Vom Frieren und Frösteln der Seele

Die Autobiographie des sorbischen Schriftstellers Jurij Brezan

Von Mareile AhrndtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mareile Ahrndt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Und manchmal fehlen Anmerkungen. Denn die Zeiten sind zu anders, die Leser sind zu unterschiedlich geworden - Hinweise zu DDR- und Sowjetpersonal wären nötig. In "Ohne Paß und Zoll" nämlich erinnert sich jemand an längst zum Teufel Gejagtes. Mehr sogar: Er will sich auch erinnern.

Jurij Brezan ist über achtzig Jahre. Seit er denken kann, ist er Schriftsteller und durfte es auch sein. Davon handeln seine autobiographischen Aufzeichnungen, die wie ein zweiter Band seines Buches "Mein Stück Zeit", 1989 erstmals veröffentlicht, wirken. Hatte er dort Nazizeit und Krieg geschildert, ist er jetzt Bürger der DDR. "Ich habe wenig von der Welt gesehen, aber Welt ist nicht das Leben, sie ist nur sein Ort", beschreibt er seinen Versuch, die natürliche Ordnung zu erklären, in der sich die Menschen in der vergangenen Wirklichkeit zurechtfanden.

Natürlich kann man das Buch daraufhin lesen, wie es die DDR abbildet und wieviel davon aus heutiger Sicht schlimme Verharmlosung ist. Die Welt des Jurij Brezan war nämlich gar nicht so klein wie die der vielen anderen; privilegiert als ausreichend konformer Schriftsteller, später im offiziellen Verband, reiste er viel "Gen Osten" und viel "Gen Westen". Hinter diesen Kapitelüberschriften verbirgt sich nicht das bewegliche Gefühl des Unterwegsseins, sondern das statische eigene Bild, das Brezan sich zu machen vergönnt war. In Moskau trifft er auf Dürrenmatt, in Franken auf den ideologisch verblendeten Schuldirektor, im Petersdom auf die Madonna mit dem toten Sohn auf dem Schoß.

Und das ist dann die andere Möglichkeit zu lesen: Sich aus Zeit und Ort herauszuhebeln, sie als Beiwerk zu nehmen wie bei einer hundert Jahre alten, in einem anderen Land stattfindenden Autobiographie. Brezan erzählt davon, wie er zur Beruhigung seiner kleinen Schwestern Geschichten erfindet, wie er seinem Sohn erdachte Abenteuer mit Zeichnungen illustriert, wie ihm seine Bücher zuwachsen. Er erzählt, wie das Leben selber ihm wegrinnt, wie fremd ihm die sterbende Mutter ist, wie wenig er den Tod der Frau als Schicksal hinnehmen kann und wie er wort- und fassungslos vor dem Verlust des Sohnes steht. Brezan weiß den Rückblick lebendig und unsentimental zu schreiben, aber Vorboten seiner Trauer brechen immer wieder hervor. Daher die Madonna.

Seine Sprache paßt sowohl zu der Sparsamkeit an Emotionen als auch zu den düsteren Ahnungen: altertümliche Ausdrücke wie 'selbdritt', unaufgeregte Sätze, die Ruhe gebieten, und Brezans stilistische Antwort auf das, was ihm widerfährt - das häufige Frieren und Frösteln in der Seele.

"Ohne Paß und Zoll" bietet es also, das Lesen jenseits aktueller Diskussionen. Schwer wird es an den Stellen, an denen Brezans Menschenbild Vereinnahmung durchschimmern läßt. Da ist dann nicht sofort nachvollziehbar, warum Brezan von Scholochow enttäuscht ist oder von Stefan Heym begeistert. Da traut man dem Bild der glücklich ackernden bulgarischen Bauern nicht über den Weg und wird unduldsam mit der Kategorisierung der Menschen, die in der gefräßigen Marktwirtschaft leben. Daß auch sie sich vielleicht bemühen, eine eigene Nische zu finden, wäre eine bereichernde Erkenntnis gerade in diesem östwestlichen Buch.

Aber in jener Nische, dem windgeschützten Winkel zum Überleben, ist in Brezans Welt wohl schon zuviel Gedrängel. Jurij Brezan ist Sorbe. Damit gehört er einem Volk von knapp 60.000 Menschen an, deren slawisches Erscheinungsbild in der DDR von staatswegen gepflegt wurde. Die wirklichen Bedürfnisse spielten dabei eine untergeordnete Rolle; wenn, zum Beispiel, Obersorben zum Fahnenschwenken auf Folklorefesten genügten, brauchte man die Niedersorben eben nicht zu fördern. Jurij Brezan jedoch fürchtet für die Sorben stärker die neue Zeit. Die Abwanderung aus der Lausitz mache zu schaffen, stellt er zutreffend fest. Neue Erkundungsmöglichkeiten für junge Sorben, die die Identifikation mit ihrer Kultur attraktiver machen könnten, ist Jurij Brezans Sache nicht mehr. Seine Erinnerungen verdienen eben nicht nur Leser sondern auch Anmerkungen.

Titelbild

Jurij Brezan: Ohne Paß und Zoll. Aus meinem Schreiberleben.
Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1999.
240 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 337800617X

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