Chronisch metaphysisch

Klaus-Erich Kaehler analysiert in seinem Buch „Das Prinzip Subjekt und seine Krisen“ den Hegel’schen Vollrausch und das zwiespältige Erbe einer Denkfigur

Von Thomas EbkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Ebke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer im Bibliothekskatalog einer beliebigen deutschen Hochschule nach dem Schlagwort „Dezentrierung des Subjekts“ recherchiert, wird im Handumdrehen eine Liste von etwa einem Dutzend Büchern erhalten, die diese Formel entweder direkt im Titel tragen oder ihr zumindest in der verschlungenen Logik bibliothekarischer Verschlagwortung zugruppiert sind. Vor allem in den Kulturwissenschaften wird die Überzeugung, wir hätten es allerorten mit der subversiven Zersetzung, der unendlichen Prozessualisierung und radikalen Differentialität jener einstmals (angeblich) so unerschütterlich soliden Institution namens „Subjekt“ zu tun, noch immer so lustvoll vorgetragen wie vor inzwischen gut und gerne 30 Jahren, als auch in hiesigen Oberseminaren, leicht verspätet, das Fieber des „Poststrukturalismus“ zu grassieren begann.

Auch der Kölner Philosoph Klaus-Erich Kaehler stellt in seiner in jeglicher Hinsicht großen Studie „Das Prinzip Subjekt und seine Krisen“ die Diagnose einer solchen „Dezentrierung“ und platziert diese Vokabel sogar im Untertitel seines Buches. Allerdings wird enttäuscht, wer nun eine manierliche Demontage des besagten Prinzips im Stile beispielsweise von Michel Foucault, Jacques Lacan, Jacques Derrida oder Gilles Deleuze erwartet, denn immerhin steht der Begriff der Dezentrierung in Kaehlers Untertitel Seite an Seite neben dem der „Selbstvollendung“, und dieser Terminus ergänzt das ihm komplementäre Konzept zu einem Szenario ganz anderen Typs. Kaehler markiert unter der Perspektive der Dezentrierung eine durchaus andere Bewegung als jene von den genannten französischen Diskursen betriebene Entthronung des sich selber bespiegelnden cogito, und auch deren strategische Bejahung dieses Machtentzugs ist Kaehler vollkommen fremd. Dieser – nicht zuletzt auch (diskurs-) politisch gewollten und abgefeierten – Entthronungsstrategie hält Kaehler entgegen: „Wo immer das Subjekt für verschwindend (oder gar ‚sinnlos‘) gehalten wird, wird seine radikale, restlose, unaufhebbare und unhintergehbare Dezentrierung nicht erkannt und folglich nicht mehr als solche bedacht“.

Um sich Kaehlers Grundanliegens zu vergewissern, ist es also wichtig zu begreifen, inwiefern jene Figur, die Kaehler mit dem Titel „Subjekt“ kennzeichnet, zwar „dezentriert“ sein, nicht aber, wie das berühmte Gesicht im Sand am Meer (Foucault), „verschwinden“ kann. Auf dieser Differenz insistiert Kaehler konsequent, und ausgehend von ihr kann man im Weiteren erhellen, worin sich das, was Kaehler als Subjektstruktur beziehungsweise Subjektivität erläutert, von dem im weitesten Sinne poststrukturalistisch geprägten Standardverständnis unterscheidet. Ganz grundlegend lautet Kaehlers Prämisse, dass das „Subjekt“ seit René Descartes tatsächlich als konstitutives Prinzip philosophischen Denkens eingeführt ist, dass also, anders formuliert, mit der Neuzeit und in exponierter Weise bei Descartes eine spezifische Reflexionsstruktur verbindlich wurde, an der sich genuin philosophisches Wissen seither methodisch ausrichtet. Die zentrale These, mit der Kaehler ansetzt, ist also problemgeschichtlich orientiert: Anstatt die klassischen Positionen der Geschichte der Metaphysik, die für die weitere Genese des von ihm so apostrophierten „Prinzips Subjekt“ einschlägig sein könnten, einer rekurrenten (also von einem heutigen Stand ausgehenden) Evaluation zu unterziehen, kommt es seiner Rekonstruktion darauf an, diese Paradigmen in ihren ursprünglichen Gehalten und ihren internen Ambitionen nach durchzugehen. Allein diese hermeneutische Redlichkeit macht Kaehlers Buch wertvoll: Man kann sich ihm schon deshalb überlassen, weil es fundierte Gesamtübersichten der Philosophien Descartes’, Baruch de Spinozas, Gottfried Wilhelm Leibniz’, John Lockes, George Berkeleys, David Humes und (ausgiebig) der deutschen Idealisten vorträgt und dabei selbst die delikatesten, systematisch kompliziertesten Positionen ebenso niveauvoll wie anschaulich expliziert.

