„Editionsplagiate“?

Anmerkungen zu einem vermeintlichen Skandal

Von Michael OttRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Ott

Vorbemerkung der Redaktion: Nach § 70 des Gesetzes über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte sind „Ausgaben urheberrechtlich nicht geschützter Werke oder Texte“, also von Texten, deren Verfasser seit 70 oder mehr Jahren tot sind, 25 Jahre lang ebenfalls geschützt, wenn solche Ausgaben „das Ergebnis wissenschaftlich sichtender Tätigkeit darstellen und sich wesentlich von den bisher bekannten Ausgaben der Werke oder Texte unterscheiden.“ Unlängst wurde in der Auseinandersetzung um eine Kleist-Edition der Begriff „Editionsplagiat“ verwendet. Um diesen Sonderfall eines rechtswidrigen Plagiats geht es dem folgenden Artikel, den wir als Beitrag zu einer Debatte verstehen, die noch kaum geführt wurde.

Der Münchner Juraprofessor Volker Rieble hat vor kurzem in der „FAZ“ einen Plagiatsverdacht gegen den Literaturwissenschaftler Bernd Hamacher erhoben („Ein Editionsplagiat bei Reclam?“ „FAZ“ vom 29.3.2012): Dessen bei Reclam erschienene Studienausgabe von Kleists „Zerbrochnem Krug“ habe frappierende Ähnlichkeit mit der Edition dieses Dramas, die Roland Reuß und Peter Staengle als Band I/3 der Brandenburger Kleist-Ausgabe (BKA) 1995 bei Stroemfeld herausgaben; der „erste Anschein“, so Rieble, spräche „für eine nur unselbständige Bearbeitung der BKA“.

Volker Rieble hat zu Plagiaten im Wissenschaftsbetrieb viel publiziert und gilt als ‚Plagiatsjäger’. Seine Vorwürfe, die auch von der „NZZ“ (7.4.2012) aufgegriffen wurden, sind ernst und betreffen urheberrechtliche Fragen. Sie betreffen aber auch den Ruf und die Integrität eines als Kleistforscher ausgewiesenen Wissenschaftlers. Wie begründet und stichhaltig sind Riebles Vorwürfe also?

1. Zunächst fällt auf, dass hier ein Plagiatsverdacht in einem ungewöhnlichen Fall geäußert wird: Es geht um eine Edition. Im Unterschied zu einer Abhandlung besteht die Leistung einer wissenschaftlichen Edition bekanntlich nicht im eigenständigen Verfassen eines Textes – dessen Autor ist und bleibt ein anderer (zum Beispiel Kleist). Sie liegt vielmehr in der Transkription oder Konstitution des primären Textes, seiner kritischen Darbietung, genetischen Deutung oder Kommentierung: Diese sind als eigenständige wissenschaftliche Leistungen vom Urheberrecht geschützt – so erklärt es auch Rieble.

Durch die Besonderheit der Textsorte Edition verkompliziert sich jedoch der Nachweis eines Plagiats erheblich. Wenn ein Autor von einem anderen ohne Zitatkennzeichnung abschreibt, überführt ihn die Ähnlichkeit der Texte. Wenn dagegen zwei Herausgeber denselben Text edieren, ist eine Ähnlichkeit der edierten Texte geradezu erwartbar, ganz egal ob beide selbständig edieren oder einer vom anderen abschreibt. Es wäre im Gegenteil ungewöhnlich und bei gründlich edierten Texten sogar sensationell, gäbe es größere Unterschiede. Der Beleg eines ‚Editionsplagiats‘ ist folglich gewiss nicht einfach dadurch zu erbringen, dass man die beiden Editionen nebeneinanderlegt: Denn es ist ja derselbe Text, der ediert wird! Die bloße Ähnlichkeit des Textbestands und – bei vergleichbaren Ausgaben – selbst der Darstellungsform zweier Editionen allein beweist also nicht etwa ein Plagiat; sie sagt vielmehr nichts über ein mögliches Plagiat aus (weder als Beleg noch als Widerlegung).

