Voller Schmerz und Pathos

Raoul Schrotts jüngste Erzählung „Das schweigende Kind“ über das Leid „entrechteter Väter“

Von Friederike GösweinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friederike Gösweiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Erzählenswert ist wohl nur Wirkliches. Um dir jedoch die Wahrheit sagen zu können, muss ich Zeugnis alles Falschen ablegen.“ – Einen monumentalen Anfang wählt Raoul Schrott für sein jüngstes Buch, die nur knapp 200 Seiten starke Erzählung „Das schweigende Kind“, im Februar 2012 im Hanser Verlag erschienen, in dem ein psychisch zerrütteter, kranker Vater zu seiner Tochter spricht – Isabella, das schweigende Kind, das, ohne dass eine organische Ursache vorläge, nicht zu sprechen beginnt. Der Erzähler versucht darin, seiner Tochter zu erklären, warum er zu ihr keine Beziehung aufbauen konnte, obwohl er das gewollt hätte, und vor allem – warum ihre Mutter nicht mehr lebt.

In 33 kurzen Kapiteln lässt Schrott den Vater bruchstückhaft aus seinem Leben erzählen, davon, wie er Isabellas Mutter als junger Kunststudent in Paris kennengelernt, sich in sie, das Aktmodell, verliebt und wie Isabella, das heißersehnte Wunschkind, das erst durch den langwierigen und schwierigen Prozess einer künstlichen Befruchtung zur Welt kommt, alles verändert: Isabellas Mutter entfremdet sich vom Vater, die einst leidenschaftliche, von starker sexueller Anziehung und Lust geprägte Liebe verkehrt sich ins Perverse und nimmt sadomasochistische Züge an, Isabellas Mutter „zwingt“ den Vater, sie zu quälen, ihr heißes Wachs über den Körper zu gießen, sie zu fesseln und zu schlagen. Was für den Vater jedoch am schlimmsten wiegt, ist der Entzug der über alles geliebten kleinen Tochter: Niemals hatte Isabellas Mutter den Vater in ihre Wohnung einziehen lassen, sodass es ihr nach der Geburt des Kindes nicht schwer fällt, dem Vater die Tochter zu entziehen, rechtliche Mittel, sich diesen Kontakt zu Isabella erstreiten zu können, gibt es offensichtlich keine.

Als der Vater, der, als Maler erfolglos, als Kopist sein Geld verdient, für die Abrechnung einer dubiosen, aber zugleich äußerst lukrativen Auftragsarbeit sich mit seiner neuen Freundin Kim in Kroatien aufhält, kommt es zum Zusammenbruch. Er erzählt seinem Auftraggeber von seiner familiären Misere und übergibt ihm auch ein Foto der Mutter, zwar nicht ausdrücklich mit einer klaren Aufforderung verbunden, aber doch im Wissen, dass dieser sich selbst und anderen „Recht“ zu verschaffen weiß – mittels brutalster Gewalt, davon kann sich der Erzähler in Kroatien selbst überzeugen. Entsetzt über seinen „Verrat“ verletzt sich der Erzähler selbst, ritzt sich am ganzen Körper, was schließlich auch Kim zuviel ist, so dass sie ihn verlässt. Wenig später wird die Mutter Isabelles dann tatsächlich tot aufgefunden – erwürgt –, doch die Ermittlungen führen ins Leere und werden irgendwann eingestellt. Der nervlich völlig zerrüttete Vater wird schließlich in das Sanatorium in den Schweizer Alpen eingewiesen, wo er später stirbt, das geht aus einem Brief des behandelnden Arztes hervor, der wie ein Epilog am Ende des Buches abgedruckt ist.

Was wirklich geschehen ist und wo die Wahrheit nun tatsächlich liegt, das lässt sich letztlich wohl nicht sagen. Schrott versucht das zu zeigen, indem er den Vater in seinem langen Monolog zwar überzeugende Fährten legen lässt, denen der Leser auch bereitwillig folgt, so dass er irgendwann tatsächlich glaubt, er habe es hier mit einem psychisch Kranken zu tun, der die Mutter seiner Tochter ermorden ließ und hier im Angesicht des Todes ein spätes Geständnis ablegt. Dann aber wischt Schrott das Bild, das der Vater so von sich und seinem Leben gezeichnet hat, durch einen lapidar ans Ende der Erzählung gesetzten Brief jäh wieder fort. Denn in dem Brief erfährt der Leser noch einige weitere Details der Geschichte, die die Erzählkonstruktion des Vaters zu Fall bringen, sodass der Leser letztlich verwirrt zurückbleibt: Wie es nun tatsächlich gewesen ist, das weiß er am Ende jedenfalls nicht.

