Avanti, popolo!

Heinz-Gerhard Haupt und Claudius Topf wagen sich an ein Handbuch, das alles Wissenswerte über die Konsumgesellschaft des 20. Jahrhunderts präsentiert

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das 20. Jahrhundert ist zweifelsohne das Jahrhundert des Konsums, aber eben auch das der Konsumkritik. Dabei gehen Systemkritik und Konsumkritik eine enge Verbindung ein, die nicht einmal Rücksicht auf politische Unvereinbarkeiten nimmt. Dem Konsum standen im 20. Jahrhundert sowohl die Linke, die Rechte sowie moderate politische Richtungen äußerst skeptisch gegenüber, sei es, weil die Konsumgesellschaft im Verdacht stand, die Entfremdung des Menschen weiter voranzutreiben – sei es weil sie ihn angeblich von seinen  vitalen Grundlagen trennte, sei es weil sie die Distinktionswünsche des Bildungsbürgertums unterlief. Konsum ist der große Gleichmacher, denn vor den Regalen der Supermärkte sind wir alle gleich, egal ob wir gegen die Klassenherrschaft, die Fremdherrschaft oder gegen die Nivellierung überhaupt kämpfen. Wir können dort nur zwischen Persil oder Dash oder einem anderen Produkt wählen, und wir müssen es, denn auch bildungsbürgerliche Unterhosen müssen wie proletarische oder arische gewaschen werden.

Aus diesem Umstand entwickelt sich eine Gemengelage, die derart von Widersprüchen durchsetzt ist, dass als Lösung eigentlich nur eine radikale Hinwendung zum hedonistischen Konzept taugt, was freilich die Schattenseiten des kapitalistischen Projekts, mit dem der Konsum verbunden ist, einigermaßen ignoriert. So sehr die Konsumgesellschaft auch die Versorgungsqualität der Bevölkerung gesteigert hat, gilt sie doch nicht als Lösung der drängenden Versorgungsprobleme und als Ausweg aus der Armut, die den Lebensalltag großer Teile der Bevölkerung im 19. Jahrhundert bestimmt hat. Die Konsumgesellschaft wird als oberflächlich und entfremdet beschrieben, die ideologische Distanz zu ihr ist beträchtlich, ohne dass das irgendetwas daran geändert hätte, dass sie sich im 20. Jahrhundert in Deutschland wie in anderen Industriegesellschaften derart ungehemmt durchsetzte, als ob sie allenthalben mit offenen Armen empfangen worden wäre. Sogar für die sozialistischen Gesellschaften hat der Konsum einige Sprengkraft entwickelt (wie unter anderem aus dem vorliegenden Handbuch zu erfahren ist).

Bereits um 1900 ist der gesellschaftliche Wandel in Richtung Konsumgesellschaft unwiderruflich. Zwar haben Selbstversorgungsökonomien gerade im ländlichen Bereich eine große Hartnäckigkeit und Langlebigkeit bewiesen (worauf etwa Michael Prinz in seinem Beitrag hinweist). Dagegen gilt, dass die moderne Industriegesellschaft auf der Produktion, Distribution und dem Konsum von Waren basiert, für deren Erwerb monetäre Einkommen verwendet werden. Der Tausch von Waren oder Dienstleistungen wird mehr und mehr zurückgedrängt, auch wenn es gerade in dieser Hinsicht immer wieder aufsehenerregende Experimente und Projekte gibt.

Ein großer Teil der Beziehungen wird auch durch den Warencharakter der Arbeit der Individuen bestimmt, was man bedauern, aber nicht abschaffen kann. Jener Teil des sozialen Gefüges, der im Denksystem Jürgen Habermas’ System genannt wird, hat sogar vollständig diesen Charakter angenommen, notwendigerweise.

Dennoch lassen sich im 20. Jahrhundert Wellen der Durchsetzung und Weiterentwicklung der Konsumkultur erkennen. Während im späten Wilhelminismus die technische und wirtschaftliche Basis für die Konsumkultur gelegt wurde, war die Weimarer Republik vor allem eine Phase, in der das Versprechen einer Konsumgesellschaft die individuellen Erwartungen einerseits, die politische Diskussion andererseits und die administrativen Bemühungen zum weiteren bestimmte. Nach dem Desaster der nationalen Politik im Ersten Weltkrieg scheint der individuelle Konsum als Vorschein des Schlaraffenlands (wovon Ernst Bloch zu schreiben wusste) eine außergewöhnlich große Attraktivität besessen zu haben. Wirtschaft, Politik und Gesellschaft konnten diese Erwartungshaltung zwar nicht wirklich erfüllen, dennoch richten jene knappen 15 Jahre die deutsche Kultur und ihr Selbstbewusstsein neu aus, worauf auch der Nationalsozialismus – trotz seines Erfolgs und Selbstverständnisses als nationale Erhebung – Rücksicht nehmen musste und nahm. Gerade das macht seinen Doppelcharakter aus, das totalitäre Regime mit völkischer Ideologie zeigte eben auch Züge einer modernen und urbanen Konsumgesellschaft.