An diese eigentlich banale Tatsache muss hier jedoch erinnert werden, weil Volker Rieble sie erstaunlicherweise völlig ignoriert. Stattdessen gleicht seine ‚Beweisführung‘ anhand von Abbildungen („Das zeigen die Bildzitate“) frappierend jener Praxis, mit der – am bekanntesten im Fall zu Guttenberg – der Nachweis von Plagiaten tatsächlich geführt wurde. Entgegen der Suggestion, dass damit ein Beweis vorläge, ist die Sachlage hier aber eine andere. Gerade das erste „FAZ“-Beispiel macht das deutlich: In beiden Editions-Ausschnitten findet sich die merkwürdigen Zeichen „|:“ und „:|“ als Kennzeichnung einer Regieanweisung; sie standen in der BKA, und nun stehen sie in der Reclam-Ausgabe. Muss da, so suggeriert der Bilder-Vergleich, nicht jemand abgeschrieben haben? – Abgeschrieben wurde in der Tat: bei Kleist. In der Handschrift stehen genau diese Zeichen. Dass die Reclam-Ausgabe sie druckt, belegt also – gar nichts.

2. Denn infrage steht hier nicht die teilweise Identität der edierten Texte, sondern allein die Art, wie sie zustandekamen. Hat Bernd Hamacher also ein Faksimile der Handschrift selbständig transkribiert, wie er angibt, und seine Transkription (wie es übrigens erwartbar und selbstverständlich wäre) mit derjenigen anderer Ausgaben wie der BKA verglichen – oder hat er die Transkription der BKA kurzerhand übernommen und bloß „drucktechnisch“ vereinfacht (so Riebles Verdacht)?

Der Beweis der zweiten Möglichkeit ist, wie gesagt, schon prinzipiell schwierig. Es gäbe jedoch sehr wohl Indizien, die auch ‚Editionsplagiate‘ identifizieren liessen. Ein solches Indiz könnte zum Beispiel sein, dass dem ersten Editor in der Transkription ein offenkundiger Fehler unterlaufen ist und der ‚abschreibende‘ Editor diesen einfach ungeprüft übernimmt. Auch zu diesem Nachweis würde es jedoch offenkundig nicht ausreichen, einfach die Editionen zu vergleichen; man müsste mindestens das Original selbst hinzunehmen, und eigentlich auch noch frühere Editionen.

Doch nichts von solchen Vergleichen findet sich in Riebles Artikel; entsprechend stichhaltige Indizien werden ebenso wenig benannt. Warum? Von der Handschrift des „Zerbrochnen Krugs“ selbst oder von früheren Editionen – die erste Ausgabe des Stücks, die Varianten und ganze Textteile der Handschrift mitteilte, erschien im Jahr 1885! – ist gar nicht erst die Rede. Verwundert stellt man zudem fest, dass hier ein Jurist über ‚Editionsplagiate‘ schreibt, dem elementare Begriffe der Editionswissenschaft fremd zu sein scheinen: „Kollationierung“ beispielsweise bedeutet nicht etwa den „Vergleich der eigenen und der fremden Transkription“ (Rieble), sondern – wie jeder Literaturstudent im ersten Semester lernen sollte – die Sammlung und Vergleichung der Textzeugen (also zum Beispiel von Handschriften oder verschiedener Exemplare eines Erstdrucks). Die Differenz ist grundlegend und könnte einem Juristen bekannt vorkommen: Die Transkription ist ja schon eine Deutung der Textzeugen, der eine Prüfung ihrer Zuverlässigkeit und eine Klärung ihrer Differenzen vorangehen muss.

3. Diese Unvertrautheit mit der Sache ist vielleicht auch der Grund, warum Volker Rieble entgeht, dass die abgebildeten Ausschnitte seinen Verdacht nicht etwa belegen, sondern im Gegenteil sogar falsifizieren. Schon seine Behauptung, die Transkriptionen würden sich „gleichen“, ist philologisch unsinnig; sie unterscheiden sich vielmehr substantiell. Gerade die Editoren der BKA würden in jedem anderen Zusammenhang gegen eine solche Behauptung mutmaßlich Sturm laufen: Ihre Transkription beschränkt sich ja nicht auf die typographische Kennzeichnung von „drei Stufen der Kleistschen Textbearbeitung“ (Rieble); sie bildet vielmehr die Topographie der Manuskriptseite (das heißt den Ort der Schriftzeichen auf dem Blatt) nach, unterscheidet außer Bearbeitungsstufen auch Überarbeitungsschritte und transkribiert überhaupt jedes erkennbare Detail des Manuskripts mit staunenswerter Akribie. Dagegen bietet die Reclam-Studienausgabe einen sehr viel einfacheren, linearen Dramentext; weder transkribiert sie das Manuskript seitenidentisch noch topographisch noch auch nur annähernd so differenziert.

