Ein Dokument der Barbarei

Steve Sem-Sandberg und Andrzej Bart stellen die Figur von Chaim Rumkowski, dem Herrscher über das Getto von Lódz, ins Zentrum ihrer Romane

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anpassung kann Leben retten. Auf dieser Prämisse errichtete Mordechai Chaim Rumkowski seine Herrschaft über das Getto von Łódz. „Er träumte davon, so sagte er, den Behörden zu zeigen, was für tüchtige Arbeiter die Juden seien“, mit dem Hintergedanken, dass mit diesem Fleiß sich der „Traum vom Protektorat“ erfüllen würde. Dieses Protektorat würde die Juden innerhalb des Nazireichs überleben lassen. Doch wann beginnt die Lüge?, fragt dazu der Chronist Steve Sem-Sandberg.

Im Frühjahr 1940 errichteten die deutschen Besatzer im Norden von Łódz ein jüdisches Getto und setzten den Textilunternehmer Chaim Rumkowski als verantwortlichen Ältesten ein. Er wollte das rückständige Viertel zu einer effizienten „Arbeiterstadt“ machen, wie er Heinrich Himmler versicherte, in der Güter produziert werden – Uniformen für die Wehrmacht oder Bedarfsartikel für das Unternehmen Josef Neckermann. Ein lohnendes Geschäft für die Deutschen, welche als Gegenleistung bloß kärgliche, oft verdorbene Lebensmittel und knapp bemessene Heizstoffe lieferten. „Der Herr erschuf die Erde und ordnete sie in sieben Tagen. Rumkowski brauchte drei Monate“, um sein Getto zu ordnen, schreibt Sem-Sandberg. Radios waren von den Deutschen verboten, Geld musste an die Verwaltung abgeliefert werden, Sachwerte dienten der täglichen Korruption. Ungleicher Besitz und Privilegien der „unentbehrlichen“ Bürger schufen jedoch einen Boden für Bestechlichkeit und Unruhe. Die eigene „polizajten“ hielt mit zunehmender Härte die Ordnung aufrecht und bewies, dass Juden selbst das deutsche Recht durchsetzen konnten. Mehr als 250.000 Menschen lebten 1942 in diesen unwürdigen, schmutzigen, engen Verhältnissen eingepfercht. So großartig Rumkowski im eigenen Getto auftrat, so demütig nahm er die Befehle der deutschen Behörden entgegen. Er war überzeugt von der Idee, auf diese Weise möglichst viele Juden zu retten. Hätte es einen anderen Weg gegeben?

Mordechai Chaim Rumkowski war eine schillernde, ambivalente Figur, die gefährlich schwankte zwischen karitativem Engagement und zynischem Kalkül. Vor allem die Kinder lagen ihm am Herzen. Er baute ihnen ein Heim, auch als Entschädigung dafür, dass er selbst keine hatte. Doch in seinen weichen Blicken blitzte auch die perfide Lust, sich an den Kleinen zu vergehen. Selbst der elternlose Stanislaw, den Rumkowski 1942 adoptierte, erfuhr die harten Wechsel zwischen Vergötterung und Züchtigung.

Nur wenig später erlitt der „Herr Präses“ jedoch seine bitterste Niederlage, die eine Wende in seiner Herrschaft über das Getto bedeutete. Der Chef der deutschen Gettoverwaltung Biebow, der sich gerne als Judenfreund hervortat, befahl die Auslieferung aller Kinder, weil diese ihren Lebensunterhalt nicht erarbeiten könnten. Widerstand war aussichtslos. Mit einem Mal verlor Rumkowskis Wort, dass es ihm nur um die Kinder gehe, seinen Wert, stattdessen musste er die Eltern bitten: „Gebt mir eure Kinder!“. An der anschließenden Aktion anfangs September 1942 mochte er selbst nicht anwesend sein – aus Schmerz über die Niederlage. Oder aus Feigheit?

