Im existenzialistisch-expressionistischen Labyrinth

Philippe Claudels Roman „Die Untersuchung“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der französische Schriftsteller und Regisseur Philippe Claudel veröffentlicht weniger häufig als andere erfolgreiche Kollegen. Das mag daran liegen, dass er eben nicht ausschließlich schreibt, vielleicht aber auch daran, dass seine Stoffe von einer existentiellen Schwere und bedrückenden Düsternis sind, so dass man sich selbst als Schreibender immer wieder davon distanzieren muss.

In Frankreich im Jahr 2010, hierzulande im Januar 2012, erschien Claudels jüngster Roman, der den deutschen Titel „Die Untersuchung“ trägt. Darin treibt der in Lothringen lebende Claudel das fort, was er in „Brodecks Bericht“ vor drei Jahren schon so großartig begonnen hat: der Brodeck aus eben jenem Roman sollte einen Bericht über eine kollektive Bluttat im Sinne der Täter verfassen, was er zwar tat, jedoch schrieb er darüber hinaus an einem zweiten, seinem eigentlichen, ganz persönlichen Bericht, in welchem er sein Leben und die wahren Umstände der Grausamkeiten in einer nicht näher bezeichneten Stadt niederlegte. Auch in „Die Untersuchung“ geht es um eine nicht mit Namen bezeichnete Stadt, in die ein ebenfalls namenloser, sogenannter Ermittler kommt. Er, der Ermittler, soll in der dortigen Fabrik Fälle von Suizid aufklären, doch seine Mission steht von Anfang an unter einem unglücklichen Stern: Kaum dem Zug entstiegen, findet er den Weg nicht, in einer Bar wird er unfreundlich behandelt, das Wetter wird schlagartig schlecht und erst nachts findet er, nach stundenlangem Umherirren in der abweisenden Stadt, ein Hotel, das den vielversprechenden Namen „Hoffnung“ trägt.

Dieser Name jedoch löst nicht ein, was er verspricht, denn der Ermittler wird auf unglaubliche Weise schikaniert, die Treppenstufen zu seinem Zimmer sind unterschiedlich hoch, so dass er in einem fort stolpert. Das Zimmer selbst, das absurd teuer ist, lässt jeglichen Komfort vermissen, was dazu führt, dass sich der Ermittler am Morgen erkältet und übernächtigt in den Frühstücksraum schleppt, wo er, im Gegensatz zu den Hunderten anderer Gäste, miserabel bedient wird und widerliche Speisen und Getränke serviert bekommt. Spätestens an dieser Stelle wird klar, dass Philippe Claudel eine Parabel geschrieben hat, die dem Leser zeigen soll, wie schwierig es heute ist, sich als Individuum im Massenbetrieb zu behaupten, wie sinnlos es anmutet, sich gegen vorherrschende Verhältnisse und Meinungen, gegen das Diktat der Mächtigen zu stellen.

Das ist ein edler, wichtiger und politisch-gesellschaftlich relevanter Ansatz, doch ist es dem Autor des Bestsellers „Die grauen Seelen“ in „Die Untersuchung“ nicht gelungen, die Dramatik und Atemlosigkeit seiner vorherigen Bücher zu reproduzieren. Zu holzschnittartig sind die Bilder, die er schafft, zu eindimensional die Beschreibung der Schrecknisse und Bizarrerien, zu einfach die Aneinanderreihung und das Auftürmen von immer noch unglaublicheren Schikanen, Boshaftigkeiten und Absurditäten, denen der mehr und mehr verwahrlosende und sich auflösende Ermittler ausgesetzt ist. Das wirkt bisweilen wie ein Film – der Autor ist ja auch Regisseur – aus der Fritz Lang-Ära, expressionistisch, grotesk und symbolisch aufgeladen. Natürlich gibt es dramaturgische Wendungen, die dem Leser Hoffnung machen und ihn in Richtung einer Lösung führen sollen. Doch mit jedem Schritt auf seinen Auftrag zu, wird dem Ermittler ein neues Problem in den Weg gelegt, seine Bestimmung wird zunehmend undeutlicher, er versinkt in Wahn und Aussichtslosigkeit. Es liegt nahe, hier an Franz Kafka und Samuel Beckett zu denken, doch um an die Großen der absurden Literatur heranzukommen, hätte der vorliegende Stoff deutlich verkürzt und verdichteter bearbeitet werden müssen

Titelbild

Philippe Claudel: Die Untersuchung. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Ina Kroneberger.
Kindler Verlag, Berlin 2012.
221 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783463406176

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