Diese Entwicklung wurde zwar – verstärkt nach 1945 – vom Vorbild der USA vorangetrieben, die die Richtung vorgab, sich im Wesentlichen jedoch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchsetzte. Das Wirtschaftswunder der Bundesrepublik gibt dabei den Takt an, dem sich die sozialistische Ökonomie der DDR auf Dauer nicht verschließen konnte. Spätestens mit den kulturellen Umbrüchen in der Folge der 68er-Revolte ist die Konsumgesellschaft auf hohem Niveau umgesetzt, und das, obwohl die 68er selbst Konsum und Konsumenten noch einmal massiv ideologisch attackierten – vielleicht am konsequentesten in den sogenannten Warenhausbrand-Flugblättern der Kommune I, die mit dem Brüsseler Warenhausbrand die Erfahrung Vietnamkrieg mit der der Konsumgesellschaft kurzgeschlossen sahen: „Warum brennst Du, Konsument?“

Die Durchsetzung der Konsumkultur hat allerdings eine Reihe von Facetten: Sie basiert auf der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Industriegesellschaften, nimmt massive politische Interventionen und Fördermaßnahmen in Anspruch, visiert dabei eine zunehmende apparative Ausstattung an, die im beginnenden 21. Jahrhundert beispielsweise zur Idee des intelligenten Hauses kulminierte. Die Unterhaltungs- und Freizeitkultur hat für die Entwicklung der industriellen Leistungsfähigkeit am Ende des 20. Jahrhunderts eine ebenso große Rolle gespielt wie die Energiewirtschaft für die Durchsetzung der technifizierten Haushalte an dessen Beginn. Ohne flächendeckende Stromversorgung keine elektrischen Haushaltsgeräte, ohne die Unterhaltungselektronik kein informationstechnologische Vernetzung aller Haushalte der Bundesrepublik. Aber eben ohne Automobile und Flugzeuge keine Mobilität, was lebensweltlich und systemisch große Auswirkungen hatte.

Lebensweltlich könnten das beginnende und das endende 20. Jahrhundert allerdings kaum weiter voneinander entfernt sein: Zwar wurde die Basis der großen industriellen Komplexe noch im 19. Jahrhundert gelegt, die Individuen erreichten jedoch noch sehr wenige Entwicklungen, konzentriert man sich etwa auf die apparative Ausstattung: Hausgeräte, Automobile, ja selbst elektrisches Licht waren um 1900 weit entfernt davon, die individuelle Lebenswelt zu bestimmen, auch wenn ihre Durchsetzung begann. Dazu fehlte es in den Haushalten an freien Mitteln, dazu fehlte es auch noch an breit einsetzbaren technischen Apparaturen. Noch in den 1960er-Jahren wurde die Diskussion um den Konsum, wie die Autoren des Handbuchs „Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890-1990“ festhalten, von den knappen Mitteln der Durchschnittshaushalte bestimmt. Am Ende des Jahrhunderts gab es zwar immer noch Armutsdebatten, aber der hedonistische Diskurs dominierte sie massiv: Ein Kanzler, der sich als Model abbilden lässt, steht nicht nur für den Wohlstand einer Gesellschaft und die Durchsetzung der Konsumkultur, er steht eben auch für einen Habitus, der bis dahin so nicht konsensfähig war.

