Eine einsame Liebe

Julien Green erzählt in "Adrienne Mesurat" von den Abgründen einer unerwiderten Leidenschaft

Von Anette MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anette Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit Beginn ihres Daseins lebt Adrienne Mesurat unter der strengen Beobachtung ihrer altjüngferlichen, kränkelnden Schwester, ihres routinebesessenen Vaters und der zwölf Ahnenporträts der Mesurats, die im Salon hängen und mit steinernen Blicken das Leben ihrer drei Nachfahren betrachten. Adrienne ist einsam und isoliert großgezogen worden und ersehnt nichts mehr, als den Ausbruch aus dem vom Vater auferlegten täglichen Einerlei. So wundert es nicht, dass sie sich in dem winzigsten Augenblick einer flüchtigen Begegnung - er fährt in der Kutsche an ihr vorbei - in den ältlichen Arzt und Nachbarn Maurecourt verliebt. Adriennes Leben hat plötzlich einen Inhalt bekommen- IHN zu erspähen. Stunden verbringt sie damit, sich aus dem Fenster des Zimmers ihrer Schwester zu lehnen, um einen Blick auf Maurecourts Haus zu werfen. Abends, wenn Vater und Schwester sich bereits zurückgezogen haben, streift sie durch die Straßen der Nachbarschaft in der Hoffnung, dem Arzt zu begegnen.

Maurecourt wird zu ihrer Obsession, zu dem Symbol einer von ihr herbeigesehnten Freiheit, eines Glücks, das sie sich von ihm, den sie kaum beim Namen kennt, erhofft.

Vielleicht wäre es bei einer pubertären Schwärmerei geblieben, hätte nicht die boshafte, neidische Schwester bemerkt, dass Adrienne von einer heimlichen Liebe erfüllt ist- Schwester und Vater fordern sie erbost auf, den Namen ihres Geliebten zu enthüllen. Adrienne verweigert ihrer Familie jegliche Antwort und findet sich schnell in totaler Isolation wieder - der Zutritt zum Zimmer ihrer Schwester wird ihr ebenso verwehrt wie die abendlichen Spaziergänge und der Aufenthalt im Garten. Adrienne fühlt sich in ihrer Liebe jedoch nur bestärkt.

In der Hoffnung, dass er, der Arzt von nebenan, herbeigerufen wird, durchschlägt sie mit der Hand eine Fensterscheibe. Spätestens anhand dieser Szene macht Julien Green, der "Adrienne Mesurat" 1927 kaum achtundzwanzigjährig schrieb, deutlich, dass Adriennes Leidenschaft über eine jungmädchenhafte Schwärmerei hinausgeht.

Das Haus der Mesurats wirkt auf Adrienne von Tag zu Tag beengender, ihr Leben zunehmend kleiner und auch dem Leser nimmt die Atmosphäre des Hauses und des gequälten Beisammenseins der Familie den Atem. Vater und Schwester lassen nichts unversucht, um den Namen des Geliebten von Adrienne zu erpressen, doch sie schweigt und steigert sich weiter in ihre Liebe hinein - je mehr Freiheit ihr genommen wird, umso mehr wird Maurecourt zum Symbol für ein anderes, freieres und erfülltes Leben.

Die Schwester, die Adrienne ihre erste "Liebe" zutiefst missgönnt, bricht schließlich selbst aus der Enge des Lebens mit dem tyrannischen Vater aus und verpflichtet Adrienne als Komplizin - bei Nacht und Nebel flüchtet sie in ein Kloster. Der Vater nimmt dies zu Adriennes Überraschung zunächst schweigend hin und hält an der gewohnten Routine fest.

