Undercover in der Psychiatrie um 1880

Nellie Blys Erlebnisse in Blackwell’s Island

Von Ulrike KochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Koch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um 1880 zehn Tage im Irrenhaus verbringen? Freiwillig? Das erscheint nicht nur gewagt, sondern auch gefährlich. Nellie Bly, mit richtigem Namen Elizabeth Cochran(e), stellt sich dieser Herausforderung. Sie täuscht Ärzte und wird in die berüchtigte „Irrenanstalt“ Blackwell’s Island (heute: Roosevelt Island) eingeliefert. Damit wird Nellie Bly zu einer der ersten investigativen Journalistinnen, 1887 erscheint ihr Bericht in Buchform.

Mit einer psychiatrischen Einrichtung, so wie wir sie heute kennen, hat Nellie Blys beschriebene „Irrenanstalt“ wenig zu tun. Zu sehr dominiert der Sadismus der Krankenschwestern, der neben Schlägen und Verhöhnungen auch schlechtes Essen und die Verweigerung von warmer Kleidung im Winter beinhaltet. Blys nüchterne Darstellung, die ganz dem journalistischen Realismus verschrieben ist, verursacht Gänsehaut, Ekelgefühle und Wut über diese Zustände. Bly berichtet von Frauen, die zu schnell als „Geisteskrank“ verurteilt worden sind und deren Hoffnung diesen Ort jemals wieder verlassen zu können von Tag zu Tag geringer wird.

Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass Nellie Bly die Gewissheit hat, wieder entlassen zu werden. Damit verfügt sie über ein Privileg, das den restlichen Frauen nicht zusteht. Blys Darstellung ist zudem nur eine Momentaufnahme, die aber erahnen lässt, unter welchem Leid die Frauen litten.

Bly versucht in ihrem Bericht so neutral und präzise wie möglich zu sein, was den Text ein wenig holprig erscheinen lässt. Die Übersetzung von Martin Wagner bleibt dem Original dabei sehr treu und verwendet eine ebenso klare Sprache. Sehr hilfreich sind die Anmerkungen, die eine historische Verortung des Textes ermöglichen.

Das Nachwort von Martin Wagner fasst die wichtigsten historischen Bedingungen zusammen. Eine Bibliografie rundet das Bild ab und regt zu weiterer Recherche an.

So erschreckend Nellie Blys Darstellung auch ist, das Buch ist ein wichtiges zeitgeschichtliches Dokument, das nun endlich auch auf Deutsch vorliegt. Es hilft dabei nicht nur, die Entwicklung der Psychiatrie nachzuvollziehen, sondern rückt auch eine Frau in den Mittelpunkt, deren Arbeit wesentlich dazu beigetragen hat, die Missstände aufzudecken. Nelly Blys Arbeit hat zudem wesentlich dazu beigetragen, den Beruf der Girl Stunt Reporter zu etablieren, in dem Frauen investigativen Journalismus betreiben und Missstände in Gefängnissen, Armenhäusern und ähnlichen Einrichtungen aufdecken. Dieser Beruf ermöglicht Journalistinnen, in ihrem Namen zu publizieren und so in einer von Männern dominierten Zeitungsbranche Fuß zu fassen. Zu hoffen bleibt, dass die große Nachfrage nach diesem Buch Martin Wagner oder andere darin bestätigt, weitere Texte zu übersetzen.

Titelbild

Nellie Bly: Zehn Tage im Irrenhaus. Undercover in der Psychiatrie.
Herausgegeben von Martin Wagner.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Martin Wagner.
AvivA Verlag, Berlin 2011.
190 Seiten, 18,50 EUR.
ISBN-13: 9783932338489

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