Aber noch einmal: Wodurch definiert sich für Kaehler die durch Descartes inaugurierte und seither bindende Reflexionsform, die als „Prinzip Subjekt“ adressiert werden kann? Genau besehen umspannt die Instanz des Subjekts, als Denkprinzip genommen, zwei Dimensionen: Nämlich neben der Dimension des Selbstbewusstseins [als „bloße(r) Form des Subjekt-Seins“] die Ebene der Selbsterkenntnis, worunter zu verstehen wäre, dass sich diese Instanz „mit dem adäquaten Inhalt erfüllt, d. h. sich durch und für sich selbst realisiert hat. Die Stufen oder Schritte auf dem Weg zu ihrer Vollendung durch das Subjekt sind aber jeweils stets schon Bestimmungen des Ganzen, das noch nicht seine Vollendung, seine adäquate Bestimmung für sich selbst erreicht hat“. Der strukturelle Vollsinn des Subjektkonzepts ist also, folgt man Kaehler, erst dann getroffen, wenn man nicht nur den Umstand bedenkt, dass Descartes die vorgestellten Gehalte an den Vollzug des Vorstellens (soll heißen des Denkens) koppelt. Entscheidend ist hier vielmehr, dass der Vorstellungsakt, der ja ohnehin stets mit einem je spezifischen Gehalt korreliert, seinerseits transparent wird – nämlich für ein Bewusstsein und als ein Vollzug, der vom Bewusstsein selbst vollbracht wird. Kaehler legt Wert darauf, dass als charakteristisch für die Struktur des „Subjekts“ der reflexive Übergang von der Denktätigkeit zum Bewusstsein des Subjekts, überhaupt als denkendes (cogitatio) tätig zu sein, betrachtet wird. Er akzentuiert eine reflexive Dopplung des Subjekts in sich, eine Verschachtelung, wonach sich das Subjekt in seinen Denkvollzügen selbst als Prinzip allen Denkens zeigt.

Diese Gabelung ist für den weiteren Verlauf von Kaehlers Argumentation bedeutungsvoll, denn sie stellt so etwas wie den Stachel dar, der das „Prinzip Subjekt“ zu einer beständigen Weiterbestimmung und Anders-Setzung seiner selbst antreibt. Für Kaehler ist die Geschichte der Metaphysik (seit der Neuzeit) lesbar als fortschreitende Selbstexplikation und methodische Autoreflexion des von Descartes angestoßenen Denkprinzips: Was auf Descartes folgt und was schon seiner eigenen Position ihren Boden entzieht, ist eine Bewegung der fortlaufenden Überbietung der Konfigurationen, in denen sich das Subjekt-Prinzip jeweils artikuliert. So merzt Spinoza das bei Descartes unaufgelöste Dilemma aus, demzufolge das sich im Denken selbst als denkend bestimmende cogito nicht auch als Seiendes aus sich selbst heraus zu begründen vermag. Wo Descartes die ontologische Garantie für die Wahrheit dessen, was die denkende Substanz überhaupt wissen kann, an die Vollkommenheit Gottes knüpft, die eben nicht perfekt sein würde, wenn Gott ein Blender wäre, verlegt Spinoza die res cogitans in die absolute, all-eine Substanz selbst hinein und expliziert sie als nur eines von unendlich vielen Attributen dieser singulären Substanz. Auf diese Weise sprengt Spinoza die Halbheit des cartesischen Subjekts, das sich zwar methodisch konsequent autonomisiert hat, während es sich aber ontologisch mitnichten selber zu tragen vermag.

An dieser Passage vom cartesischen zum spinozistischen System der Metaphysik lässt sich beispielartig das von Kaehler zu Grunde gelegte philosophische Narrativ veranschaulichen. Problemgenetisch zeichnet Kaehler eine Dialektik fortlaufender Selbstrealisierung des „Prinzips Subjekt“ auf, wobei sich diese Selbstrealisierung eben nicht anders als im Modus der Selbstnegierung vollzieht. Immer wieder neu und immer anders konfiguriert sich das Subjektprinzip, und dabei depotenziert es, wenn es in einem neuen Paradigma auftritt, stets genau jene seiner Gestaltungen, die in der je voraufgehenden Formation epochal war. Und diese Rastlosigkeit ist, wie man festhalten muss, der Grundstruktur des sich selber denkenden Subjekts selbst eingeschrieben: Denn es „ist“ nur, indem es sich generiert, was wiederum nur über eine ursprüngliche Unterscheidung und Negation geschehen kann.

