Liebes Fräulein Grete

Franz Kafkas Briefe an Grete Bloch in einer Edition des Marbacher Literaturarchivs

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Grete Bloch gehörte wahrscheinlich nicht zu den herausragenden Frauenfiguren in Kafkas Leben. Dennoch spielte sie in der Beziehung zwischen ihm und Felice Bauer eine entscheidende Rolle und wurde viele Monate lang zu einer wichtigen Ansprechpartnerin für den Prager Schriftsteller, genauer zwischen dem 30. Oktober 1913 und dem 12. Juli 1914. Der eine Termin markiert den Tag des ersten Zusammentreffens mit ihr im Prager Hotel „Schwarzes Roß“; das andere Datum steht für den so genannten „Gerichtshof im Hotel“, das Treffen zwischen Franz Kafka, Felice Bauer, Grete Bloch, Ernst Weiß und Felices Schwester Erna Bauer im Berliner Hotel „Askanischer Hof“, bei dem das Verlöbnis zwischen Felice Bauer und Franz Kafka gelöst wurde.

Wie Grete Bloch im Spätherbst 1913 diejenige war, die Kafka und Felice zur Verlobung riet, die dann Pfingsten 1914 stattfand, so war sie auch beteiligt bei deren Auflösung nur ein paar Wochen später am 12. Juli 1914. Die vielen Briefe, die Kafka in den acht Monaten der engeren Bekanntschaft an Grete Bloch schrieb, sind ein Beleg für seine inneren Anspannungen, Vorbehalte und Ängste vor und nach der Verlobung. Grete Bloch zeigte einige der kritischen Sätze, die Kafka über sich selbst und sein Verhältnis zu Felice geschrieben hatte, ihrer Freundin. Für diese waren sie der Anlass, mit ihrem Verlobten hart ins Gericht zu gehen und die Entlobung zu verlangen.

Grete Bloch muss von Anfang an einen großen Eindruck auf Kafka gemacht haben. Im ersten Brief nach dem Prager Treffen räumt er ein, er habe eigentlich „ein älteres Fräulein mit mütterlichem Sinn“ anzutreffen erwartet, nicht aber „ein zartes, junges, gewiß etwas merkwürdiges Mädchen“. Die Briefe der Marbacher Ausgabe geben ein beredtes Zeugnis von Kafkas Bewunderung für Grete Blochs aufgeschlossenes Wesen, ihre „ungeheuere Lebenskraft“ und ihre Energie. Nach dem „Gerichtshof“, wie Kafka das Treffen im „Askanischen Hof“ in seinem Tagebuch bezeichnete, hegt er keinen Groll ihr gegenüber. In dem einzigen längeren Brief an sie nach dem 12. Juli heißt es: „Sie sagen zwar, daß ich Sie hasse, es ist aber nicht wahr. […] Sie saßen zwar im Askanischen Hof als Richterin über mir – es war abscheulich für Sie, für mich, für alle – aber es sah nur so aus, in Wirklichkeit saß ich auf Ihrem Platz und habe ihn bis heute nicht verlassen.“

Die 1967er-Edition der „Brief an Felice“ enthält die Briefe, die Kafka an das „liebe Fräulein Grete“ schrieb; sie sind Teil der Felice-Korrespondenz „aus der Verlobungszeit“. Das ergibt Sinn; denn die Briefe an Grete Bloch sind nur im Kontext der Briefe Kafkas an Felice Bauer angemessen zu bewerten und zu verstehen. Grete Bloch war für eine Zeit lang Beobachterin und Beteiligte im Beziehungs- und Verlobungsdrama zwischen Kafka und Felice Bauer. Danach versickerte die Korrespondenz zwischen Kafka und ihr. Sie verschwand aus Kafkas Leben, obgleich er sie noch einige Male in Briefen an Felice erwähnte und Grüße an sie bestellte. – Gretes und Felices Freundschaft überdauerte die Bekanntschaft mit Kafka um viele Jahre. 1935 auf dem Weg ins Exil nach Israel und später zurück nach Italien besuchte sie Felice in Genf und übergab ihr dort einen Teil der Briefe Franz Kafkas.

