Alte Paare, neue Passanten

Thomas Hürlimann montiert aus der Prosa von Botho Strauß ein kunstvolles Buch

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Ursprungsszene hat es in sich. Zum 60-jährigen Jubiläum seiner Zeitschrift „Sinn und Form“ lud der Chefredakteur Sebastian Kleinschmidt im Dezember 2010 zu einem Symposium über die „Metaphysik der Schlaflosigkeit“ in die Berliner Akademie der Künste. Auf dem Podium saß – nein, nicht Botho Strauß, der seinerzeit die Büchnerpreisrede verlesen ließ und ohnehin als Person für die Medienöffentlichkeit so gut wie unsichtbar ist –, sondern der Schriftsteller Thomas Hürlimann, neben ihm der Verleger Michael Krüger, nach einem Überseeflug 48 Stunden ohne Schlaf, aber wach genug, um zu fragen, ob er, Hürlimann, nicht Lust habe, einen Sammelband mit erzählenden Passagen von Botho Strauß zusammenzustellen.

Das Ergebnis liegt nun vor: Ein stattlicher Band mit kürzerer, geschlossener oder aus einem größeren Zusammenhang herausgetrennter Prosa, in die der Leser am besten von hinten, mit dem Nachwort des Herausgebers einsteigt. Es trägt den Titel „Der Riß wird zur Fuge“ und kommentiert aufs Genaueste die von Anbeginn an faszinierende, nur wenige Male aus dem Ruder laufende Kunst von Strauß, in den Entzweiungen postmoderner Paare Fügungen aufblitzen zu lassen, die glückhaft oder tragisch, schön oder erschütternd oder einfach erhellend sind.

Damit beantwortet Hürlimann auch die Frage, ob man überhaupt ein so breit aufgestelltes episches Werk wie eine Orange aufschälen darf und die Scheiben zu einer neuen Ordnung fügen darf. Man darf, und zwar aus zwei Gründen: Erstens kann der Leser allerlei rote Fäden zwischen den erzählenden Passagen entdecken, die aus den Werken „Der junge Mann“ (1984), „Niemand anderes“ (1987), „Kongreß. Die Kette der Demütigungen“ (1989), „Wohnen Dämmern Lügen“ (1994), „Das Partikular“ (2000), „Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich“ (2003), „Mikado“ (2006) und „Vom Aufenthalt“ (2009) stammen.

„Sie/Er“ ist die epische Keimzelle des Strauß’schen Œuvres. In den 1990er-Jahren schrieb er: „Mit Aristoteles und dem Papst bin ich der Überzeugung, daß das Paar jeder weiteren Gemeinschaft vorgeht. Es ist sogar der einzige Inhalt meines Schreibens, daß das Paar vor dem Staat, der Gesellschaft und jeder sonstigen Ordnung steht. Von ihm leiten sich alle sozialen Elementarien ab, nicht zuletzt das der Entzweiung“.

Paarungen zwischen Mann und Frau bilden das Grundgerüst des Erzähl-Plots der Geschichten. Die Figuren sind zermürbte Liebesbankrotteure und „Kleingläubige der Liebe“, Opfer von Seelenintrigen oder falschen Vorstellungen, arme Angeber und einsame Mütter, aber auch Versöhner und Verwöhner; es gibt Paare auf verlorenem Posten und solche, die nolens volens einen Pakt erfüllen. Immer aber geht es dem „Mythensucher und Wahrheitsfinder“ Botho Strauß (Volker Weidermann) dabei um den Zusammenhang der kleinen Paartragödie mit der „großen Geschichte des menschlichen Unglücks“, um das, was eine Geschichte „Verkennung“ nennt: Eine Frau läuft nach einem Ehekrach durch die Felder, sie dreht sich um, glaubt ihren Mann zu erkennen – und trifft auf den Erzähler, dem sie sich anvertraut bis zum gegenseitigen Bitten um Verzeihung: Das Spiel wird Ernst in einer innigen Geste des Abschieds: „Ihre Hände umgriffen meinen Nacken, wir küssten uns und gingen auseinander.“

Für den Leser ist das lehrreich und erschreckend schön. Und manchmal gar nicht leicht zu verstehen, denn der Autor setzt bekanntermaßen aufs Entziffern statt aufs Interpretieren. Eine kleine Hilfestellung kommt immerhin von der „Buchfee“ Hermetia, mit der die Sammlung aufwartet und schließt. Dieser „Plaggeist im Buch“ sitzt dem Leser im Nacken, fordert sein Verstehen und sein Mitfühlen heraus. Hermetia erinnert uns an die Macht der Liebe, die trennt und vereint, und sie verrät ein Geheimnis des Buches: Das Buch ist „das einzige Wesen, vor dem der heutige Mensch noch den Blick niederschlägt“.

Titelbild

Botho Strauß: Sie/Er. Erzählungen.
Ausgewählt von Thomas Hürlimann.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
320 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446238657

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