Sehr kunstvoll und plausibel entwickelt Kaehler nun drei metaphysische „Krisen“, in die sich das von ihm geschilderte Paradigma verstrickt hat und aus denen es sich nur dank grundstürzender kritischer Revolutionen wieder befreien konnte: Aus dem Zirkel, dass sich die „methodisch-immanente Selbsterkenntnis des Vernunft-Subjekts“ fortwährend verdoppelt in eine sich ihm entziehende „metaphysisch verobjektivierte Vollendungsgestalt seines eigenen Vermögens“ [das ist die erste Krise, TE], bahnt erst Immanuel Kant einen Weg. Doch Kant, der die Lösung für die erste kritische Lage in der Verendlichung des Subjekts zum „Prinzip transzendentalen Wissens“ fand und dessen konstituierende Verklammerung mit der göttlichen Vernunft aufkündigte, scheitert an der Frage danach, wie sich „das Bezogensein des Subjekts auf ein Anderes seiner selbst doch auf irgend eine Weise aus ihm selbst begreifen“ lassen soll. Um diese zweite Krise des „Prinzips Subjekt“ zu entschärfen, treten erst Fichte und dann insbesondere Hegel auf, die Kants implizites Axiom einer „reale[n] Modifikation“ des in reinen Formen anschauenden und denkenden Subjekts durch ein affizierendes Objekt ausräumen. Gegenüber Fichtes erstem Schub, „[d]as Subjekt oder wirkliche Ich […] als das wahre und konsequent durchgeführte Prinzip des Bewusstseins“ zu fundieren, dringt Hegel schließlich zu einer Philosophie vor, die den „Gegensatz des Bewusstseins“ zuletzt abstreift und „die Immanenz des absoluten Wissens, das in seinem Gedachten sich selbst bestimmt“, denkt. Hegel überführt das Subjektprinzip, indem er es bis ins Äußerste entfaltet, in das Bild des sich selber explizierenden, negierenden und mit sich vermittelnden Seins: In seiner nicht weiter zu steigernden Selbstvollendung koinzidiert das Subjekt also mit dem, worin es sich auflöst, nämlich dem absoluten Wissen beziehungsweise der vollendeten Idee.

Mit dieser von Hegel einsichtig gemachten finalen Identität von absolutem Subjekt (der Metaphysik) und sich selbst vollbringender absoluter Idee bricht die dritte Krise auf, die Kaehler darlegt, nämlich die „endogene Krisis“ des Subjekts. Denn so sehr in Hegels „Wissenschaft der Logik“ das Subjekt sich als die sich selber reflexiv durchlaufende Totalität alles Wirklichen vollendet, so sehr konstituiert sich diese Totalität stets nur als „das Ganze des nach immanentem Maßstab Begreifbaren“. Der exorbitante Preis für die konsequent zu Ende geführte Einheit von Selbst und Sein ist das Aus-dem-Raster-Fallen einer schier „endlose[n], weil der Ganzheit entbehrende[n] Mannigfalt ‚unwahrer‘ Existenzen und Qualitäten“. Weil auch Hegels maximierte Metaphysik des Subjekts nicht umhin kann, irgendeinen (bestimmten) Modus zu veranschlagen, in dem sich die Selbstvollendung des Subjekts zu vollziehen vermag, reproduziert sich auch noch auf dieser Höhe das Moment des transzendenten „Andere[n] zum Subjekt“, das bereits die Ontologie von Descartes irritierte. Genau hier kristallisiert sich der Sinn dessen, was Kaehler mit der „Dezentrierung des Subjekts“ meint: Das Subjekt ist und bleibt auch nach (dem Ende) der Hegel’schen Metaphysik der Versöhnung ein sich von sich unterscheidendes, sich gegen ein ursprünglich Anderes, das seinerseits jedoch überhaupt nur „durchgängig mit ihm zusammen da ist“, bestimmendes Prinzip.