Tatsächlich stellt auch sie gestrichenen und korrigierten Text dar, wie er der Handschrift zu entnehmen ist; doch Sofortkorrekturen, Einweisungszeichen, die Stellung von Korrekturen über oder unter den Zeilen, ihre Verdichtung, die Details verschiedener Überarbeitungsschritte – kurz: all diese für die Genese des Textes entscheidenden Informationen sind Hamachers Ausgabe im Gegensatz zur BKA nicht zu entnehmen. Gerade die Darstellung der Textgenese durch die typographische Differenzierung der Transkription war in der Tat, wie Hans Zeller 1996 schrieb, „wichtigste wissenschaftliche Leistung“ der BKA-Ausgabe des „Zerbrochnen Krugs“. Diese Leistung der BKA reproduziert jedoch die Reclam-Ausgabe nicht, und sie behauptet auch gar nicht, das zu tun. Wie soll sie dann aber ein Plagiat sein, das diese Leistung unberechtigterweise als eigene deklariert?

4. Als einzige Ähnlichkeit zwischen den Editionen neben dem Textbestand Kleists bliebe folglich die typographische Unterscheidung von drei Bearbeitungsstufen, die es in beiden Ausgaben zu geben scheint; sie ist offenbar auch Riebles ‚Hauptargument‘, gestützt durch die Verwendung derselben Schrifttype Bodoni für eine davon. Doch hier erweist sich Volker Riebles Unkenntnis der Editionslage nun endgültig als verhängnisvoll: Die Identifizierbarkeit von verschiedenen Bearbeitungsstufen gerade im „Zerbrochnen Krug“ wurde seit Jahrzehnten in der Kleist-Forschung diskutiert. Denn einerseits sind in der Handschrift selbst Korrekturen klar erkennbar; und der Vergleich mit einem Teil-Druck des Stückes im „Phöbus“ lässt vermuten, dass Kleist bestimmte Korrekturen bei der Vorbereitung dieses Drucks vornahm, andere aber nicht. Der (chronologisch spätere) Erstdruck andererseits enthält wiederum einige der „Phöbus“-Varianten nicht, so dass man hypothetisch von einer weiteren, vor dieser Überarbeitung gemachten Abschrift ausging.

Daher wurden schon in den 1970er-Jahren unter anderem von Klaus Kanzog und Hans Joachim Kreutzer Vorschläge für eine editorische Lösung dieses wahrhaft vertrackten Problems und auch für die Darstellung von drei ‚Stufen‘ gemacht. Allerdings führte die Diskussion jahrelang zu keinem Ergebnis: Die erste Ausgabe, die solche Stufen in der Transkription tatsächlich unterschied, war die BKA – und auch deshalb bedeutete sie einen entscheidenden Fortschritt in der Edition des Stücks. Doch Hamacher folgt der BKA gerade in diesem Punkt nicht (und er begründet das im Anhang auch explizit): Seine Transkription unterscheidet nämlich überhaupt keine derartigen „Stufen“, sondern lediglich „Schichten“ von Korrekturvorgängen an einzelnen Stellen der Handschrift (vergleiche S. 235: „Grundschicht“, „Überarbeitungsschicht“). Indirekt erschlossene Überarbeitungsstufen des ganzen Manuskripts dagegen, wie jene der „Phöbus“-Redaktion, werden nicht gekennzeichnet – denn sie sind, folgt man Hamacher, nicht so eindeutig identifizierbar, wie es den Anschein hat und wie es die BKA vorschlägt, da sie die Textgenese auch in dieser Hinsicht darstellen will.

Aus diesem grundsätzlich anderen (und zurückhaltenderen) Vorgehen der Reclam-Transkription erklären sich die vor Augen liegenden Unterschiede; erneut am ersten „FAZ“-Beispiel: Was hier in der BKA in Bodoni gesetzt ist und damit der Stufe der „Phöbus“-Redaktion zugewiesen wird, wird in der Reclam-Ausgabe lediglich fettgedruckt, also als „erste Überarbeitungsschicht“ des Textes an dieser Stelle markiert. Hamacher transkribiert also die Handschrift in einem eigenen Darstellungssystem. Das heißt aber – er transkribiert sie selbst, und er reproduziert auch hier keine Erkenntnisse der BKA.

