer es einmal vernommen hat, nicht mehr missen möchte.“ Der Begriff „Original“ steht hier nicht von ungefähr. Nachdem Arno Schmidt sich rund vier Jahrzehnte an literarisierten Versionen der weiten amerikanischen Prärie ergötzt hat, erfunden oder aus fremden Quellen kompiliert von zwei Autoren, die diese Prärie selbst nie gesehen haben, und nachdem Schmidt diese literarisch klischierten Versionen amerikanischer Weite mit den ihm bekannten mitteleuropäischen Landschaften ausstaffiert und in seine eigenen Literarisierungen dieser europäischen Landschaften hereingeholt hat, lernt er mit dem „Windespfeifen & Grasgewischel“ der Tagebücher von Lewis und Clark erstmals eine Darstellung jener Weite aus erster Hand kennen. So gesehen ist es wahrlich kein Wunder, dass Schmidt die Expeditionstagebücher in höchsten Tönen rühmt; ob ihre wohl nur kursorische Lektüre Schmidts eingeschliffenes Bild vom wilden weiten Westen wirklich noch hat verändern können, erscheint allerdings fraglich.

Im Grunde ging es Schmidt vermutlich nie darum, sich ein authentisches Bild von Amerika zu machen, jedenfalls nicht vorrangig. Es ging ihm statt dessen darum, zur Enge des eigenen Lebens und zum allzu engen Umgang mit anderen Menschen, unter denen er schon früh zu leiden begonnen hatte, einen Gegenentwurf zu finden – einen Gegenentwurf nicht unbedingt in Form realer Lebensumstände, sondern eher in Gestalt gedankenspielerischer Gegenwelten. Dass der wilde Westen Karl Mays mit der Realität wenig zu schaffen hatte, war für diesen Prozess keineswegs hinderlich, denn das, was Schmidt suchte, war weniger Realität als vielmehr Utopie. Mit der gedanklichen Reise ins Weite konnte Schmidt der Enge, die ihn bedrängte, entfliehen. In „Abend mit Goldrand“, dem späten Dialogroman, in dem Schmidt sich erinnernd mit seinen bedrückenden frühen Kindheitserinnerungen beschäftigt, setzt er auch diese Utopie ins Bild, und zwar in ein Bild, das nun weniger denn je ein Amerikabild ist. Dies geschieht im Rahmen nicht einer Amerikareise, sondern einer „Reise nach der Unendlichkeit“: „Um mich ein weites Land, mit grauem Gewölk. Trübe Büsche, Wiesen, Bäume. […] / Oben! –: Plattform. Aussicht in ein weites Land; jedoch – (was dies ›jedoch‹ soll, weiß ich nicht) – wimmelnd von grauen (blau=grauen?) Teufeln, die sich mit Menschen beschäftigen; (aber anschein’nd gutmütig). (Ähnlichkeit mit BOSCH=Hintergrund).“ Hier können erstaunlicherweise vielzählige Wesen wimmeln, ohne dass es eng wird – die allumgreifende Weite ist erreicht und hebt alle Bedrängung auf. Arno Schmidt hat sein Gefängnis (und das Gefängnis Karl Mays) hinter sich gelassen.

Anmerkung der Redaktion: Der Text ist eine gekürzte Teilfassung aus dem Aufsatz „Die Weite der Prärie: Zur Funktion eines amerikanischen Klischees bei Brigitte Kronauer und Arno Schmidt“, erschienen zuerst in dem von Hartmut Fischer 2009 herausgegebenen Band „Winnetou lebt!…? & Amerika liegt am Dümmer: Amerika in deutscher Literatur“ und dann wieder 2010 in Friedhelm Rathjens Buch „Immerfort mitlebend: Arno Schmidt und die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts“.