Bei diesem Geschehen verdichtet Steve Sem-Sandberg seine chronologische Erzählung. Es wird aus doppelter Optik beleuchtet – aus der Sicht Rumkowskis zuerst, später aus jener der Kinderbetreuerin Rosa Smoleńska. Danach sollte alles zerfallen, unter dem zunehmenden Druck der Deutschen wurde die Bevölkerung im Getto immer weiter dezimiert, bis im Herbst 1944 ein Räumungsbefehl erfolgte. Rumkowski glaubte an die eigene Macht und Verblendung, selbst als er das „volle Vertrauen des Reichsstatthalters“ längst verloren hatte. „Und der grosse Chaim ging in seiner Lüge umher wie ein Kaiser in seinem Palast“, schreibt der Chronist. Mit der Schließung des Gettos wurde auch er mitsamt seiner Familie deportiert und in Auschwitz ermordet – so wie die meisten seiner ehemals Untergebenen.

Steve Sem-Sandberg erzählt die Geschichte der „Elenden von Łódz“, indem er im Kern der ausführlichen Getto-Chronik folgt, die von 1941 bis 1944 mit akribischer Genauigkeit geführt wurde (Sie ist 2007 integral im Wallstein Verlag erschienen). Für seinen Roman darf gelten, was Per Olov Enquist im Vorwort des eigenen dokumentarischen Romans „Die Ausgelieferten“ formuliert hat: „Sollte die Bezeichnung ,Roman‘ Anstoss erregen, kann man sie durch die Bezeichnung ,Reportage‘ oder einfach ,Buch‘ ersetzen. Ich habe versucht, mich bis in kleine und unbedeutende Einzelheiten hinein exakt an die Wirklichkeit zu halten“.

Sem-Sandbergs Buch ist ein erschütterndes Dokument der Barbarei. Unerträglich der Zynismus, mit dem die Juden in prekärer Sicherheit gewiegt wurden, um sie umso effizienter auszubeuten und letztlich doch umzubringen. Der deutsche Amtsleiter Biebow ließ es sich nicht nehmen, zusammen mit dem „Herrn Präses“ vor der jüdischen Gemeinde aufzutreten und an ihr Wohlwollen zu appellieren, nicht zuletzt deshalb, weil er selbst der größte Nutznießer dieses Zynismus war. Das Ende des Gettos war auch sein persönlicher Ruin.

Rumkowski herrschte mit Zuckerbrot und Peitsche. Selbst wer glaubte, im Getto sicher zu sein, wurde durch das Auftreten des „Präses“ eingeschüchtert. Die Juden beuteten sich selbst aus. Die polizajten ergänzte die Gestapo, die nur hin und wieder einmarschierte, um ihre abscheuliche Brutalität zu beweisen. Die Gewalttäter ähnelten sich immer mehr. Und trotzdem bleibt die Frage bestehen, ob es Alternativen gegeben hätte zu Rumkowskis Frage „Wie viele wird man retten können?“

„Die Elenden von Łódz“ ist aber auch ein beeindruckendes Dokument der Menschlichkeit, wie sie im Privaten, Kleinen stattfand. Sem-Sandberg durchbricht die Optik auf Rumkowski, indem er in seinem Bericht Figuren Raum gibt, die das Leben im Getto von unten zeigen: mutige Menschen wie Vera Schulz, die bei einer Widerstandsaktion mitwirkte; rührend hilfsbereite wie Rosa Smoleńska, die sich aufopfernd um die Kinder kümmerte; lebenswillige wie der Hilfsarbeiter Adam Rzepin, der sich auf alle erdenklichen Arten zu behaupten versuchte und sich im Getto versteckte, als dieses geräumt wurde. Adam war kein Freiheitsheld, nur einer, der sich trotz Schlägen nicht beugen wollte. Die Befreiung im Januar 1945 erlebte er aber gerade nicht mehr. Im Anhang listet Steve Sem-Sandberg alle handelnden Personen auf. Einige von ihnen haben überlebt, die menschlichsten waren nicht darunter, dafür der schmierige, korrupte Polizist Dawid Gertler, der 15 Jahre später im Prozess gegen den SS-Hauptsturmführer Fuchs aussagen und so zur Aufklärung über das Getto beitragen würde.

