„Tanz, Sprung und Flug der Gedanken“

Axel Pichlers analytische Darstellung der ›Denkbewegung‹ Friedrich Nietzsches

Von Martin EndresRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Endres

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Zeitlose und Unüberwindliche der Philosophie Friedrich Nietzsches liegt nicht zuletzt darin begründet, dass sie zur Projektions- und Spiegelfläche desjenigen wird, der sich mit ihr auseinandersetzt: Kaum eine Deutung, kaum ein methodischer Zugang und kaum eine Theorie, die Nietzsche als Kronzeugen nennt, die nicht schonungslos den eigenen Zugang mit all seinen Interessen, Vorannahmen und (nicht selten) seinen Ideologien verrät und deren Implikationen scharfzeichnet. Wie bei kaum einem anderen Philosophen fächert sich die Wirkungsgeschichte in ein derart breites Spektrum unterschiedlichster Positionen auf. So wurde Nietzsche etwa Leitfigur des Kulturpessimismus des fin de siècle und Ahnvater des Existenzialismus, wurde als Stichwortgeber des Faschismus und Nationalsozialismus missbraucht, war Fahnenträger antichristlicher Weltanschauungen und Vordenker der Psychoanalyse – seine Werke beeinflussten so unterschiedliche Denker wie Martin Heidegger, Karl Jaspers, Theodor W. Adorno, Max Weber und Georges Bataille.

Diese ,Pluralität des Denkens‘ ging jedoch zumeist mit einer gewaltsamen Vereinseitigung der Schriften Nietzsches und einer überwiegend willkürlichen Selektion dort vermuteter ,Theoreme‘ einher: Der ,Tod Gottes‘, der ,Wille zur Macht‘, der ,Übermensch‘ oder die ,ewige Wiederkunft‘ gerieten so zu kontextlosen Sprachhülsen, die immer wieder neu mit Inhalt gefüllt werden konnten und ihren geistigen Ursprung, wenn nicht verrieten, so doch zumindest unbekümmert außer Acht ließen. Die in den 1960er-Jahren einsetzende Nietzsche-Rezeption der neueren französischen Philosophie vermochte sich dabei nur selten gegenüber eindimensionalen Deutungsmuster zu emanzipieren, wenngleich die sprachanalytischen, differentialontologischen oder post-strukturalistischen Ansätze oftmals zu einem entgegensetzten Ergebnis kommen und die Heterogenität in Nietzsches Denken betonen, die jede systematische Fixierung ,haltlos‘ mache. Erst in den letzten Jahren etablierte sich nach und nach ein stark philologisch geprägter Umgang mit Nietzsches Philosophie, der sich – vor allem auch dank der besseren Editionslage und der fortschreitenden Erschließung des handschriftlichen Nachlasses – wieder auf die Texte selbst, ihre Verfahrensweisen, ihren Stil und ihre ästhetische Dimension besinnt und so erfolgreich der methodischen ,Freihändigkeit‘ bisheriger Interpretationen entgegenwirkt.

Angesichts der Vorbelastungen dieser grob gezeichneten Wirkungsgeschichte wird man umso aufmerksamer, wenn eine aktuelle Studie zu Nietzsches Werk mit dem Anspruch auftritt, mittels „aktualisierender Lektüre“ eine präzise Beschreibung der „Nietzscheschen Denkbewegung“ zu leisten. Axel Pichlers Arbeit mit dem Titel „Nietzsche, die Orchestikologie und das dissipative Denken“ stellt sich der Aufgabe, einerseits die Geschlossenheit und Einheitlichkeit von Nietzsches Philosophie aufzuzeigen, anderseits jedoch deren Paradoxalität, Vielstimmigkeit und deren multiples Sinnangebot nicht der Deutungshoheit einer statischen Kohärenzfantasie zu opfern. Damit folgt Pichler dem von Nietzsche selbst formulierten Misstrauen gegenüber jeder erstarrten Philosophie und zielt darauf, das asystematisch-dynamische, eben: ,dissipative‘ Denken Nietzsches herauszuarbeiten und dem eigenen methodischen Verfahren zugrundezulegen. Die Methode, die Pichler für seine Lektüre wählt, wendet sich hauptsächlich gegen die klassische Hermeneutik und setzt dieser eine diskursanalytisch-archäologische Analyse im Sinne Foucaults entgegen.

Kurz: Pichler liest Nietzsches Werk als einen Diskurs, indem er die unterschiedlichen Werkphasen als ,historisch diskursive Formationen isoliert und beschreibt‘, um so ,jenem Bedürfnis einer hypothetischen und rein heuristischen Synchronisierung des sich stets in Bewegung befindenden, dynamischen Denkens Nietzsches‘ zu entsprechen. Dadurch verbietet sich von vornherein die ansonsten beinahe allgegenwärtige Zitierpraxis, in der einzelne Begriffe und Wendungen aus ihrem Kontext gelöst, paraphrasiert und schließlich als Bausteine ideologieanfälliger Denkgebäude verwendet werden.