So lehrreich Kaehlers groß angelegte Studie auch ist: Philosophisch bleiben hier und da Fragezeichen. Gewiss ist Kaehlers Verständnisweise von der „Dezentrierung des Subjekts“ erfrischend, weil sie, anders als die gleichnamige kulturwissenschaftliche Phrase, der es zwar nicht an suggestivem Glamour, aber notorisch an philosophischem Problembewusstsein mangelt, eine in der Tat hochstufige These, worum es sich bei besagter „Dezentrierung“ eigentlich handeln könnte, zu bieten hat. Kaehler proklamiert nicht bequem, wie heute üblich, das vermeintliche Versagen der klassischen metaphysischen Konzeptionen; vielmehr buchstabiert er umgekehrt das Paradox aus, dass eine solche „These“ – die nicht zufällig in aller Regel mit einer gewissen Erleichterung darüber vorgebracht wird, sich die erheblichen Denkanstrengungen der notwendigen Lektüre vom Leibe gehalten zu haben – nie gegen das Hegel’sche System, sondern stets nur als ein diesem System bereits internes Vermittlungsresultat ins Feld geführt werden kann.

Ganz abgesehen von dem vorzüglichen Niveau des Buches erhebt sich allerdings die Frage, inwieweit Kaehlers Ausgang von einem „Prinzip Subjekt“ ein zwingendes Szenario ist. Es wäre ein Leichtes, den von ihm vorgeschlagenen Leitfaden zu Gunsten etwa eines „Prinzips Substanz“ umzukehren, demgegenüber das cartesische Paradigma und seine Widergänger (bis hinein in die Phänomenologie) als halbherzige subjektphilosophische Ausbrüche erscheinen könnten, die letztlich ihrerseits und unter der Hand substanzmetaphysisch geblieben wären. Ohnehin hatte Foucault einmal bemerkt, dass seit Kants „Kritik der Urteilskraft“ und Hegels „Phänomenologie des Geistes“ nicht länger der Bezug zwischen Subjekt und Wahrheit, sondern der Zusammenhang zwischen Leben und Rationalität auf dem Spiel stehe, was sich epistemologisch im 20. Jahrhundert eindringlich gezeigt habe. Kaehlers Rekonstruktion einer metaphysischen Subjektivität, die den Charakter einer seit Descartes bis in die Gegenwart zwar transformierten, aber konstanten Denkstruktur hätte, wirkt, nicht zuletzt auch an einer solchen Diagnose gemessen, eher artifiziell.

Ein weiteres Problem besteht auch in dem Dualismus, der Kaehlers Auffassung von „Dezentrierung“ als einer Stellung des Subjekts zwischen absoluter Selbstmacht und absoluter Entgrenzung in „das Andere“ heimsucht – ein Dualismus, gegen den nachmetaphysische Mediatisierungen der Individuierung, Pluralisierung und Naturalisierung empfohlen werden. Kaehler lässt sich in diesem Zug seiner Argumentation von einem merkwürdigen Scheinproblem leiten: Der Sturz in die Innerlichkeit und bodenlose Selbstmacht des Ich beziehungsweise dessen heillose Selbstauflösung in den Externalismus erscheinen als die überzeichneten Enden jener Gegenstellung, die er seiner eigenen Problemgeschichte der Metaphysik methodisch unterlegt hatte. Was aber, wenn man phänomenologisch weder von der Überzentrierung noch dem Selbstverlust ausgeht, sondern von Anfang an eine exzentrische Positionalität (Plessner) des Menschen akzeptiert, von der aus dann im konkreten Verhalten Re-und Dezentrierungen erfolgen?

Kaehler kommt am Ende seines Textes gewissermaßen in der Leere und beim Transzendenzproblem eines quasi-cartesischen cogito wieder an, so als hätte es die Wende zur Weltlichkeit (vom späten Husserl über Heidegger und weiter bis zur Gegenwart), die in Kaehlers Untersuchung denn auch undiskutiert bleibt, nie gegeben. Trotz dieser Anfragen an das Buch, die eher dessen Peripherie als die Kernpunkte tangieren, bleibt „Das Prinzip und seine Krisen“ ein packender, vielschichtiger und kenntnisreicher Versuch über die Grundfeste des philosophischen Denkens seit der Neuzeit.

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Klaus E. Kaehler: Das Prinzip Subjekt und seine Krisen. Selbstvollendung und Dezentrierung.
Verlag Karl Alber, Freiburg 2010.
844 Seiten, 79,00 EUR.
ISBN-13: 9783495483381

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