Die Edition des Marbacher Literaturarchivs und der Wiedeking Stiftung Stuttgart mit dem ansprechenden Titel „Geteilte Post. 28 Briefe an Grete Bloch“ enthält die vollständigen 28 Briefe, die Grete Bloch im Juli 1914 Felice in Ausschnitten – sie hatte die allzu persönlichen Passagen herausgetrennt – vorlegte. Bis gegen Ende ihres Lebens bewahrte Grete Bloch einen Teil der Korrespondenz auf. Erst kurz vor ihrer Deportation 1944 durch die Nationalsozialisten aus einem kleinen italienischen Bergdorf, in dem sie sich versteckt hielt, übergab sie die Briefe ihrer Italienischlehrerin, aus deren Nachlass sie jetzt nach vielen Jahrzehnten nach Marbach gelangt sind. – Grete Bloch wurde ins Konzentrationslager Ausschwitz deportiert und dort ermordet.

Die in Heft 3 des Deutschen Literaturarchivs vorgelegten 28 Briefe sind aus mehreren Gründen aufschlussreich. Sie sind zum einen, neben den Briefen an Felice selbst, ein Dokument der schwierigen Beziehung zwischen Franz Kafka und Felice Bauer, vor allem in den Monaten vor und den Wochen nach der Verlobung 1914. Sie lesen sich wie ein großes Beziehungsdrama zwischen zwei Menschen, die glauben wollen und hoffen, sie seien füreinander bestimmt, gleichzeitig daran aber die heftigsten Zweifel hegen. So schreibt Kafka Grete Bloch am 21. März 1914 von einem „Expreßbrief“, den er von Felice bekommen habe, dessen Klarheit „fast vollständig“ gewesen sei und ihn zu einem „vielleicht, wahrscheinlich […] letzten Brief an F.“ veranlasst habe. Er schließt das Schreiben mit der trostlosen Feststellung: „Aber sie kann mir gegenüber eben nicht anders und wir müssen uns fügen. Vielleicht ist es die gleiche Gewalt, die mich an ihr festhält und sie von mir abhält. Da gibt es wirklich keine Hilfe.“

Dieses Hin und Her zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Selbstzweifeln und Selbstanklagen, Absagen und doch immer wieder neuen Reisen nach Berlin und Briefen an Felice, die Fragen stellen und mehr in der Schwebe lassen, als etwas zu einer Entscheidung und einem Abschluss zu bringen, kennt man zur Genüge aus den Briefen an Felice. Hier, in der Edition „Geteilte Post“, werden die Vorbehalte und Zweifel dadurch, dass sie an eine Dritte gerichtet sind, die wie eine übergeordnete Instanz über die Beziehung von Prag nach Berlin zu wachen und zu urteilen scheint, ins zum Teil Monströse verstärkt. Kafka nennt Grete Bloch später seine Richterin bei der Auflösung der Verlobung im „Gerichtshof im Hotel“. Was sich in den Briefen an Felice als private, manchmal offenere, manchmal eher verschleiertere Meinung liest, wird in den Briefen an Grete Bloch zur unumstößlichen Tatsache.

Das merkwürdig Groteske der Kafka-Briefe an Grete Bloch hängt mit einem weiteren Aspekt zusammen. Wenn Kafka in den Schreiben nach Wien Felices Briefe zusammenfasst, kommentiert, interpretiert, wenn er Felices Äußerungen, die nur für ihn bestimmt sind, wiederholt, wenn er Felice charakterisiert und ihre Einstellung zu einer engeren Bindung mit ihm dreht und wendet und über seine Vorbehalte gegenüber Felice spricht, dann liegt darin eine grobe Verletzung der Vertraulichkeit der Korrespondenz mit Felice. Indem er so unverhohlen ehrlich über sie schreibt, macht er sie zu einem Gegenstand in seinen Briefen. Er degradiert sie zu einem Gesprächsthema, beraubt sie ihrer Persönlichkeit, macht sie zu einem Objekt.

