Madeleine kommt nicht nach Pemberley

Der marriage plot in Jeffrey Eugenides’ Roman „Die Liebeshandlung“

Von Almut OetjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Oetjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein College in Neuengland Anfang der 1980er-Jahre: Madeleine Hanna, eine schöne WASP aus gutsituierter Familie, studiert Literatur aus Begeisterung für das Lesen. Ihr Kinderzimmer ist tapeziert mit Reproduktionen aus ihrem Lieblingsbuch „Madeline“ von Ludwig Bemelmans. Am meisten interessiert sie das Regency und der Viktorianismus. Im dritten Studienjahr belegt sie einen Kurs über die Liebeshandlung, den marriage plot, bei Austen, Eliot und James und schreibt eine Hausarbeit über „Der Fragemodus: Heiratsanträge und die (streng begrenzte) Sphäre der Weiblichkeit“. Ihr eigenes Liebesleben am College findet sie eher enttäuschend. Sie hat zwei längere Beziehungen, die komplikationslos und mit einem klaren Ende versehen sind. Ihre Liebeswirren beginnen gegen Ende ihres Studiums, als sie Bücher der französischen Theoretiker liest, die den Begriff der Liebe dekonstruieren. Vor allem Roland Barthes’ Buch „Fragmente einer Sprache der Liebe“ übt einen starken Einfluss auf sie aus.

In einem Seminar lernt sie den brillanten, charismatischen Bandana-Träger Leonard Bankhead kennen, der in einer kaputten Familie in Portland aufgewachsen ist, in einem Haus, das Schauplatz eines blutigen Mordes war. Leonard hat ein gestörtes Verhältnis zu seinen Eltern, die selbst gestört sind. Im ersten Semester wird bei ihm eine manisch-depressive Störung diagnostiziert, die mit Lithium behandelt wird. Seine Quote an One-Night-Stands am College ist legendär und obwohl (oder weil) er einen Ruf hat, stehen die Mädchen bei ihm Schlange. Die Beziehung zu der unkomplizierten Madeleine, dem All-American-Girl, tut ihm gut. Als sie ihm eine Liebeserklärung macht, reagiert er ablehnend, um sie enger an sich zu binden. Sie verlässt ihn jedoch, er erleidet einen Zusammenbruch und lässt sich in die Psychiatrie einweisen.

Am Tag der Abschlussfeier erfährt Madeleine von Leonards Schicksal. Am gleichen Tag taucht auch Mitchell Grammaticus wieder in ihrem Leben auf, ein Kommilitone griechischer Herkunft mit spirituellen Neigungen. Ursprünglich will er Anglistik als Hauptfach studieren, schwenkt aber um auf Religion, insbesondere auf den christlichen Mystizismus. Er hat Madeleine auf einer Erstsemesterparty kennen gelernt und weiß, dass sie die Frau ist, die er heiraten wird. Es ist der Beginn einer erwartungsvollen, teils viel versprechenden, aber enttäuschenden Freundschaft.

Der Roman beginnt mit dem Tag, an dem Madeleine und Mitchell graduieren und Leonard in der Psychiatrie sitzt, geht zurück in die Hintergrundgeschichten der drei Hauptfiguren und folgt dann ihrem Weg nach dem College-Abschluss. Madeleine besucht Leonard im Krankenhaus. Nach seiner Entlassung fährt sie mit ihm nach Cape Cod, wo er in einem Gen-Labor Experimente an Hefe durchführt, während sie sich auf ihre Magisterzulassung mit dem Schwerpunkt Viktorianismus vorbereitet. Mitchell reist mit seinem Freund Larry, dem glamourösen Sohn einer unverschämt reichen Bohèmefamilie, nach Indien, um ein Freiwilligenjahr bei Mutter Theresa zu absolvieren und dann sein Studium aufzunehmen oder ans Priesterseminar zu gehen.

„Die Liebeshandlung“ ist Jeffrey Eugenides’ dritter Roman nach „Die Selbstmord-Schwestern“ und „Middlesex“. Der erste wurde von Sofia Coppola verfilmt, der zweite mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet. Aus drei Perspektiven schildert „Die Liebeshandlung“ die Coming-of-Age-Geschichte dreier umeinander kreisender junger Menschen an einem Wendepunkt ihres Lebens, ihre Wünsche, Bedürfnisse, Vorurteile, Zukunftsängste, ihre Illusionen am Abschlusstag und ihr Erwachen ein Jahr später.

Larry liebt Mitchell, der Madeleine liebt, die Leonard liebt. Eigentlich ist es eine Vierecksgeschichte, aber da Larry sich unterwegs nach Indien in Griechenland einen Freund sucht, wird es zur Dreiecksgeschichte: Eine Frau zwischen zwei Männern. Es ist der Klassiker der herkömmlichen Liebeshandlung mit den herkömmlichen Zutaten: die schöne Frau, die Freier, der eine ein Liebling, der andere ein Graus der angehenden Schwiegermutter, die Heiratsanträge, die Missverständnisse, nicht (oder doch?) angekommene Briefe, Trennungen, Versöhnungen.

Aber Eugenides reproduziert das Schema nicht einfach, er macht es zum Thema eines literarischen Romans, indem seine Heldin sich verhalten kann wie bei Jane Austen, den Brontë-Schwestern, George Eliot oder Henry James, also wie eine Romanfigur – die sie ja auch ist. Oder sie kann das Muster durchbrechen. Man leidet und freut sich mit den Figuren und will wissen, wie sich Madeleine entscheidet, welchen Einfluss die Bücher, die sie liest, auf ihre Wahl haben und ob sie sich von den Liebeshandlungen aus der Literatur vielleicht befreien kann. Um im Bild zu bleiben: Kann Madeleine die Madeleine-Tapeten abreißen, die Wände weißen und mit ihrer eigenen Geschichte beschreiben?

„Die Liebeshandlung“ ist ein geistvolles, komisches und dramatisches Buch, ein literarischer und realistischer Roman, an dessen Ende den Leser eine überraschende Auflösung erwartet. Mit großer Feinfühligkeit und Präzision gelingt es Eugenides, die Gedanken- und Gefühlswelt seiner drei Protagonisten bis in die kleinsten Nuancen auszuleuchten und eine Welt erstehen zu lassen, die er selbst als Student erlebt hat. Zu der Figur des Leonard Bankhead inspirierte ihn bereits in den 1990er-Jahren der Bandana-Träger Axl Rose von Guns’N’Roses, der Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre mehrfach wegen Gewaltanwendung verhaftet wurde und bei dem eine in dieser Zeit diagnostizierte manisch-depressive Störung mit Lithium behandelt wurde.

Titelbild

Jeffrey Eugenides: Die Liebeshandlung. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Uli Aumüller und Grete Osterwald.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2011.
621 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783498016746

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