Es gibt also Gründe genug, sich mit dem Phänomen Konsum auseinanderzusetzen, und das von Heinz-Gerhard Haupt und Claudius Torp herausgegebene Handbuch versucht sich an der Aufgabe, die Erkenntnisse, die zum Konsum als sozialem Phänomen bislang vorliegen, zusammenzutragen. Dabei lassen sie sich erfreulich wenig von einer konsumkritischen Position leiten. Allzu billig wäre der große Gesamtverriss des Konsums, und allzu unehrlich angesichts dessen, dass die Konsumgesellschaft ubiquitär ist. Darauf mit melancholischen Verlustanzeigen zu reagieren, wie dies jüngst noch Zygmunt Bauman getan hat, ist für die Analyse der Konsumgesellschaft kaum förderlich, auch mit Blick auf die Risiken, die sie birgt und die Nachteile, die sie mit sich bringt. Der Konsumkritik andererseits jede Dignität abzusprechen, wie das Thomas Hecken kürzlich versucht hat, ist jedoch ebensowenig belastbar. Insofern ist den Herausgebern und den Autorinnen und Autoren eine auffallend große Souveränität mit ihrem Gegenstand zu konzedieren. Zwischen den Polen Souverän oder Marionette positionieren sie den Konsumenten als eine Position im Handlungsgeflecht, deren Wünsche zwar interpretiert, ja auch geformt werden, der sich dieser Wünsche aber nicht völlig bewusst würde. Die Unhintergehbarkeit des Konsums in der industriellen Gesellschaft macht ihn zu einer Basiskategorie, um die herum unterschiedliche Gesellschaftsmodelle konstruiert und diskutiert werden können. Er ist so gesehen weniger als politische denn als soziologische Kategorie interessant, die freilich politische Implikationen hat. Zurückhaltung bei der Bewertung der Entwicklungen und Tendenzen der Konsumgesellschaft hat also zweifelsohne einigen Charme.

Der Band selbst ist in vier Teile gegliedert, von denen der dritte Teil sicher der in sich geschlossenste ist. Hier beschäftigen sich die Verfasser mit dem institutionellen und politischen Umgang mit dem Konsum in den unterschiedlichen politischen Regimen im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Demnach ist die Konsumpolitik einer der wichtigsten Faktoren der Durchsetzung der Konsumgesellschaft. Die chronologisch aufeinander aufbauenden Beiträge von Christoph Nonn, Belinda Davis, Claudius Torp (der hier anscheinend seine Dissertation verarbeitet), Hartmut Berghoff, Ina Merkel und Michael Wildt zeigen die hohe Kontinuität und zugleich, von welch niedrigem Niveau die Durchsetzung der Konsumgesellschaft ausging. Die Leistungsfähigkeit der Industriegesellschaft um 1900 ist zwar enorm im Vergleich zu den Vorgängergesellschaften, was eben auch Auswirkungen auf das Konsumverhalten und die Konsummöglichkeiten hat. Aber noch führte dieses Potenzial nicht zu einer umfassenden Ausstattung auf der lebensweltlichen Ebene. Die Konsumgesellschaft ist noch eine Idee, in der Weimarer Republik noch eine Utopie, im Dritten Reich ein Surrogat und in der Bundesrepublik schließlich ein einlösbares Projekt. Dass das Schlagwort der noch jungen Bundesrepublik von Ludwig Ehrhardt geprägt wird und „Wohlstand für alle“ heißt, kann nicht wirklich verwundern, zumal wenn die politische und wissenschaftliche Sozialisation Ehrhardts berücksichtigt wird. Welche Dynamik die Konsumgesellschaft hatte, zeigt nicht zuletzt der Beitrag Ina Merkels zur Konsumpolitik der DDR, einer Gesellschaft, deren Basisideologie dem Konsum kritisch gegenüberstand, notgedrungen aber und unter dem Druck der Bevölkerung ihrerseits Wohlstand und damit Konsummöglichkeiten versprechen musste.

Das Beispiel DDR zeigt, so Merkel, denn auch, dass eine flächendeckende Versorgung von einer Planwirtschaft zumindest mit den von der DDR installierten Instrumenten nicht zu erreichen war. Dem lässt sich zustimmen, auch wenn das Gegenexempel Bundesrepublik eben nicht für eine regellose Marktwirtschaft steht, sondern für deren moderierte Fassung, die als „Soziale Marktwirtschaft“ Schlagwortcharakter erhalten hat. Ein sozialistische Projekt müsste demnach, wenn man spekulieren darf, von solchen Erfahrungen lernen, um erfolgreich sein zu können.