Dieser Kunstgriff am Ende – das abrupte Einbringen einer zweiten Perspektive, die alles Vorherige relativiert – ist vielleicht das Gelungenste an der gesamten Erzählkonstruktion. Doch vermag er nicht, die Defizite und Probleme, die sich aus der Gesamtanlage der Erzählung ergeben, wettzumachen. Fraglich bleibt etwa, ob die Wahl des Erzählers, des nervlich stark angegriffenen, psychisch kranken Vaters eine kluge war. Diesem fehlt es an der Fähigkeit, sein eigenes Verhalten zu reflektieren, es fehlt ihm auch – und darauf wird im Buch sogar auch ausdrücklich hingewiesen – der routinierte Umgang mit Worten. Vielleicht wirken deshalb die (halb)klugen Sentenzen, mit denen jedes Kapitel beginnt, auch etwas gestelzt, die gesamte Erzählung ein wenig schwerfällig und plump und vor allem auch ein wenig inkohärent; Schrotts jüngste Erzählung will zuviel sein, es fehlt ihr jene Balance, die eben auch dem Erzähler fehlt.

Vor allem die Schilderung der Liebesgeschichte aus der eindimensionalen Sicht des verletzten Vaters, der mit Beschuldigungen und Beschimpfungen der einstmals geliebten Frau ganz und gar nicht sparsam umgeht, bleibt blass und wirkt wenig überzeugend. Was fehlt, sind psychologische Details. Die Emotionsskala, derer sich Schrotts Erzähler bedient, wirkt allzu schmal: Entweder man liebt sich absolut, hemmungslos und leidenschaftlich (körperlich) oder man hasst sich und tut dem Anderen brutalste Gewalt an (wiederum: körperlich). Die vielen feinen Zwischentöne, die jede Beziehung kennt, blendet der Erzähler in seinem Bericht vollständig aus, ebenso wie er dem Leser leider sehr wenig über die tatsächlichen Sorgerechtsstreitigkeiten mitteilt. Klar wird einzig, dass es offensichtlich für den Vater unmöglich ist, einen Kontakt zu seinem Kind herzustellen. Und auch über das Leid der Tochter, der der Vater vorenthalten wird, erfährt der Leser nichts, sie dient Schrott lediglich als „stummer Ankläger“ (nicht umsonst leidet sie an Mutismus), spielt in der Erzählung ansonsten aber keine Rolle. Unnötig ausführlich wird dagegen etwa die Episode in Kroatien geschildert – die allerdings für sich sehr gelungen erzählt wirkt und durchaus das Potential zu einer eigenständigen Geschichte gehabt hätte.

Wenn es tatsächlich Schrotts Absicht war, mit der Erzählung „Das schweigende Kind“ ein Buch über die schwierige Situation der „entrechteten“ Väter zu schreiben, dann fragt man sich, warum er dann seine Erzählung ausgerechnet im Künstlermilieu ansiedelt, ihr so viel rohe Gewalt aufpfropft und vor allem eine ganz offensichtlich psychisch schwerkranke Erzählerfigur wählt, die sich mit nicht geringem Pathos allzu weinerlich in einer Tour ihrem Schmerz ergibt. War das als literarische Zuspitzung einer „Normalsituation“ gedacht, implizierte dies, dass derartig „entrechtete“ Väter von bösen Müttern, die nicht nur dem Vater das Kind entziehen, sondern ihn zudem zuvor noch zu Sadomaso-Spielen „gezwungen“ haben, wortwörtlich in den Wahnsinn getrieben würden, morden lassen und am Entzug ihrer Kinder – verursacht durch Gesetz und Frau – zu Grunde gehen. Aber das kann Schrott wohl schwerlich auszusagen beabsichtigt haben. Es bleibt also fraglich, was den Autor veranlasst hat, dermaßen dick aufzutragen und soviel Verschiedenes in eins zu mengen und gleichzeitig auf so viele interessante Details zu verzichten.

Raoul Schrotts jüngste Erzählung hätte wahrscheinlich vieles sein können: das Psychogramm einer Künstler-Amour-fou, ein politisch brisanter Krimi, ein Buch über die Unmöglichkeit, Wahrheit zu „erzählen“, eine Geschichte über das Leid von Trennungskindern, wie es im Titel ja eigentlich anklingt, und sicherlich auch ein Buch über die schwierige Sorgerechtslage und die „entrechteten“ Väter – hätte sich der Autor denn für eins davon entscheiden können. So ist es ein diffuses Etwas geworden, das von allem ein wenig hat und nichts überzeugend ausführt.

Titelbild

Raoul Schrott: Das schweigende Kind. Erzählung.
Carl Hanser Verlag, München 2012.
199 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446238640

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