Plädoyer für ein naturalistisches Menschenbild

Über Dieter E. Zimmers Buch „Ist Intelligenz erblich?“

Von Norbert KugeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Kuge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch immer ist „Intelligenz“ einer der umstrittensten Begriffe in Didaktik, Pädagogik und Politik. Und ebenso umstritten ist die Brauchbarkeit von Intelligenztests. Dieter E. Zimmer, erfolgreicher Wissenschaftsjournalist, unter anderem Herausgeber der Werke von Vladimir Nabokov, beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren mit dem Thema der Intelligenz. Hatte er noch in den 1980er-Jahren mit seinen Thesen, dass Intelligenz weitgehend erblich sei, großen Widerspruch erfahren, hat seine letzte Publikation vor 15 Jahren kaum noch die Gemüter erregt. Dies tat aber die bekannte Debatte um die Thesen Thilo Sarrazins, in denen es bekanntlich auch um die Intelligenz von Gruppen ging. Insbesondere die Äußerungen der Führung der SPD, die eine Erblichkeit der Intelligenz als rassistischen Unsinn verneinten, haben Dieter E. Zimmer dazu veranlasst, dieses Buch zu schreiben, was ausdrücklich im Untertitel als Klarstellung deklariert wird. Denn viele Politiker und Sozialwissenschaftler haben in der Mitte des 20. Jahrhunderts postuliert: „ die unterschiedlichen intellektuellen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften der Menschen könnten und dürften niemals mit ihren Erbanlagen zu tun haben.“

Andererseits widerspricht es aber jeder Alltagserfahrung und Lebenserfahrung, dass alle Menschen gleich begabt seien. Um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen. Er bejaht seine im Titel des Buches gestellte Frage und belegt dies mit den vorliegenden, sehr umfangreichen und umfassenden Studien zur Erblichkeit der Intelligenz. Vor allem die Studien zur Zwillingsforschung belegen dies eindeutig. Man hat eineiige, genetisch also identische Zwillinge, die nach der Geburt getrennt wurden und dann in unterschiedlichen sozialen Umwelten aufwuchsen, auf ihre kognitiven Fähigkeiten untersucht. Um Fehler und Verzerrungen auszuschließen, suchte man nach Zwillingen, die unmittelbar oder ganz kurz nach der Geburt getrennt wurden und deren Tests beziehungsweise. Befragungen noch nicht lange zurücklagen. Alle Ergebnisse bewiesen nach Zimmer nur eins: Es gibt eine eindeutige Korrelation der Intelligenz zwischen eineiigen Zwillingen, und sie verhält sich signifikant zu den Ergebnissen mit zweieiigen Zwillingen oder mit Geschwisterkindern. Umwelteinflüsse oder gemeinsame Erziehung können die Ergebnisse der kognitiven Leistungen nur wenig verbessern.

Auch hier führt Zimmer eine große Anzahl von Studien und deren Ergebnisse an und problematisiert durchaus auch die Schwierigkeit, zu validen Ergebnissen zu kommen. Ihm geht es vor allem um Klarheit der Begriffe und Aussagen. So empfiehlt er, „das, was IQ-Tests messen, nicht schlichtweg als ;Intelligenz‘ zu bezeichnen, sondern genauer als ,biometrische‘ oder ,gemessene‘ oder ,messbare‘ oder ,analytische‘ oder ,abstrakte Intelligenz‘. Wo klar ist, dass ebendies gemeint ist, mag das pedantische Attribut ruhig entfallen. Auch macht er deutlich, dass es möglicherweise in Zukunft eine bessere Konstruktion geben könne, dann müsse man die heutige Definition eben aufgeben. Bis dahin aber zählen für ihn die Fakten aus den zahlreichen Untersuchungen und Erhebungen. Wenn es eine Erblichkeit von circa 75 Prozent gibt, was bedeutet das? Es bedeutet, dass die Unterschiede zwischen den Menschen zu 75 Prozent auf unterschiedlichen Genen, genauer, Allelen, beruhen und keineswegs, „dass der Mensch von seinen durchschnittlich 100 IQ-Punkten zu 75 Prozent den Genen und zu 25 Prozent der Umwelt verdankt.“

Die Erblichkeit ist eine Messung an Kollektiven, nicht am einzelnen Individuum. Auch determinieren auf der Ebene des Individuums die Gene keinen festen IQ, sondern stellen ein Potenzial bereit. Weiter muss festgehalten werden, entgegen der Behauptung Sarrazins, dass in allen Menschenpopulationen alle Begabungsniveaus vorkommen und man dürfe auf keinen Fall den einzelnen Menschen auf Grund des Gruppendurchschnitts beurteilen, sondern nur als Individuum. Wenn dies Herr Sarrazin akzeptieren würde, käme er nicht zu seinen teilweise abstrusen Thesen hinsichtlich der minderen Intelligenz von türkischen Einwanderern.

