Märchen vom wahren Geschlecht

Lou-Salome Heer untersucht in „Das wahre Geschlecht“ den populärwissenschaftlichen Geschlechterdiskurs im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur dissertierende PolitikerInnen plagiieren der Einfachheit halber gerne mal ein fremdes wissenschaftliches Werk. Auch JournalistInnen huldigen diesem misslichen Brauch der Copy & Paste-Ära, wie wunderbar deutlich wird, wenn Lou-Salome Heer zwei „Spiegel“-Zitate aus den Jahren 2004 und 2008 nebeneinander stellt. Lautet ersteres „In den neunziger Jahren wurden dann mit der neuen Begeisterung für Bio- und Gentechnik, für das geheimnisvolle Wirken von Hormonen und Neuronen, auch biologische Argumente wieder mehrheitsfähig“, so im zweiten nicht viel anders: „Erst in den achtziger Jahren, mit der neuen Faszination für Bio- und Gentechnik, für das geheimnisvolle Wirken von Hormonen und Neuronen, wurden biologische Argumente wieder gesellschaftsfähig.“ Klarer lässt sich ein Plagiat kaum aufzeigen. Vielleicht hat da aber auch jemand nur bei sich selbst abgeschrieben.

Überhaupt gilt Heers Interesse weniger den plagiatorischen Fertigkeiten der „Spiegel“-JournalistInnen, sondern dem Geschlechterdiskurs des als „Nachrichtenmagazin“ firmierenden Wochenblattes. Ausgehend von Judith Butlers Erkenntnis, dass Geschlecht „performativ hervorgebracht“ wird, geht sie am Beispiel des Hamburger Magazins nicht zuletzt der Frage nach, „welche Umstände dazu beitragen, dass gerade das biologische Geschlechterwissen ab den 1990er-Jahren in den deutschsprachigen Massenmedien vorherrschend wird.“

Heers Studie zeigt, dass die in den ersten Nachkriegsjahrzehnten vom „Spiegel“ noch als autoritative Referenzwissenschaften herangezogenen Sozialwissenschaften für die Zeitschrift eine immer geringere Rolle als „Instanz des Wissens“ spielten, während das Magazin Ende des Jahrhunderts „biologisch ausgerichteten Wissensexpert_innen“ eine „grosse Plattform“ bietet. Die neuen Autoritäten betreiben einen „Diskurs des wahren Geschlechts“, der unter der Annahme steht, „dass nicht nur jede_r ein wahres Geschlecht besitzt, sondern auch ‚die geheimsten und tiefsten Wahrheiten des Individuums‘ darin zu finden seien.“ Es sei „dieser innere Kern, der das Individuum in seinem tiefsten Wesen, in seiner Authentizität ausmacht.“ Derlei sei zwar „nicht allzu schwer zu widerlegen“, konstatiert die Autorin zurecht. Doch darum geht es ihr gar nicht. Das Anliegen ihrer schmalen aber ertragreichen Studie ist vielmehr zu ergründen, „weshalb diese Geschichten überhaupt und in dieser Breite erzählt werden.“

Dabei wirft die Autorin auch die Frage auf, ob „die aktuelle Berufung auf die Biologie mitunter auch eine feministische Strategie sein“ kann. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts war sie vom gemäßigten Flügel der Frauenbewegung positiv beantwortet worden. Ebenso in den 1970er-Jahren von ihren differenzfeministischen Nachfahrinnen. Ob dies allerdings tatsächlich eine für das emanzipatorische Anliegen sinnvolle Strategie ist, ist eine ganz andere Frage.

Titelbild

Lou-Salome Heer: «Das wahre Geschlecht». Der Geschlechterdiskurs am Beispiel des «Spiegels» (1947–2010).
Chronos Verlag, Zürich 2011.
173 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-13: 9783034011006

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