Werte gesucht

Günter Rohrmoser setzt auf christliches Denken

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Konservative heute haben Gründe genug zur Zufriedenheit; sollte man jedenfalls meinen. Der Sozialismus weltweit zerschlagen, und selbst die klassische Sozialdemokratie kaum mehr existent; das Militär als außenpolitisches Mittel etabliert, die Polizei gestärkt, der Sozialstaat dagegen weitgehend auf patriarchale Fürsorge zurechtgestutzt, verbunden mit einem stattlichen Arsenal von Zwangsmitteln; die Kategorie des nationalen Interesses mittlerweile fest verankert. Aber manche Konservative wussten lange schon oder bemerken jetzt, dass im Erfolg Gefahren liegen: denn er beruht nicht allein auf politischer Kontrolle, sondern mehr noch auf wirtschaftlicher Dynamik, die die Kontrolle zu unterlaufen droht. Die Konkurrenz in der Globalisierung ist zwar hervorragendes Mittel, soziale Ansprüche und Forderungen nach demokratischer Partizipation zurückzuweisen; gleichzeitig unterminiert er nationale Kultur, staatliche Souveränität, moralische Werte, kurz: alles, was dem Konservativen am Herzen liegt.

In ihrem Triumph hat die Rechte mehr denn je eine Rolle eingenommen, die ihrer Ideologie der Bewahrung widerspricht: Sie agiert, als wollte sie um jeden Preis Marx' und Engels' Diktum aus dem Kommunistischen Manifest bestätigen, die Bourgeoisie könne nicht existieren, ohne sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Während die Reste der Linken die Reste des fordistischen Wohlfahrtsstaats verteidigen, steht die Rechte vor dem Dilemma, dass sie ihre Ziele erreicht, indem sie ihre Ziele zerstört.

Diesen Widerspruch können Konservative heute vielfach rhetorisch überdecken, da ihre Klientel von den Entwicklungen der letzten Jahre materiell profitiert. Mit einem solch pragmatischen Herangehen begnügt sich der Philosoph Günter Rohrmoser indessen nicht, denn ihm geht es um Werte. Er will wirklich bewahren; und zu diesem Zweck entwickelt er einen in sich fast konsequenten Ansatz. Freilich sollte man davon absehen, dass manches, gelinde formuliert, marottenhaft ist; wenn Rohrmoser etwa die Bundesrepublik seit 1968 in den Klauen neomarxistischer Kulturevolutionäre wähnt. Er will eine gestärkte, moralische Familie und Schule, doch heute, ach! werden die Kinder von den Medien der Gewalt und Pornographie ausgesetzt. Richtig: ja; meinetwegen auch schlimm - doch waren es wohl kaum die "kulturrevolutionären" Anhänger Adornos oder Marcuses, die das Privatfernsehen forcierten, sondern eher CDU-Politiker, denen kritische Stimmen in den öffentlich-rechtlichen Sendern nicht passten.

Das aber sind Nebensächlichkeiten, denn sie berühren die Konzeption nur am Rande. Rohrmosers Ausgangspunkt ist die Religion. Mehr als alles andere bereitet ihm die Entchristlichung der deutschen Gesellschaft Sorgen. Gesellschaftliche Moral ohne religiöse Grundlegung vermag er sich nicht vorzustellen. Deshalb bedeutet für ihn der Verlust christlicher Bindung in letzter Konsequenz Anarchie; Anarchie aber führe zu einem neuen Totalitarismus, denn das Bedürfnis der Menschen nach religiöser Bindung sei sogar größer denn je; nur erfülle eben das Christentum dieses Bedürfnis nicht mehr.

Hier stellen sich zwei Fragen, die Rohrmoser beide beantwortet. Die erste ist die nach den Gründen der Entchristlichung. Natürlich nennt Rohrmoser Aufklärung und Moderne, aber das allein genügt ihm nicht. Beide nämlich sieht er an einem Wendepunkt angelangt, da unter anderem durch das Ende des Sozialismus der Glaube an die Planbarkeit menschlichen Lebens erschüttert sei. Ein Grund für die Schwäche der Kirche liege in ihr selbst: Sie präsentiere sich als Serviceunternehmen für die moderne Gesellschaft, vertrete weitgehend keine christlichen Werte mehr, sondern passe sich haltlos an. Viele Theologen mischten sich mit politischen Ratschlägen ein, was christlichem Geist nicht entspreche: Dies spalte die Gemeinden, erschwere damit die Verkündigung des Glaubens. Man mag hier an friedensbewegte Pfarrer denken, an Asylgemeinden für von Abschiebung bedrohte Flüchtlinge. Rohrmoser kritisiert Theologen, die statt einer spezifisch christlichen Wahrheit das Gemeinsame der Weltreligionen hervorheben und nicht Moslems oder Buddhisten als Irrgläubige abtun. Ebenso erniedrige auch ein Neokonservativer wie Hermann Lübbe, der Religion als notwendige Kompensation in der kalten Moderne verteidigte, das Christentum zur Funktion, sehe es nicht als Substanz.