Zimmer gibt auch den aktuellen und nicht immer einfachen Stand der psychologischen Forschung hinsichtlich der Individualumwelten wieder. Denn es ist einerseits so, dass sich genetisch gleiche Kinder manchmal unterschiedlich entwickeln, Adoptivkinder sich den anderen Kindern der Familie angleichen. Ein weiterer, vielfach belegter Zusammenhang besteht zwischen der gemessenen Intelligenz und dem Berufserfolg, obwohl Intelligenz diesen nicht vollständig bestimmt. Aber selbst diese Erkenntnisse werden von einigen Pädagogen und Sozialwissenschaftlern immer noch bestritten. Natürlich führen zum Berufserfolg nicht die Intelligenz allein, sondern auch Motivation, Gewissenhaftigkeit, Ausdauer, Ehrgeiz, Beziehungen und Zufall.

Es würde zu weit führen, hier alle einzelnen Punkte der breiten Forschungen zur Intelligenzproblematik anzuführen. Interessant sind jedoch die Folgerungen, die Zimmer aus den Erkenntnissen der Intelligenzforschung zieht. So kommt er zu dem für viele wahrscheinlich ketzerischen Urteil, dass die Einheitsschule niemanden intelligenter mache. Aber es sei für die Pädagogik und Politik andererseits nicht schwer, die Ergebnisse der Intelligenzforschung zu akzeptieren, denn sie setze ja kein anderes Ziel voraus als das, was auch jetzt schon gelte, dass nämlich die individuellen Potentiale möglichst vollständig ausgeschöpft werden sollten.

Nun mag man einwenden, dass dies eben in bestimmten Schulformen besser gelinge als in anderen, aber dies ist nicht Zimmers Thema. Dagegen ist er auch sehr skeptisch, was die Förderungs- und Kompensationsmöglichkeiten der Individuen betrifft. Hier sieht er engere Grenzen als zum Beispiel Gerhard Roth in seinem Buch „Bildung braucht Persönlichkeit“. Dieser zeigt nämlich auf, dass, wenn man den durchschnittlichen IQ nur um 10-15 Punkte durch Förderung anheben könnte, man sofort im Bereich des Niveaus von Abiturienten liegen würde, entsprechend negative Auswirkungen ergäben sich dann, wenn jemand durch geringe Ausschöpfung des Potentials um 15 Punkte nach unten abwiche.

Eine weitere wichtige Erkenntnis besagt, dass der ausgereifte IQ stabil sei, jedoch gelte dies nur für einen begrenzten Zeitraum von ein paar Jahren, die biometrische Intelligenz altere nämlich. Zwar erst langsam, aber dann ab dem 60. Lebensjahr doch merklich, ab dem 74. Lebensjahr beschleunigt sich jedoch der Niedergang. Ein anderes bemerkenswertes Ergebnis ist der sogenannte Flynn-Effekt. Dieser besagt, dass im 20. Jahrhundert jede Generation diesem Effekt einen IQ-Anstieg um etwa sieben Punkte verdankt. Daher müssen für Gruppenmessungen die Durchschnittswerte nachjustiert werden. In seinem Fazit zeigt Zimmer ein scheinbares Paradox auf, das aber keines ist: „ Je gleicher die Menschen behandelt werden, um so sichtbarer treten ihre genetischen Unterschiede hervor. Sein Resümee aus seinen Erkenntnissen gipfelt denn auch in dem Satz: „Ich glaube, ein naturalistisches Menschenbild ist nicht nur das ehrlichere, sondern letztlich auch das menschenfreundlichere, weil es den Menschen nicht mehr abverlangt, als das Mögliche.“ Es wäre nur zu wünschen, dass die Erkenntnisse und Ergebnisse dieses Buches bei künftigen Diskussionen über die Erblichkeit von Intelligenz zu einer Versachlichung der Debatte beitrügen.

Titelbild

Dieter E. Zimmer: Ist Intelligenz erblich? Eine Klarstellung.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2012.
320 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783498076672

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch