Ein Gedicht als Skandal

„Was gesagt werden muss“ von Günter Grass – und anderen

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Dass Gedichte politische und nicht nur ästhetische Skandale hervorrufen, geschieht nicht oft. Als Alfred Andersch 1976 in „Artikel 3 (3)“ mit starken und zum Teil unhaltbaren Formulierungen gegen die Politik der Berufsverbote protestierte, provozierte er einen der größten Literaturskandale der deutschen Nachkriegsliteratur. Vergleichbare öffentliche Auseinandersetzungen über Gedichte hat es danach allerdings nicht mehr gegeben. Anderschs Verse markierten vielmehr das Ende einer Phase politisch engagierter und nicht selten enragierter Poesie nach 1945. Seither ist solche Lyrik, von wenigen Ausnahmen abgesehen, aus dem literarischen Leben fast verschwunden.

Günter Grass hat das mit einem Mal geändert. Die Überraschung darüber, dass so dezidiert politische Lyrik noch geschrieben wird, konnten manche Kritiker nicht verhehlen. Und tatsächlich: In die große Politik hat sich schon lange kein deutscher Autor mehr mit einem Gedicht so eingemischt wie Grass. In seiner übernationalen Wirkung übertrifft „Was gesagt werden muss“ noch „Artikel 3 (3)“. Das hat vor allem, aber nicht allein mit der internationalen Bekanntheit des politisch streitbaren Autors zu tun, der als Nobelpreisträger auch außerhalb Deutschlands Gehör findet.

Über „Was gesagt werden muss“ ist schon innerhalb weniger Tage außerordentlich viel gesagt worden. Es war und ist die Rede nicht nur von dem, was Grass deutlich genug gesagt hat, also von seiner Meinung, sondern auch von seiner Persönlichkeit, seiner Vergangenheit, seinen Verdiensten und seinen Versäumnissen. Das ist durchweg mit großer Entschiedenheit, ja Heftigkeit geschehen, selten so abwägend, wie es Thomas Anz in dieser Zeitschrift getan hat. Kaum gesprochen wird jedoch darüber, dass die Einlassung von Grass zum israelisch-iranischen Konflikt ein Gedicht ist. In manchen Erwiderungen wird diese Tatsache gar nicht, in anderen nur irritiert zur Kenntnis genommen und schnell mit dem Hinweis erledigt, eigentlich habe Grass ja einen Leitartikel oder ein Pamphlet geschrieben. Manche mutmaßten auch, er habe sich mit der Gedichtform nur unangreifbar machen wollen – so wie Romanciers es mit der Fiktionsformel von den nicht beabsichtigten, allenfalls zufälligen Ähnlichkeiten mit lebenden Personen tun. Doch diese Vermutung verkennt völlig das dichterische Ethos, aus dem heraus Grass geschrieben hat.

Heinrich Detering hat mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass „Was gesagt werden muss“ ein Gedicht ist. Dass dies gesagt werden muss, obwohl es nicht schwer zu erkennen ist, liegt nicht zuletzt daran, dass die Debatte fast ausschließlich politisch geführt wird: als Auseinandersetzung über das Urteil eines Autors in einer heiklen Angelegenheit der internationalen Politik. Die meisten, die an ihr teilnehmen, mögen von Literatur weniger verstehen als von Politik. Gleichwohl ist die Struktur dieses öffentlichen Streits auch darin begründet, dass Grass ein Gedicht geschrieben hat und sich dabei als ein Dichter in einem durchaus emphatischen Sinn zeigen wollte. Genau das scheint ein allerdings unreflektierter Teil des Skandals zu sein.

Ob das Gedicht als ein Muster für ‚reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen‘ in der Art Brechts gelten kann, mag dahingestellt bleiben. Dass sich die Verse von Grass „in der Mehrzahl […] unschwer vierhebig, also mit vier betonten Silben lesen“ lassen, wie Heinrich Detering behauptet, leuchtet nicht von vornherein bei einem Gedicht ein, dessen Zeilen zwischen vier und vierzehn Silben lang sind. „Was gesagt werden muss“ ist wohl eher in freien Versen geschrieben. Sie sind frei, was die Silben- und die Verszahl angeht, und sie sind nicht in regelmäßig gebaute Strophen gegliedert.

Freie Verse sind die moderne Gedichtform, zugleich die, die Grass zumeist wählt. Zu ihr als neuer Form gehört in aller Regel eine neue Sprache, die sich deutlich von der traditioneller Lyrik abhebt, wie sie vor allem die Dichtung der Romantik geprägt hat. Oft bewegen sich solche Gedichte lexikalisch und rhythmisch im Grenzbereich von Poesie und Prosa, weshalb ein Metriker wie Christian Wagenknecht sie auch als ‚Prosaische Lyrik‘ bezeichnet hat. Diese Lyrik, so schreibt er, „begründet ihre gedichtmäßige Darbietung in der Hauptsache nur mehr aus dem Anspruch: mit so viel gesammelter Aufmerksamkeit gelesen zu werden, wie der Leser sie eben nur einem Gedicht gewohntermaßen entgegenbringt“.

Das gilt auch für „Was gesagt werden muss“. Die Versform des Textes hat aber nicht nur diese Funktion. Mit ihr betont Grass zugleich, dass er als Dichter spricht. Er tut dies mit einem bestimmten, durchaus pathetischen Gestus, zu dem das Ringen um Worte gehört, die Überwindung des Schweigens und Stummseins, die ein Kampf um die Wahrheit ist. Grass stellt sich in seinem Gedicht als ein Dichter dar, der sprechen muss, gegen alle inneren und äußeren Hemmnisse. Die Wahrheit zu sagen ist seine Pflicht – als Dichter.

Der Urtypus eines solchen Dichters ist der Seher, der vor allem in der jüdischen Literatur ein mystischer Visionär, ein Prophet ist. Ihm obliegt es, das Schicksal seines Volkes zu deuten, und zwar immer von dessen Verhältnis zu seinem Gott her. Walter Muschg hat in der griechischen Literatur noch einen anderen Typus des Sehers erkannt. Dessen „Würde ist passiver Art, eine Größe des schweigenden Wissens, das nur auf dringendes Fragen antwortet“. Ein solcher Seher ist der blinde Teiresias in „König Ödipus“, den die „schreckliche Wahrheit“, die er kennt, zunächst stumm macht, bis der König ihn so bedrängt und beleidigt, dass er sie ausspricht.

Die Dichterrolle, die Günter Grass in seinem Gedicht einnimmt, ist die modern-säkularisierte Form dieses antik-religiösen Sehertums, die noch in der Betonung des eigenen hohen Alters an Teiresias erinnert. Dass sie kaum erkannt und anerkannt wird, kann nicht verwundern. Der Seher ist eine archaische Figur, die sich fremd in der Moderne ausnimmt. Ihren Nimbus hat sie längst verloren, spätestens seit Dichter ihre Arbeit nicht mehr religiös begründen. Wer dennoch als Seher auftritt, muss in einer weitgehend säkularisierten demokratisch-egalitären Gesellschaft mit Unverständnis, ja mit Zurückweisung rechnen, die keineswegs nur dem Pathos gilt, das mit der Rolle notwendig verbunden ist. Er setzt sich der Gefahr aus, der Anmaßung, der Selbstüberschätzung oder der Eitelkeit verdächtigt zu werden – wie es Grass widerfahren ist. Nicht bloß nach der Triftigkeit seiner Meinung wird zweifelnd gefragt, auch nach seiner Person, nicht nur nach seiner sachlichen Kompetenz, auch nach seiner Glaubwürdigkeit – mit einem Wort: nach seiner moralischen Autorität. Insofern verwundert es nicht, dass Grass sogleich das lange Verschweigen einer anderen Wahrheit, und zwar über sich selber, vorgeworfen wurde.

Die Wendung der Kritik von der Sache auf die Person gehört zur Struktur der Auseinandersetzungen über skandalöse Seherworte – und skandalös sind sie fast immer –, mag ihre Logik den Beteiligten auch nicht deutlich sein. In dem Maß, in dem der Dichterseher sich selber zu überhöhen scheint, soll er wieder herabgesetzt werden, durch oft rhetorisch schroff vorgetragene Argumente ad rem wie ad personam. Die Heftigkeit, mit der die Auseinandersetzung um Grass geführt wurde und wird, ist auch in dieser Dialektik begründet.

Manches andere an dem Skandal, den „Was gesagt werden muss“ ausgelöst hat, ist dagegen Routine – allerdings nicht nur die von Medienspektakeln um Prominente und ihre wirklichen oder vermeintlichen Fehltritte. Genauso routiniert, jedenfalls von altersher gut eingeübt ist die Abwehr, auf die politische Einlassungen von Schriftstellern häufig stoßen. Politik gibt in der Regel nicht viel auf Poesie. Ja, auf keinem ihrer großen Themenfelder – Liebe, Natur, Glaube – dürften die Dichter einen so schweren Stand haben wie auf dem der Politik. Die besondere Autorität, die sie traditionell für sich als Sprachkünstler reklamieren, gilt hier wenig. Immer treffen sie auf Fachleute, die sich ihnen überlegen glauben und in ihnen nicht viel mehr als gutmeinende, aber meist lästige Gesinnungsethiker sehen.

Die Bescheidenheit, die ihnen aus der Sicht der Politik gut zu Gesicht stünde, hat Günter Grass geradezu souverän vermissen lassen. Das dürfte für manche schon anstößig genug gewesen sein. Sein Gedicht mag erhebliche Schwächen haben, weder ästhetisch gelungen noch in der Sache überzeugend und von falschen Annahmen geleitet sein. Gleichwohl gibt es wenig Grund, solche Einmischung in öffentliche Angelegenheiten grundsätzlich zu verwerfen, wie wenig man mit ihr auch im einzelnen Urteil übereinstimmen kann. Grass hat getan, was ein von seinem Auftrag überzeugter Dichter tun muss. Dabei hat er einem Gedicht eine Aufmerksamkeit verschafft, wie es schon lange keinem Schriftsteller mehr gelungen ist. Er hat damit auch daran erinnert, welche Wirkung politische Literatur, ja sogar politische Lyrik haben kann. Er hat sie in das Zentrum öffentlicher Diskussion geführt.

Die Wirkung solcher Literatur beruht allerdings nicht unbedingt auf dem Beifall, den sie erfährt, sondern genauso oft auf der skandalös-scharfen Herausforderung der Politik, die wiederum nicht selten mit ebensolcher Schärfe reagiert. Von allem abgesehen, was im Moment vielleicht nur gereizte Reaktion auf die öffentliche Person Günter Grass ist, kehrt in der Debatte um sein Gedicht auch die alte Spannung zwischen Literatur und Politik wieder. Sie dürfte so wenig aufzuheben sein, wie dieser eine Streit in der Sache zu schlichten ist. Er ähnelt darin dem Konflikt zwischen Teiresias und Ödipus. Der Seher, zum Reden gedrängt, stößt auf Unverständnis und Verachtung. Doch er beharrt auf seiner Wahrheit, während der König ihn als wahrhaft Blinden: „an Ohren, an Verstand und Augen“ verhöhnt und mit Sanktionen droht. So mag auch der Streit um „Was gesagt werden muss“ sich fortsetzen. Im Drama behält der Alte Recht; im Leben muss es nicht so sein.