Das vor allem wird wohl am 12. Juli im „Askanischen Hof“ zu den bösen Worten und Reaktionen und schließlich zur Entlobung geführt haben, nachdem – wegen eines schlechten Gewissens? wegen irgendwelcher Eifersuchtsgefühle gar? – Grete Bloch die 28 Briefe, die in der Marbacher Ausgabe zusammengefasst sind, ihrer Freundin Felice gezeigt und übergeben hat. Vorenthalten hat sie ihr nur jene Stellen mit eher persönlichem Inhalt. Felice ist sensibel und klug genug, gerade in der distanziert-abgehobenen Art, in der Kafka und Grete Bloch über sie korrespondiert haben, etwas zutiefst Anstößiges, Erniedrigendes und Verletzendes zu sehen. Getroffen haben sie wohl auch Äußerungen, in denen Kafka sie wegen ihres Verlobungskleides oder ihrer Goldzähne leicht verspottet oder fast verhöhnt. Sie muss erkennen, dass sie zum Gerede zwischen ihrem Verlobten und ihrer Freundin geworden ist.

Die Briefe zwischen dem 30. November 1913 und dem 15. Oktober 1914 sind ein „Spiel zu dritt“ (R. Stach). Dazu passt, dass die Briefe an Grete Bloch nach Wien gelöster, heiterer, ja gelegentlich komischer und insgesamt positiver klingen als die Schreiben nach Berlin an Felice Bauer. Es sind keine Liebesbriefe, die Kafka an das „liebe Fräulein Grete“ richtet; sie übertreffen aber im liebenswürdigen Ton die Briefe an Felice bei weitem. Auffällig wird der Unterschied, um ein Beispiel zu geben, am Kürzel F., das Kafka in den Wochen und Monaten um die Verlobung herum häufig in der Anrede an Felice oder für sich am Ende des Briefes benutzt. Die Abkürzung ist kein Zeichen irgendeiner Nähe oder Vertrautheit, sondern stellt eher eine beamtenhafte Beiläufigkeit dar, die nicht weit von einer, sicherlich ungewollten, Geringschätzung der Ansprechpartnerin Felice Bauer entfernt ist.

In vielen Passagen lesen sich die Briefe an Grete Bloch als heiter-freundliche Korrespondenzen. Es finden sich haufenweise Sätze wie „Sie sind also das beste liebste und bravste Geschöpf“ oder „Es ist sehr lieb von Ihnen, daß Sie [nach Berlin] gekommen sind, sehr lieb“ oder „Das Liebste und Schönste unter dem Lieben und Schönen, das Sie geschickt haben ist Ihr Bild“ oder „Ich habe eine ganz offenbare und wirkliche Sehnsucht nach Ihnen.“ In einem Brief nennt Kafka Grete Bloch „Frühjahrskind“, weil sie am 21. März geboren ist.

Solche zum Teil durchaus intimen Formulierungen offenbaren, dass Kafka in Grete eine Frau gefunden hat, der er zugetan sein konnte und mit der er einige der Bedenken und Ängste in der Beziehung zu Felice ungeschminkt ansprechen durfte. Die freundliche Zuneigung ging so weit, dass Kafka in seinen Briefen an Grete Bloch sogar komische Nachfragen stellte und eigenartige Ratschläge hinsichtlich vegetarischer Speisen oder der Naturheilkunde oder der richtigen Zahnreinigung gab und – deutlich selbstironisch – mit seinen „naturheilgemäßen“ Vorlieben und seinen eigenartigen Vorbehalten gegenüber Ärzten kokettierte. In den Briefen an Felice wären im Frühjahr 1914 solche spielerisch-leichten Äußerungen undenkbar gewesen. Felice Bauer muss das schmerzlich gespürt haben, als Grete Bloch ihr diese Briefe auszugsweise überließ. Nicht sie, die Verlobte, war es, der Kafka sich in einer so liebenswürdigen Art öffnete, sondern eine Frau, die Kafka erst seit kurzem kannte, die er aber offensichtlich schätzte.