Die zweite Frage ist die nach der Besonderheit des Christentums: Weshalb können nicht auch andere Religionen oder innerweltliche religiöse Bewegungen den neuen Totalitarismus verhindern? Hier stützt sich Rohrmoser insbesondere auf seine Luther- und Hegel-Interpretation von der Trennung von weltlichem und geistlichem Bereich. Das Christentum stelle danach die moralische Grundlage von Politik bereit, sei jedoch nicht selbst Politik. Damit sei die Theokratie einerseits vermieden wie nihilistische Politik andererseits. Auf dieser Grundlage kann Rohrmoser sein Konzept mit Aufklärung und demokratischem Rechtsstaat harmonisieren: Habe besonders die französische, weniger die deutsche Aufklärung sich gegen die Religion durchgesetzt, so bedürfe sie heute - als Schutz vor künftigen Totalitarismen - gerade des Christentums.

Gegen diesen Gedankengang drängen sich nun zwei Einwände auf. Von außen wäre anzumerken, dass die christlichen Kirchen, solange sie eben konnten, wenig Rücksicht auf Rohrmosers Theorie nahmen, sondern soviel Theokratie wie möglich durchzusetzen versuchten und später die "ideologischen, postchristlichen Kriege unseres Jahrhunderts", die Rohrmoser zu sehen meint, predigend begleiteten. Aber vielleicht wäre das ja in der Zukunft anders; dennoch bleibt ein zweiter, immanenter Widerspruch. Auch Rohrmoser begründet den Wert des Christentums aus dessen Nutzen in der gegenwärtigen geschichtlichen Situation; damit funktionalisiert auch er es und vernichtet dessen Substanz ebenso gründlich, wie es die von ihm kritisierten Linken oder Liberalen tun. Wenn auch wohl kaum persönlich, so ist er doch theoretisch Nihilist. Religion dient ihm dazu, die gewünschte Gesellschaft zu legitimieren; insofern ist sein Entwurf geprägt von der säkularisierten Moderne, wenn auch nicht emanzipatorisch.

Was diese Gesellschaft ausmacht, ist wenig originell und mit wenigen Sätzen zu skizzieren. Multikulturalität ist ihm ein Graus. Mit Carl Schmitt verlangt er einen homogenisierten Staat, wobei Rohrmoser die Homogenisierung kulturell, nicht biologisch versteht. Dieser Staat soll nicht lediglich verwalten, sondern Werte setzen. Minderheiten können auf Toleranz rechnen, solange ihre Angehörigen wenige bleiben und sich unterordnen. Rohrmoser freut sich auch, dass die Dimension des Nationalen an Bedeutung gewonnen hat; dem Spannungsverhältnis zum christlichen, also übernationalen Fundament seines "Modernen Konservativismus" geht er nicht nach. Stattdessen Kompromissformeln: "Eine Synthese von Nation und Demokratie kann nur gelingen aus der Kraft und dem Ursprung eines seiner Wahrheit gewissen christlichen Glaubens, dem von neuem einsichtig und dringlich wird, dass ihm auch die Verantwortung für das Schicksal seines Volkes von Gott auferlegt ist." Den Sozialstaat möchte Rohrmoser erhalten wissen, doch deuten Randbemerkungen darauf hin, dass er ihn sich auf deutlich niedrigerem Niveau als in der Gegenwart vorstellt.

Soweit die Hauptlinien der Argumentationen, denen sich nicht alles im Buch fügt. Die Darlegungen zu lesen und zu systematisieren war harte Arbeit, die dem Rezensenten keineswegs immer Freude bereitet hat. Die "geistige Wende", die der Titel fordert, ist auf etwas nachlässige Weise begründet. Rohrmosers Mitarbeiter Michael Grimminger habe frei gehaltene Referate "in der gewohnten sorgfältigen und gelungenen Weise zu einem Buch komponiert". Davon kann leider keine Rede sein. Lästige Doppelungen und Vervielfachungen blähen auf fast 400 Seiten auf, was auf einem Viertel Raum genug gehabt hätte. Abschweifungen, in mündlichem Vortrag sinnvoll illustrierend, zerstören in der Druckfassung den Zusammenhang. Einige der Vorträge scheinen bis in die achtziger, gar siebziger Jahre zurückzureichen und sind unentschlossen aktualisiert: Zum Beispiel muss der Bundeskanzler Schmidt als "ehemaliger" auftreten, ohne dass die Lagebeurteilung von 1977 oder 1978 grundlegend geändert worden wäre. All dies wirkt lieblos zusammengestellt, erscheint in der Furcht vor sinnvoller Kürzung wie ein Kotau vor der Eitelkeit des Referenten, also: unangenehm.

Und kann das Konzept realisiert werden? Hier scheint Rohrmoser im Zweifel. Die CDU ist ihm zu lasch (den dort seit vielen Jahren, vielleicht noch nie mehrheitsfähigen Heiner Geißler lässt er obsessiv als Lieblingsfeind durchs Buch spuken), aber andererseits ermutigt ihn gerade die Hessenwahl von 1999; Distanz gegenüber fremdenfeindlichen Kampagnen scheint seine Sache also nicht zu sein. Insgesamt schwankt die Stimmung von "nicht allzu großer Zuversicht" im Vorwort und der optimistischeren Einschätzung im Schlusskapitel, ein "Protest des Volkes" werde den "Weg einer christlichen Kulturrevolution" bahnen. Der unvermittelte Wechsel zwischen so gegensätzlichen Einschätzungen deutet darauf hin, dass selbst der Autor seine Mahnungen mit der Realität kaum zu verknüpfen vermag; und das ist auch gut so.


Titelbild

Günter Rohrmoser: Geistige Wende.
Olzog Verlag, München 2000.
392 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3789280259

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