5. Der Vergleich der Bildbeispiele erbringt ferner noch ein klares Indiz gegen Volker Riebles Verdacht – nämlich Beispiele für Abweichungen im Textstand der Ausgaben. Es gibt nicht viele davon, Hamacher selbst nennt sie „unbedeutend“ (S. 235), aber gerade in den Abbildungen der FAZ finden sich mehrere. So lautet die letzte Replik im 2. „FAZ“-Beispiel in der BKA „Ja, […] hier der Krug nur“, in der Reclam-Ausgabe aber „Ja, […] hier den Krug nur.“ Eine Überprüfung am Faksimile der Handschrift zeigt, dass beide Lesungen möglich sind; eine große Bedeutungsdifferenz ergibt sich nicht, aber diese Lesung kann Hamacher gar nicht der BKA entnommen haben, denn dort steht sie nicht.

Dass schließlich die Verwendung der (in jedem größeren Verlag verfügbaren) Bodoni-Type nun ein wissenschaftliches Plagiat belegen soll, wäre an sich schon mehr als fragwürdig; eines ‚Plagiatsjägers‘ ist das Argument aber geradezu unwürdig. Wenn Hamacher tatsächlich die BKA ‚plagiiert‘ hätte, hätte er dann nicht gerade typografische Spuren zu verwischen versucht? Zumal er oder der Reclam-Verlag gerade diese Schrifttype doch erst hätten aussuchen müssen, um diese Spuren zu legen! Dieser ‚Indizienbeweis‘ ist so frappierend löchrig, dass er wohl selbst dem Dorfrichter Adam nicht eingefallen wäre.

6. Man kann hier abbrechen. Volker Rieble legt keinen einzigen Beweis oder auch nur ein brauchbares Indiz für seinen Verdacht eines ‚Editionsplagiats‘ vor; vielmehr widerlegen ihn die abgebildeten Beispiele. Wichtiger aber ist, dass seine ganze Argumentation auf einem Textstellen-Vergleich basiert, der bei anderen Plagiatstypen einschlägig, hier aber offenkundig inadäquat ist. Für einen ‚Plagiatsnachweis‘ wäre in diesem Fall mindestens der Vergleich mit dem Original und früheren Editionen vonnöten, und ferner – ähnlich wie bei anderen Bearbeitungen eines primären Textes, beispielsweise Übersetzungen oder Hörspielfassungen – eine ganz andere Methodik und Genauigkeit, will man philologisch und juristisch sauber argumentieren. Eine solche Argumentation liegt hier nicht vor.

7. Schließlich: Auch auf die Differenz der Ausgabentypen geht Volker Rieble nicht ein. Die Edition Hamachers ist die erste Transkription dieser Handschrift im Rahmen einer „Studienausgabe“; alle anderen geben nur einige Seiten der Handschrift wieder. Will man sich zum Beispiel im Rahmen eines Seminars mit der Handschrift als Ganzer und den Textvarianten beschäftigen, bedeutet diese – gegenüber der BKA einfachere, aber auch entschieden einfacher zu lesende – Ausgabe aller maßgeblichen Textzeugen zweifellos einen Gewinn (auch wenn sie die historisch-kritische Ausgabe natürlich nicht ersetzen kann). Doch bietet sie auch eine grundsätzlich alternative Transkription, welche zusammen mit der BKA die Frage nach den Korrekturvorgängen Kleists, ihren Gründen und Zeitpunkten noch einmal neu diskutieren lässt. Sie plagiiert nicht etwa die BKA, sondern basiert auf einer philologischen Auseinandersetzung damit, und sie ermöglicht eine solche Auseinandersetzung. Dass man diese aufgrund eines haltlosen Plagiatsvorwurfs nicht mehr führen sollte, wäre tatsächlich eine Schädigung der Wissenschaft.

Anmerkung des Verfassers: Eine erste, längere Version des vorliegenden Textes wurde unmittelbar als Reaktion auf den Artikel Volker Riebles verfasst und war nicht zur Veröffentlichung gedacht; es ging mir lediglich um eine Stellungnahme, die sich mit der Stichhaltigkeit der Vorwürfe aus der Sicht eines Literaturwissenschaftlers auseinandersetzt. Da mehrere seither erschienene Texte (unter anderem in der „taz“ und der „SZ“) darauf Bezug nahmen, habe ich mich jedoch zu einer Veröffentlichung entschlossen und hoffe, dass sich die Diskussion dadurch versachlichen lässt.