Mit dem Einzug der neuen Nachbarin Madame Legas, die Adriennes Freundschaft sucht, wähnt sie sich am Beginn eines neuen Lebensabschnitts, der ihr Freiheit bringen soll. Heimlich nimmt sie Madame Legas' Einladung zum Tee an, als der Vater sie unerwartet allein im Haus zurücklässt, nur um erneut seinen Zorn auf sich zu ziehen. Monsieur Mesurats Jähzorn bricht heftiger denn je hervor, und er gibt Adrienne zu verstehen, dass er längst herausgefunden hat, wo die Schwester sich befindet. Adrienne, die gehofft hatte, das Zimmer ihrer Schwester zu beziehen, um ungestört Maurecourts Haus beobachten zu können, muss erkennen, dass die Abwesenheit der Schwester für sie keine neuen Freiheiten, sondern nur neue Einschränkungen bedeutet. Derart in die Enge getrieben und jeder Hoffnung auf ein selbstbestimmtes Leben beraubt, unternimmt Adrienne einen nur gering bewussten Versuch, sich zu befreien. Der Vater stürzt eines Nachts die Treppe hinunter und bleibt tot in der Eingangshalle liegen. Adrienne geht zu Bett, in kindlicher Manie vorgebend, das nichts geschehen sei.

Jene Kindlichkeit ist es auch, die Adrienne glauben lässt, nun frei zu sein. Doch allzu bald muss sie feststellen, dass neue Zwänge auf sie zukommen - es erweist sich zudem schwieriger als erwartet, sich von den alten Zwängen, über Jahre von Vater und Schwester in ihr manifestiert, loszusagen. Adrienne wartet mit Spannung darauf, dass ihr Leben eine Wende nimmt, die jedoch ausbleibt.

Green versteht es meisterhaft, die inneren Spannungen Adriennes weiter nach oben zuschrauben. Das junge Mädchen geht auf eine rastlose Reise, die ihr nicht die ersehnte Ruhe bringt, sondern die Einsicht, nicht davonlaufen zu können. Sie unternimmt verzweifelte Versuche, sich Maurecourt zu nähern, gesteht ihm durch eine anonyme Postkarte ihre Gefühle. Überzeugt, allein durch dieses Geständnis ihrer Liebe von Maurecourt aus ihrem traurigen Dasein erlöst zu werden - Maurecourt bleibt vermeintlicher Erlöser -, verrennt sie sich mehr und mehr in ihrer Liebe zu ihm.

Mit Ausnahme einer winzigen Szene schreibt Green ausschließlich aus der Perspektive der unglücklich Liebenden und nur dadurch gelingt es ihm, Adriennes Zerrissenheit, ihre Unfähigkeit zur Selbstbestimmung und ihr starrköpfiges Beharren auf ihrer Liebe zu einem Fremden nachvollziehbar darzustellen. Adrienne ist ein Mädchen, das zu einer Lebensunfähigkeit erzogen wurde, die ihr ebenso zum Verhängnis wird wie ihre Entschlossenheit, dass alles so zu sein hat, wie sie es sich wünscht, und sich dabei mehr und mehr von der Realität entfernt. So sehr sie ein anderes Leben herbeisehnt, so wenig ist sie doch bereit, etwas für diese Veränderungen zu tun - Adrienne erwartet die Veränderung stets von außen und stellt nie Forderungen an sich selbst. Jeder Fluchtweg, den sie einzuschlagen versucht, wirft sie unweigerlich auf sie selbst zurück und verdammt sie somit stets zum Scheitern. Green lässt den Leser uneingeschränkt in Adriennes Innenwelt blicken und schafft damit eine sehr dichte Atmosphäre, die zunehmend beklemmender wird. Der vermeintliche Höhepunkt, der Tod des Vaters, scheint zunächst Erleichterung zu bringen, nur um den Leser feststellen zu lassen, dass dies erst der Beginn von Adriennes Niedergang ist. Auch in Abwesenheit herrschen Vater und Schwester weiter über sie und ihr Handeln. Da Adrienne unfähig ist, Erkenntnis über sich selbst zu erlangen, bleibt ihr auch die Welt fremd, bleiben ihr die Menschen um sie herum fremd und dies führt zu Adriennes Unvermögen, sich die Welt gefügig zu machen und ist letztendlich der Grund für ihr Scheitern. Green schildert Adriennes Abgründe in aller Komplexität und nicht zuletzt deshalb kann man Walter Benjamins Urteil, "Adrienne Mesurat" sei eines der allerbesten Bücher dieses Jahrhunderts, nur zustimmen.

Titelbild

Julien Green: Adrienne Mesurat.
Carl Hanser Verlag, München 2000.
312 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3446199098

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch