Eine Art Indien

Ein Hausbesuch bei Ernst Augustin

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das „Ungeheuer von Neuhausen“ (Augustin über Augustin) hat sich in einer Baulücke wohnlich eingerichtet. Man steigt am Rotkreuzplatz aus der U-Bahn und wendet sich nach links oder nach rechts – es ist eigentlich egal. Geht man beim schwarzledernen Shoeshine-Boy links, dann muss man sich am Ende der Ruffinistraße rechts halten, geht man erst rechts, so wird man durch die Volkartstraße geführt, an deren Ende ein großer, weißhaariger Chinese mit gewaltiger Bauchbinde steht. Um uns den Weg zu weisen. Man kann auch die alte Dame, die mit ihrem Rollator gerade einen Fahrradrowdy zur Strecke gebracht hat, nach dem Atelier Fajngold fragen, wo Inge Kalanke ihre neuesten Bilder ausstellt – quasi unterm selben Dach.

Der Hausherr erwartet uns auf der Galerie im zweiten Stock. Er ähnelt dem Chinesen, der uns eben noch auf der Straße zugewunken hat – ähnlich könnte aber auch der alte Goethe ausgesehen haben (aber Augustin ist größer).

Ein Hausbesuch ist hier wichtig, denn Autor und Werk repräsentieren gelebte Architektur. In Hirschberg 1927 geboren, in Schwerin aufgewachsen, studierte Ernst Augustin nach dem Krieg im völlig zerstörten Rostock Medizin. Hier bestand Gelegenheit, eine alte Hansestadt gedanklich völlig neu aufzuführen, von den Grundmauern hinauf in die würzige Ostseeluft. Was Augustin auch tat: Die Lange Straße entstand in kollektiver Eigenleistung und verband das Art Deco-Hafte der 1920er-Jahre mit hansegotischen Stilelementen. Die nächsten Stationen sind dann schon Ost-Berlin, die Doktorarbeit und drei Jahre als Assistenzarzt an der Nervenklinik der Charité.

Wenn Ernst Augustin erzählt, wird Zeitgeschichte erlebbar. Die jugendliche Unbeschwertheit des Medizinstudiums, das regelmäßige Tanzvergnügen in Warnemünde, die quirlige Malerin, die bald nicht mehr von seiner Seite weicht – und noch heute seine Buchumschläge gestaltet.

In der noch jungen DDR war es schnell eng und miefig geworden. Und so nahm Augustin das Angebot an, ein Krankenhaus in Afghanistan zu leiten. Kandahar ist die erste exotische Station des weitgereisten Autors, die nächste wird München sein, „eine Art Indien“, wie es in Augustins Roman „Raumlicht“ (1976) heißt. Nur hier kann man dauerhaft leben. Das Haus in New Orleans hat Augustin noch vor der Verwüstung durch ‚Katrina‘ verkauft; das Kapitänshäuschen in London hingegen ist mittlerweile ein Vermögen wert – in seinem Roman „Eastend“ (1982) hat er es genau beschrieben.

Nun aber München. Hier arbeitete Augustin ein Jahr als Stationsarzt an der Uni-Nervenklinik in der Nußbaumstraße, hier machte er sich als psychiatrischer Gutachter selbständig, hier erschien 1962 bei Piper sein erster Roman „Der Kopf“, der mit dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet wurde. Hier wurden ihm 1996 der Tukan-Preis und 1999 der Literaturpreis der Stadt zugesprochen, hier betreuen seit 2002 die Verlage C. H. Beck und DTV sein Gesamtwerk.

Das schmale Haus, hoch und steil zwischen zwei Brandmauern gesetzt, ist von außen gar nicht zu erkennen. Kaum ein Handtuch breit, bietet es viel Raum nach oben und in die Tiefe. Eindringlinge haben hier keine Chance – das Türschloss dreht sich mit, die Brechstange findet keinen Halt. Wer über die Dächer kommt, nimmt als erstes ein unfreiwilliges Bad im Pool, der den Himmel widerspiegelt und fast die gesamte Dachterrasse ausfüllt – um dann durch die Palmenwand auf den Sandstrand geführt und nach unten gestürzt zu werden, wo schon die hungrigen Krokodile das Maul aufsperren. In aller Freundschaft.

Der Autor und seine Frau, die Malerin, haben sich das abenteuerlichste Haus geschaffen, das überhaupt denkbar ist. Man bekommt eine Ahnung davon, wenn man seinen Roman „Gutes Geld“ (1996) liest. In liebevoller, geduldiger, eine ganze Epoche währender Heimarbeit wurde jeder Raum zum Erlebnis gestaltet. Alle Wände im aufwendigen und dekorativen Trompe-l’oil. Ein Schlafzimmer im Stile einer italienischen Loggia; eines als Abteilwagen der Transsibirischen Eisenbahn. Der New Yorker Wyman Tower wurde aus Legosteinen nachgebaut und steht direkt neben der Pariser Oper. Durch das Bay Window schaut man auf die Frundsberg- oder die Orffstraße. In der Ecke die Cocktail-Bar, im Keller die Diskothek, wo Salsa getanzt und selbstgebrautes Bier des Münchner Oberbürgermeisters ausgeschenkt wird. Bei Augustins gehen die Reichen, Schönen und Mächtigen ein und aus. Einzige Bedingung: Sie müssen in Verkleidung kommen. Sie sitzen dann als Käpt’n Ahab in der Kombüse (zweiter Stock) oder als Marlene Dietrich in der englischen Bibliothek mit dem Muldengewölbe aus eigens angerührtem Gips (erster Stock). Der Shoeshine-Boy, der eben noch am Rotkreuzplatz den exquisiten Berluti-Schuh von Christian Kracht poliert hat, serviert jetzt die Drinks, und der Rollator, der im Eingangsbereich steht, kommt uns auch irgendwie bekannt vor.

