Avantgarde-Stück im Romanpelz

Matthias Senkels Debüt „Frühe Vögel“ ist mehr als nur ein mutiger Familienroman

Von Andreas ThammRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Thamm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wie viele Flugmaschinen bräuchte es, um ein sich selbst verstärkendes Interesse wie bei Automobil, Omnibus und Eisenbahn zu erzeugen? Und wie viele um einen profitablen Taxameterverkehr zwischen einer variablen Anzahl von Städten zu bewerkstelligen?“

Theodor Leudoldt will hoch hinaus; mit dem Aviator in die Lüfte und irgendwann zum Mond. Im ersten Teil des Romans „Frühe Vögel“ von Matthias Senkel ist er das Zentralgestirn der Erzählung. Ein ganz und gar nicht linearer Plot macht es zunächst schwierig, sich in der Karriere von Theodor zurecht zu finden beziehungsweise die Familenstruktur im Kopf zu behalten. Bald öffnen sich Schubladen im Leserhirn – Aufstieg innerhalb der Gothaer Versicherung, Schulzeit, Flitterwochen in Paris.

Das Prinzip funktioniert, weil „Frühe Vögel“ nur so etwas ähnliches ist wie ein Roman. Vielleicht eher ein unterhaltsames Avantgarde-Stück im Romanpelz. Denn Senkel experimentiert und variiert die Formen, in denen er die Familiensaga transportiert. Alles beginnt mit „Archaeopterix lithografica“ – der Leser befindet sich zunächst in der Struktur eines Lexikons, steht aber vor der Wahl, wie diese zu lesen sei: Entweder alphabetisch oder chronologisch, also den Verweisen am Ende der Einträge folgend.

Senkels Freude am Experiment, am Versuch, in welchem starren Rahmen Prosa funktioniert, drängt sich geradezu auf. Im Laufe der fast 300 Seiten findet sich der Leser bald in einer konventionell epischen Erzählweise, bald in einer Listenform, zwischendurch in einem Comic. Ein vorgezogenes Alternativende präsentiert der Autor als Interview. Diese schematisch durchexerzierte Formlust, und das ist die größte Leistung des Autors, sie nervt nicht, sie dient keinem diffus-artifiziellem Anspruch, präsentiert aber die schiere Möglichkeit, den krassen Spagat, in welchem der Roman immer noch funktioniert – und vielleicht gerade deshalb so viel Spaß macht.

Die formelle Herangehensweise kontrastiert die Sprache, das Sujet. Den Einstieg in den Stammbaum der Familie Leudoldt/Senkel setzt der Autor ins deutsche Kaiserreich. Dementsprechend wählt er die Sprache. Der auktoriale Erzähler, der zunächst den zukunftssüchtigen Theodor begleitet, spricht so gedrechselt elegant, dass der ironische Gestus praktisch auf Stelzen daherkommt: „Der Sommer produzierte ein barometrisches Maximum nach dem anderen und kroch klebrig unter die Stehkragen.“

Die Zukunft Theodors ist bald deckungsgleich zu lesen mit der Zukunft des Flugwesens. Der Krieg kann dem einerseits zuträglich sein, birgt naturgemäß aber auch die Gefahr. Oder in Theodors Worten: „Er ist und bleibt eine zweischneidige Angelegenheit.“ An dieser Stelle befinden wir uns im dritten Kapitel, das wieder als Lexikon daherkommt („Elementwechsel“ bis „Yo Yo“). Wer die alphabetische Folge der Abschnitte wählt, muss möglichst aktiv lesen, sich immer wieder neu orientieren. Wenn bei „P“ irgendwann von Theodors dritter Hochzeitsreise die Rede ist, stellt sich die schlichte Frage: Wen habe ich alles noch nicht kennenlernen dürfen?

Theodors Tochter Ursula wird zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs groß. Ein gefundenes Tableau für die Formulierlust von Matthias Senkel: „Verkohlte Balkenreste ragten wie faulige Zahnstummel über das offene Obergeschoss der Schule auf“, so beschreibt er die Folgen eines Bombenangriffs. Einem solchen fällt auch Theodor zum Opfer. Der Plot folgt sozusagen den Vorzeichnungen der Ironie. Der zweite Teil des Buches zirkuliert vornehmlich um Ursula Leudoldt.

Und Senkel schafft ohne Verwerfungen den Spagat aus dem preußischen Reich in die Vereinigten Staaten der Nachkriegszeit, wo Theodors dritte Frau Gerhild erneut heiratet. Der Luftfahrt bleibt die Familie aber weiterhin verschrieben und bereitet in diesem Sinne beispielsweise Affen auf den Weltraum vor. Das Alternativende, die Alternativzukunft von Ursulas Tochter Michelle, die als Interview verpackt ist, präsentiert Theodors Enkelin als erste Amerikanerin auf dem Mond.

Was Senkel im letzten Kapitel tatsächlich macht, setzt dem ganzen Buch als das Modell, das es ist, die Krone auf. Er führt jede genannte Person, geordnet nach Kapiteln, ihrem Ende zu, oder konstruiert zumindest eine morbide Pointe. Es ist eine seitenlange Massenhinrichtung, und kaum jemand kommt mit einem natürlichen Tod davon. Und weil Senkel seine Prinzipien konsequent zu Ende führt, fehlen auch Kaiser Wilhelm, Napoleon und Gott nicht in der Liste der Opfer. Sie wurden schließlich genannt.

Durch den Umstand, dass diese Miniaturen des letzten Kapitels in den vorhergegangenen durch Seitenzahlen am Rand angekündigt wurden, entsteht eine seltsame Selbstreferenz. Das ganze Buch ist in sich mit sich selbst vernetzt und verknüpft, am Ende vielleicht mehr System als Roman.

Das theoretische Gebäude, das „Frühe Vögel“ ständig umspielt, die vielen literarischen Verweise, beispielsweise in fontanescher Dialogführung sowie die komplexe, formale Variabilität – all das macht Matthias Senkels Debüt höchst interessant. Es wird klar, dass dieses Buch auch wissenschaftlich ergiebig wäre. Es wäre wertlos, wenn der Autor uns dadurch den Zugang versperren würde. Senkel aber kombiniert den Aufbau, die Ironie, die Meta-Ebene mit sprachlicher Finesse, Pointenreichtum, schierer Originalität und schreibt ein Debüt, das solitär steht, das, nicht nur in dieser Saison, mit keinem anderen belletristischen Text vergleichbar wäre.

Titelbild

Matthias Senkel: Frühe Vögel. Roman.
Aufbau Verlag, Berlin 2012.
298 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783351033859

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