Figuren wie Adam, Vera und Rosa bewirken, dass dem dokumentarisch sachlichen Bericht Leben eingehaucht wird. Ihre Rollen basieren teils auf der Fiktion des Chronisten, teils auf Zeugnissen wie den Erinnerungen von Lucille Eichengreen. Steve Sem-Sandberg spielt sich selbst aber nie in den Vordergrund. Er hält sich zurück und beschreibt auch in den fiktionalen Passagen mit nüchterner, diskret Anteil nehmender Präzision. Er braucht der grausigen Geschichte keine grellen Effekte hinzuzufügen. Darin liegt sein Verdienst. „Die Elenden von Łódz“ gibt so ein äußerst anschauliches, erschreckendes Bild des grauenhaften Lebens im Getto, dessen Bestehen durch ein teuflisches Arrangement mit den Nazis erkauft war. Das Ende des Gettos 1944 zeigte schließlich, wer hier tatsächlich das Sagen hatte.

Einen anderen literarischen Zugang zur zwiespältigen Figur von Chaim Rumkowski hat der polnische Autor Andrzej Bart gefunden. In seinem Roman „Die Fliegenfängerfabrik“ (ja, auch Fliegenfänger wurden im Getto produziert) wird die Herrschaft von „Chaim dem Schrecklichen“ verhandelt. Ein Breslauer Autor erhält Besuch von einem mephistophelischen Unbekannten, der sich als Bruder von Hans Biebow ausgibt. Er unterbreitet ein Angebot: Der Autor soll gegen ein reichliches Honorar nach Łódz fahren, alles weitere würde er sehen. Trotz Bedenken und wegen des Geldes nimmt der Erzähler an und gerät unvermittelt in eine groteske Zeitfalte zwischen Gegenwart und Geschichte. In der alptraumhaften Atmosphäre eines zerfallenden Palais wird Gericht gehalten über Chaim Rumkowski. Der Staatsanwalt wirft ihm vor, einen „Sklavenstaat“ errichtet zu haben, der für die Deutschen Güter produzierte und die eigenen Leute in den Tod schickte. Demgegenüber plädiert der Verteidiger für die Anerkennung des Versuchs, das eigene Volk zu retten in der Hoffnung, der Krieg möge bald enden. Die Befragung der Zeugen beleuchtet nochmals den abgründigen Zwiespalt, der in diesem Gegensatz der Anschauungen steckt.

Andrzej Bart situiert den Prozess zwischen Realität und Chimäre, zwischen lachhafter Farce und bitterem Ernst. Als Zeugen treten auch Figuren auf wie der ermordete Janusz Korczak, Hannah Arendt oder die zwei Schwestern Franz Kafkas, die ins Getto von Łódz gebracht wurden. Im Gerichtssaal anwesend sind auch Rumkowskis Sohn Marek und seine junge Frau Regina, deren Erzählperspektive diejenige des Autors ergänzt und erweitert. Die ganze Familie gelangt, in einer virtuosen Anfangsszene geschildert, mit einem Zug aus dem historischen Nirgendwo in das seltsame Palais, welcher zugleich Sonderzug ist und einem Transport nach Auschwitz gleicht.

Indem Andrzej Bart die Ebenen munter wechselt und seinem Breslauer Autor das Vergnügen gönnt, mit einer schönen rothaarigen Zeugin durchs alte Łódz zu streifen, bricht er das historische Gericht auf doppelte Weise. Erstens wird spürbar, wie komplex, vielleicht unmöglich es ist, über die historische Figur Rumkowskis im Nachhinein zu richten. Zweitens wird die Ambivalenz des Teufelspakts erkennbar, die jener einging. Andrzej Bart gelingt der literarische Spagat auf wundersame Weise. Rumkowski erhält am Ende die ihm angemessene Strafe von seinem eigenen Verteidiger: „Ich beantrage deshalb das härteste Urteil: Möge unsere Strafe sein, dass man ihn ewig als den in Erinnerung behält, der er war!“

Titelbild

Steve Sem-Sandberg: Die Elenden von Lódz. Roman.
Übersetzt aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011.
651 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783608938975

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Andrzej Bart: Die Fliegenfängerfabrik. Roman.
Übersetzt aus dem Polnischen von Albrecht Lempp.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
264 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783895612954

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