Der Autor liebt es bunt, denn er ist seit drei Jahren blind. Nahezu. Ein gutartiger(!) Tumor im Gehirn musste entfernt werden – und dies geschah durch die Stirn und auf Kosten der Sehnerven. Auch die Hormone gerieten aus dem Gleichgewicht: Schlaganfall. Kurzerhand hat Augustin seine Welt nach innen verlegt, wo es ohnehin wohnlicher ist, und hat als sein mittlerweile dreizehntes Buch eine Robinsonade der Innenwelt der Außenwelt verfasst. Der Shoeshine-Boy heißt hier Freitag und strahlt über beide Pobacken.

Der Roman, der im März auf Platz eins der „Bestenliste“ steht, erzählt davon, wie man sich in der Welt einrichtet, wie man sein Haus bestellt und wie man es ausstattet. Mit Erinnerungen und Kindheitslektüren nämlich, mit einem gelebten Leben zwischen Boulder City, Hongkong, Skull Island und Mittelamerika. Orte der Seele, die Augustin bereiste, indem er (überwiegend) dort war. Wenn man versteht, was Anschauung bedeutet. Welten, die er nun in seinen neuesten Roman hineingeholt hat, um einen weltmännischen Robinson zu erzählen, der sich auf der Flucht befindet.

Einer der zahllosen Aufenthaltsorte Robinsons ist auch die Südsee – vielleicht jenes weit aufgespannte „Blaue Haus“, von dem der Romantitel spricht. Vielleicht ist es aber auch jene abenteuerlich verspiegelte Haube eines Wolkenkratzers, die sich der Erzähler von einem Architekten in New York bauen lassen will. Die Erlebnisräume des Münchener Hauses, aus der Welt hereingeholt, werden hier quasi wieder nach draußen getragen: „Der Sinn des Lebens, erklärte ich einst meinem Freund, besteht aus nichts anderem als dem fortgesetzten Bemühen, sich wohnlich einzurichten.“ Dies geht am besten im Verborgenen, wie schon die Alten wussten („lathe biosas“). „Wohnen auf engstem Raum“, aber komfortabel – und fast wie nicht vorhanden. Ein von außen unsichtbarer Wohnsafe von der Größe eines Zugabteils – sogar mit Gleisanschluss. Baugleich in Las Vegas oder in Lüttich.

Der letzte Robinson ist ein Verwandlungskünstler, mal hier mal dort unterwegs, weitgehend unscheinbar, eine Aura von Mittelmaß und Unerheblichkeit verbreitend: War da wer oder was? Ein Lebenskünstler, der überall zuhause ist und nirgendwo angetroffen werden kann – George Cloony hat diesen Typus in „Up in the Air“ dargestellt. Dennoch läuft etwas schief, man ist ihm auf den Fersen, ein Vierschröter und ein langer Dünner – scherzhaft die „Brüder Karamasow“ genannt. Einmal hatten sie ihn schon am Wickel und brutal niedergeknüppelt, als ein Schwall Uniformierter die Treppe hinuntergestürmt kam und sie ihn laufen lassen mussten: „In einer früheren, ferneren Version dieser Geschichte sagt Daniel Defoe, er habe eines der unglaublichsten und abenteuerlichsten Leben gelebt. Ich sage: Ich auch.“

Auf zwei Dinge kommt es im Leben an – auf die Liebe und das Geld. Beides ist unverzichtbar, beides birgt aber auch Gefahren. Das Geld führt unweigerlich auf die Spur seines Besitzers, und die Liebe tendiert zum Verrat. Unser Robinson lebt unter wechselnden Identitäten, und er ist seinen Verfolgern (fast) immer einen Schritt voraus. Gleichzeitig ist er auf der Suche – „er sucht ihn“, Freitag nämlich, das schönere als das perfektere Alter ego? Der einsame Robinson lebt ohne Frau und Familie in dieser Welt, doch hat er einen Freund, eigens erschaffen, diese Geschichte zu beglaubigen. Der delikaten Beschreibung Freitags folgt die Frage: „Bin ich nun schwul?“

„Robinsons blaues Haus“ ist als Schluss-Stein eines ganzen Œuvres angelegt und als eine Art Autobiografie zu lesen, die sich aus den Lebensstationen, den eigenen Büchern und den durchlebten literarischen Erfahrungen zusammensetzt. Der trostlose Rückzugsraum Grevesmühlen beispielsweise ist eine DDR-Reminiszenz: Ein Geruch von Kohlenstaub und eine Bahnmeisterei, die wie ein großer roter Schwamm aussieht, machen ihn aus – „ein Selbstmord wäre hier verständlich“. Er ist aber gar nicht notwendig, denn der Tod kommt ohnehin. Ernst Augustin denkt ihn sich als kleinen, freundlichen Herrn, der immer mal wieder unsere Wege kreuzt und sich – sehr verbindlich und zuverlässig – am Ende bei uns einfindet, wir mögen uns aufhalten, wo wir wollen.

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Ernst Augustin: Romane und Erzählungen. Acht Bände in Kassette.
Jubiläumsausgabe zum 80. Geburtstag in 8 Bänden.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
2546 Seiten, 78,00 EUR.
ISBN-13: 9783406564918

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Titelbild

Ernst Augustin: Robinsons blaues Haus. Roman.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
319 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406629969

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