Im basalen, Wirtschaft überschriebenen ersten Teil finden sich Beiträge zur Ernährung, zur Massenproduktion, zu den Massenmedien, zur Werbung (ein Beitrag, der im Schlusskapitel einigermaßen gedoppelt wird), zur Hygienekultur und zum Massentourismus. Im zweiten Teil (Soziale Lagen und Identitäten) wird das Konsumverhalten sozialer Klassen (Bürgertum, Angestellte, Arbeiter) und sozialer Lagen abgehandelt (Frauen, zu denen das Gegenkapitel fehlt, wie der Blick zum Hygiene-Aufsatz des ersten Teils zeigt, Generationen, Landbevölkerung, zu der der urbane Gegenpart vermisst werden kann, und ethnische Aspekte, was vor allem am Beispiel der Länder- und Immigrantenküchen diskutiert wird). Im abschließenden Teil finden sich Aufsätze zu verschiedenen Konsumtheorien (Soziologie, Ökonomie), zur Werbung, zur Körpergeschichte und zu Leitbildern der Konsumentwicklung im 20. Jahrhundert. Insgesamt ist das Handbuch hinreichend systematisch, auch wenn die Kompromisse und Lücken offensichtlich sind.

Allerdings liegt die Stärke des Handbuchs bei den einzelnen Beiträgen, die kompetent und in großem Maße informativ sind.

Der Beitrag über die Entwicklung des Konsums der Landbevölkerung von Daniela Münkel ist dafür ein taugliches Exempel, zumal dann, wenn er mit dem Beitrag von Michael Prinz kombiniert wird. Die Entwicklung der Konsumgesellschaft ist eng an Denklinien wie Urbanisierung und Industrialisierung gebunden. Es sind die Konsumgewohnheiten der städtischen Bevölkerung, die zumeist im Fokus stehen, es sind Angestellte und Arbeiter in großen Konglomeraten, die als erste in den Genuss der Versorgungsleistungen und Ausstattungskampagnen der Verbrauchsgüterindustrie kommen. Die Landbevölkerung ist davon nicht ausgeschlossen, ganz im Gegenteil, ihre Integration in die Produktionsketten wird seit dem 19. Jahrhundert stark vorangetrieben. Aber bis in die 1960er-Jahre hinein, wie Daniela Münckel betont, ist die Zuordnung zur Landbevölkerung eine der Kriterien, die Konsummöglichkeiten und Konsumgewohnheiten von Individuen mitbestimmt. Mit anderen Worten, die Teilhabe der Landbevölkerung an den Konsumpotenzialen der urbanen Bevölkerung ist beschränkt.

Bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts wird dieser Zusammenhang nahezu vollkommen zerstört: Der ländliche Raum ist für weite Teile seiner Bevölkerung eben nicht mehr Erwerbsraum, sondern lediglich Wohnraum. Die gewerbliche Verödung der Dörfer geht zudem auch darauf zurück, dass der ländliche Konsum vor allem aus den Städten – den Einkaufszentren, den Malls und Supermärkten – bedient wird.

Dass dem gegenüber Formen der Selbstversorgung noch weit ins 20. Jahrhundert hinein Bestand hatten, wie Michael Prinz betont, hat nicht zuletzt mit den ökonomischen Konjunkturen zu tun: In konjunkturschwachen Phasen werden sinkende oder schwache externe Einkommen durch die eigene kleine Landwirtschaft oder die Gartenbewirtschaftung kompensiert. Dieses Konzept wird aber flächendeckend sofort dann aufgegeben, wenn die wirtschaftliche Stärke einer Gesellschaft groß genug ist, eine weitgehende Versorgung aus Einkommen zu gewährleisten.

Die Funktion des ländlichen Raums steht naheliegend in engem Zusammenhang mit der Entwicklung der Nahrungsmittelindustrie und Lebensmittelproduktion, die Roman Rossfeld schildert. Das bezieht die Ausweitung der Handelsströme bis 1914 mit ein, mit der zahlreiche internationale Genussmittel in die Ernährungsgewohnheiten aufgenommen wurden (Maren Möhring skizziert diesen Zusammenhang in ihrem Beitrag). Die gesellschaftlichen Veränderungen insgesamt erhöhten den Druck auf das Gesamtsystem der Nahrungsmittelerzeugung, haltbare und ubiquitär Nahrungsmittel vorzuhalten. Die Trennung von Arbeiten, Wohnen und Freizeit führt zu veränderten Ernährungsgewohnheiten – auch hier setzt sich eine Pragmatik durch, die bis dahin eingeübte Praktiken rasch überwindet. Insofern ist die Entwicklung der Lebensmittelindustrie strukturell notwendig, was allerdings die Gegenbewegungen nicht funktional suspendiert. Mit der Industrialisierung verbunden sind zudem Veränderungen der Ernährungspalette: Während im 19. Jahrhundert pflanzliche Lebensmittel das Rückgrat der Ernährung bildeten, rückt das Fleisch mehr und mehr Ende des Jahrhunderts in den Vordergrund. Erst seit den 1920er-Jahren werden Formen einer ausgewogenen Ernährung diskutiert, die zu einer Ausweitung des Speisezettels führen. Seitdem gilt eine lediglich auf Fett, Kohlehydraten und Fleisch basierende Ernährung nicht mehr als gesund – was allerdings auch damit zu tun hat, dass diese Ernährung den sich ändernden Anforderungen im Arbeitsleben nicht mehr entspricht. Angestellte ernähren sich notgedrungen anders als Arbeiter.