Die Briefe an Grete Bloch zeigen Kafka – darin unterscheiden sie sich nicht von seinen anderen Korrespondenzen – als obsessiven Briefschreiber, der seine Adressaten mit seinen Schreiben regelrecht „überfahren“ und überfordert haben muss. Dabei widerfährt Grete Bloch bereits nach wenigen Briefen, was in den Hunderten von Briefen an Felice häufig zu beobachten ist: Sie wird zu einer „literarisierten“ Briefpartnerin. Für Kafka wird aus dem Kommunikationsmittel Brief Literatur. „Es entschwindet mir aber die Vorstellung, an wen ich schreibe, und ich bin wie im Nebel“, heißt es in einem Brief an Grete Bloch. Der Adressat verschwindet hinter der Sprache. Die Sätze verselbständigen sich und fallen aus dem Brief-Kontext heraus. Erst mit diesen literarisierten Sätzen verschafft sich Kafka eine Möglichkeit, das, was ihn innerlich beschäftigt, zu versprachlichen und für sich selbst, wie es scheint, erfahrbar zu machen und innerlich zu verarbeiten.

Im Brief, den Kafka am 3. Mai 1914 an Grete Bloch schreibt, bedankt er sich für ein Foto, das sie ihm geschickt hat. Er fährt, wie immer mit entwaffnender Ehrlichkeit und ohne Angst vor Selbstenthüllung, fort: „Ich merkte, ich hatte Ihr Gesicht ganz vergessen; seit jener Zeit hat es sich in meiner Erinnerung ganz aufgelöst und was sich allmählich im Laufe der Zeit zu einem neuen Menschenbild zusammensetzte, war ein Mensch, an dem mir so viel lag, daß ich glaubte, an seinem Gesicht könne mir gar nichts liegen.“

Über den Worten, über dem Schreibvorgang verliert er sein Gegenüber aus dem Blick, nicht anders kann man das Vergessen des Gesichts interpretieren, und schafft sich aus Worten ein „neues Menschenbild“. Er entpersönlicht diejenige, mit der er korrespondiert, um dann anschließend jemanden aus Sprache entstehen zu lassen, mit dem er seine intimen Gedanken auf einer distanzierteren Ebene austauschen und über seine Wünsche und seine Vorstellungen sprechen kann. Er literarisiert seine Beziehung zum Briefpartner. In der Fiktion wird die Beziehung nach allen Seiten hin deutbar. Er erhält so die Freiheit, sie als lose oder stärkere Bindung zu „realisieren“. Aus seinem Gegenüber macht er eine bloße „Brieffigur“, die ein literarisches Leben führt, nicht ihr eigenes.

Literatur spielt in den 28 Briefen an Grete Bloch wiederholt eine Rolle. Kafka empfiehlt Grete Bloch, das Grillparzerzimmer in Wien zu besuchen, und legt ihr Grillparzers Novelle „Der arme Spielmann“ ans Herz. Und an einer Stelle macht sich – mehr zwischen den Zeilen als direkt – der Dichter Kafka bemerkbar. „Sagte ich Ihnen nicht“, steht da im vorletzten Brief der Marbacher Archiv-Edition, geschrieben kurz vor dem Verlobungstag am Pfingstfest, „daß ich vor den Feiertagen zu schreiben angefangen habe?“ Und dann folgt, in Klammern als bedeutsam herausgehoben, ein Zusatz: „(Darauf sagten Sie übrigens etwas merkwürdig Falsches: es wäre nicht das Wichtigste)“.

Der Klammerzusatz stellt die Prioritäten für Kafka wie nebenbei, aber unwiderruflich her: zuerst die Literatur, dann das Leben. Die Worte knüpfen an die zahllosen Sätze in der Felice-Korrespondenz über Schreiben und Dichten an. „Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts andreres und kann nichts anderes sein“, heißt es da. Die Verlobung mit Felice, die zu Pfingsten in Berlin stattfand und sechs Wochen später im „Gerichtshof“-Hotel gelöst wurde, konnte eigentlich, das macht der Satz in Klammern auf tragische Weise deutlich, niemals zu einem Teil von Kafka werden. Das Scheitern der Beziehung mit Felice war vorherbestimmt. – Übrigens begann Kafka nur wenige Wochen nach dem „Entlobungstreffen“ mit der Niederschrift seines Romans „Der Prozeß“, in dem einige Interpreten auch Kafkas „Gefangensein“ in der Verlobung mit Felice Bauer erkennen wollen.

Titelbild

Franz Kafka: Geteilte Post. 28 Briefe an Grete Bloch.
Herausgegeben von Hans-Gerd Koch.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2011.
68 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783937384795

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