Simplicius obenauf!

Eine fulminante Biografie über Grimmelshausen von Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Um es gleich vorab zu sagen: Hans Sarkowicz und Heiner Boehncke haben eine grandiose Biografie über einen der wichtigsten deutschsprachigen Autoren geschrieben. Die in der Reihe der Anderen Bibliothek im Eichborn Verlag erschienene Studie bringt dem Leser auf fast 500 Seiten das Leben und Werk von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen nahe. Dass dies in einer Form geschieht, die sich am „Simplicissimus“ orientiert, darf als Glückfall gesehen werden. Dabei gelingt es, trotz schwieriger Quellenlage und komplexem Werk einen Eindruck von den verschiedenen Bedeutungsebenen und den damit verbundenen Schwierigkeiten zu vermitteln, die mit dem Werk von Grimmelshausen und dem Vexier- und Versteckspiel des Autors verbunden sind.

Die vorliegende Biografie ist eine hervorragende Ergänzung zu der Neuübertragung des „Simplicissimus“, der „Courage“ und des „Seltsamen Springinsfeld“ aus Grimmelshausens Barockdeutsch in eine moderne Sprachgestalt durch Reinhard Kaiser. Was immer man von einer „Übertragung“ halten mag, zumindest hat sie wieder einen breiten Leserkreis für das Werk des wohl bekanntesten und vielleicht auch bedeutendsten Barockautors erschlossen. Und so ist es denn mehr als lobenswert, das sich die Autoren die Mühe gemacht haben, ein verständliches, unterhaltsames und kompetentes Buch vorzulegen. Dabei könnte man fast bei der Lektüre annehmen, einen Roman zu lesen, so spannend ist die erzählte Geschichte des bildungshungrigen Autors, der als Soldat des Dreißigjährigen Krieges in die Welt geworfen wird. Letztendlich sind die in der Biografie herausgearbeiteten Thesen, die der Leser in klaren Sentenzen formuliert vorfindet, eine weit über die Lektüre der Biografie hilfreiches Werkzeug, sich dem Werk von Grimmelshausen auf neuen Bedeutungsebenen zu nähern. So etwa wenn es heißt: „Grimmelshausen hat sich nach den Katastrophen seiner Kindheit vor dem Krieg durch Bildung gerettet.“ Dabei ist es nicht Bildung im Allgemeinen, etwa durch Schulen oder durch eine theologische Erziehung, sondern es ist die Lektüre, die Grimmelshausen als seine persönliche Universität nutzt: „Lesen, ganz besonders gründliches und wiederholtes Lesen ist die große Mitgift des Vaters für den Sohn.“ Diese Eigenschaft begleitet Grimmelshausen ebenso wie sie seiner Schöpfung Simplicius zur Seite steht.

Es gelingt den Autoren immer wieder, die Verknüpfungen zwischen der Person des Autors Grimmelshausen und seiner Schöpfung Simplicius Simplicissimus herauszuarbeiten. Etwa wenn sie schreiben: „Simplicius las viel und gern. In Westfalen wird er einmal einen halbjährige Pause einlegen, die der Fortbildung dient.“ Dabei ist die Bildungsgeschichte von Autor und Figur nicht nur eine klassische Entwicklungsgeschichte: „Bei Simplicius verfolgt man die Alphabetisierung vom Dialekt sprechenden Spessart-Buben bis zum schriftbesessenem Einsiedler der Continuatio, der das Buch der Schöpfung auf der Kreuzinsel mit seinen frommen Sprüchen überschreibt.“

Die Annäherung von Figur und Autor erklärt sich besser mit den beiden Bildern der Doppelung und der Verkehrung: „Die hier so herrlich vorgeführte Poetik der Verkehrung, die das Lachen als erkenntnisfördernd vorführt, ist ein, vielleicht das wichtigste Verfahren des religiösen Satirikers Grimmelshausen.“ Grimmelshausen nutzt die Metapher und das Bild von der verkehrten Welt. Zum „Simplicissimus“ heißt es: „Die wichtigste Botschaft könnte dagegen lauten: Hier hat jemand aller biographischen Wahrscheinlichkeit zum Trotz ein Buch und noch viele mehr geschrieben, in denen die literarischen Mittel von ihrem Zwang befreit werden, einer einzigen übergeordneten Wahrheit zu dienen.“

Dabei bleibt Grimmelshausen gerade aufgrund dieser mehrfachen Interpretations- und Bedeutungsebenen ein für die Gegenwart überaus interessanter Autor. Die Variantenbreite und Vielschichtigkeit seines Werkes zeigt sich in einer kurzen Formulierung: „Sein Werk entstand neben seinen Berufspflichten und außerhalb der Institutionen literarischer Geselligkeit. Es schweift unentwegt ab in die zeitliche Tiefe der Überlieferungen und die räumlichen Fernen vom Indischen Ozean bis Korea. Es bleibt aber auch verbunden mit dem Leben eines in sehr überschaubaren Verhältnissen agierenden Schaffners oder Schultheißen.“

So schaffen es die Autoren mit dieser Biografie, die natürlich auch eine Werkmonografie ist, unterhaltsam und fast in Form eines Romans neue Bedeutungsmuster und Interpretationsschichten für den Leser freizulegen, die neue Wege zum Werk aufzeigen. Und in diesem Sinne kann man auch die Gegenwartsbedeutung von Grimmelshausen verstehen: „Überall in Grimmelshausens Werk sind in der von der Erbsünde scheinbar vollständig gezeichneten Welt, besonders zu Zeiten des Krieges, kleine Risse sichtbar, in denen bescheidene Möglichkeiten der Besserung aufscheinen.“ Sicherlich eines der kurzweiligsten Sachbücher des Jahres.

Titelbild

Heiner Boehncke / Hans Sarkowicz: Grimmelshausen. Leben und Schreiben. Vom Musketier zum Weltautor.
Eichborn Verlag, Frankfurt, M. 2011.
495 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783821861272

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