An die ,Prolegomena‘ des ersten Kapitels, in dem Pichler seine Vorgehensweise begründet und historisch einordnet, schließt sich zunächst eine ,Archäologie‘ der epistemologischen Dimension von Nietzsches Diskurs an. So zeichnet er detailliert Nietzsches Bruch mit der erkenntnistheoretischen Tradition des Abendlandes nach, macht die „Instanzen der Auflösung“ sowie die „Destruktionsprozesse“ in Nietzsches Denken sichtbar und leistet so eine präzise Beschreibung der ,Fiktionalisierung‘ des Wissens und des Verschwindens der epistemologisch zentralen Gegenstände „Erkenntnis“ und „Wahrheit“. Darauf aufbauend erläutert die Studie die literar-ästhetische Praxis von Nietzsches Schriften, dem individuellen Denk- und Schreibstil, der sich in der Abgrenzung zur klassischen Epistemologie herausbildet: Den fragmentarischen, selbstreferentiell-dynamischen Charakter von Nietzsches Schreiben profiliert Pichler als ein Denken, das sich kritisch mit der Bedingung seiner Möglichkeit ins Verhältnis setzt und so in seiner grundsätzlich autodestruktiven Tendenz ,positive‘ Diskursformen generiert.

Das dritte Kapitel schließt direkt an den letzten Punkt an und diskutiert die Frage nach dem ,Inhalt‘ von Nietzsches Philosophie, die sich angesichts der ,(Selbst-)Aufhebung‘ jeder epistemologischen Grundlage stellt, mit Blick auf poststrukturalistische Theorieansätze. So vermag Pichler überzeugend darzulegen, dass Nietzsches Denkbewegung – im Unterschied zu einer rein dekonstruktiven Vorgehensweise – dank ihrer formal-ästhetischen Verfasstheit einer durchgehenden ,Erschütterung des Sinns‘ widersteht. Die „Dezentrierung“ des Sinns und die Demontage eines ,transzendentalen Signifikats‘ evozieren (im Sinne Nietzsches) ein Denken, deren Nachhaltigkeit in der kontinuierlichen Selbstbefragung seiner selbst besteht. Insbesondere am Konzept des ,Willens zur Macht‘ lässt sich sowohl diese in sich kritische Denkbewegung Nietzsches als auch der Gewinn der von Pichler entwickelten Lektürepraxis erkennen. Die hauptsächlich in „Also sprach Zarathustra“, „Jenseits von Gut und Böse“ und verschiedenen Passagen aus dem handschriftlichen Nachlass enthaltenen Äußerungen zum ,Willen zur Macht‘ zeigen den permanenten Wechsel von unvermeidlich (kontext-)bedingter „Sinnkonstitution“ und deren destruktiver „Transformation“ infolge der selbstreflexiv-fluktuierenden und relativierenden Denk- und Sprachbewegung.

Dieses ,dissipative‘ Denken Nietzsches, das Pichler mithilfe seiner archäologischen Lektüremethode herausarbeitet, wird schließlich im letzten Kapitel mit dem Neologismus ,Orchestikologie‘ definiert, um den „hohen formalen und methodologischen Reflexionsgrad“ sowie die ästhetischen „Formen rationaler Kritik“ der Philosophie Nietzsches zu bündeln. Pichler löst dabei den bei Nietzsche allgegenwärtigen ,Topos des Tanzes‘ aus seiner metaphorisch-symbolischen Funktion und fasst es als „ein multipel applizierbares, hoch dynamisches, kritisches Organon jenseits universal gültiger, axiomatisch-dogmatischer Prämissen“. So benennt die ,Orchestikologie‘ exakt die Methode, die der gesamten Studie als Leitfigur diente: ein Denken, das „fundamentalistische Theoreme kritisiert“, „ohne selbst […] solche Theoreme zu etablieren“.

In Axel Pichlers überzeugender Arbeit zu Nietzsches Werk lässt sich lediglich die philologische Lektüreschärfe kritisieren. So vermisst man bei dem ein oder anderen großen Zitatblock, der den für die diskursanalytische Methode notwendigen Kontext bereitstellt, die Präzision einer textnahen Analyse. Hier würde man sich wünschen, dass die archäologische Interpretation noch detaillierter auf die sprachliche Verfasstheit der Schriften Nietzsches eingeht und sich diese zur Grundlage der Deutung erarbeitet.

Anlass zu grundsätzlicher Kritik bietet hingegen die buchtechnische Realisierung des im Passagen-Verlag publizierten Bandes. Nicht allein die typografische Einrichtung des Textes weist erhebliche Mängel auf; so versteht man beispielsweise nicht, welcher satztechnische Gedanke hinter einem Blocksatz ohne Silbentrennung (inklusive den dadurch entstehenden unfreiwilligen Sperrungen) oder hinter der Font-Entscheidung für eine schlecht geschnittene Times New Roman steht. Gravierend werden diese buchtechnischen Fehlgriffe dann, wenn sie sich direkt auf den Inhalt auswirken: Bei einem Text, der so sehr auf die (von Pichler eigens thematisierte und methodisch reflektierte) direkte Kommunikation zwischen Haupttext und Anmerkungen angelegt ist, ist man doch irritiert, letztere als Endnoten in den Anhang des Bandes verbannt zu finden. Hier erwartet man doch die editorische Sorgfalt, mit der sich der Verlag noch vor ein paar Jahren auszeichnete.

Titelbild

Axel Pichler: Nietzsche, die Orchestikologie und das dissipative Denken.
Passagen Verlag, Wien 2010.
286 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783851659535

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