Die Engführung von Konsumgesellschaft und offener Gesellschaft lässt sich am Beitrag Erica Carters über den Zusammenhang der Frauenemanzipation mit der Entwicklung des Konsums erfahren (auch wenn die starke Orientierung der englischen Germanistin auf die angloamerikanische Forschung, bevorzugt von Autorinnen ein wenig einseitig wirkt). Folgt man ihrem Argument, dann entsteht eine Reihe von geschlechtsspezifischen Konflikten daraus, dass Frauen mit der Entstehung des Massenkonsums verstärkt allein in die Öffentlichkeit jenseits der direkten Nachbarschaft gehen müssen, um die entsprechenden Angebote überhaupt wahrnehmen zu können. Notwendigkeit (Versorgungszwang) und Möglichkeit (Öffnung neuer Bewegungsräume) ergänzen einander und führen zu Situationen, die unter anderen Umständen als eindeutig oder peinlich gegolten hätten. Eine bürgerliche Frau allein in der Öffentlichkeit? Undenkbar.

Hinzu kommen die Rationalisierungsschübe bei der Haushaltsführung im frühen 20. Jahrhundert, die teils ideologisch motiviert waren (was Carter stark macht), teils auf die sich ändernden Lebensbedingungen zurückgehen. Frauen nehmen in der Konsumgesellschaft eine andere Position ein als in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Sie sind mehr und mehr beruflich tätig, Handlungswissen noch des 19. Jahrhunderts geht dabei rasant verloren, was zu dem Phänomen führt, dass Frauen aus Koch- und Haushaltsbüchern eben zu kochen und zu haushalten lernen. Wenn die Übertragungskette von Generation zu Generation zerstört wird, tritt statt des direkt und mündlich vermittelten Wissens eines, das durch Handbücher weiter gereicht wird. Außerdem wird im frühen 20. Jahrhundert die Ernährung zunehmend problematisiert, was den Griff zu Kochbüchern nahe legt, die die neuen, zu implementierenden Anforderungen reflektieren.

Am bekanntesten dürften die Informationen und Positionen sein, die in den Beiträgen zur Werbung vorgetragen werden (Peter Borscheid, Alexander Schug). Und von der spröden Beziehung von Männern zur Hygiene (Ulrike Thoms) haben wir (respektive unsere Partnerinnen) immer schon gewusst – auch das ändert sich, verstärkt in den letzten Jahren, wie im Beitrag von Ulrike Thoms nachzulesen ist. Diese Veränderung ist Teil eines komplexen Prozesses, in dem sich kulturelle Gewohnheiten, wirtschaftliche Initiativen und medizinische Erfahrungen miteinander verbinden, wie Thoms betont.

Konsumgewohnheiten sind dabei eben auch ideologisch überfrachtet: Über sie wird die Ausdifferenzierungsstrategie des alten Bürgertums gegen die neuen aufsteigenden Schichten initiiert: Es ist gerade der Umstand, dass das neue Bürgertum (die berühmten Angestellten) in den 1920er-Jahren den Konsum nicht nur begrüßt, sondern sich mit ihm habituell eng verbindet, der es zur Zielscheibe des etablierten, alten Bürgertums macht, das freilich vom Abstieg bedroht ist, so Gunilla Budde. Das Konsumversprechen der einen Gruppe widerspricht dem Distinktionszwang der anderen, erfüllt zugleich aber die Gewissheit, zur lebensweltlichen Avantgarde der eigenen Zeit zu gehören. Diese Idee lässt sich fortführen – Avanti, popolo!

Titelbild

Heinz Gerhard Haupt / Claudius Torp (Hg.): Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890 - 1990. Ein Handbuch.
Campus Verlag, Frankfurt am Main 2009.
504 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783593387376

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