Legenden des Opfermutes

Linda Maria Koldau rekonstruiert Ablauf und Nachgeschichte einer vermeidbaren Schiffskatastrophe

Von Klaus-Jürgen BremmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus-Jürgen Bremm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fraglos besitzen von Menschen verursachte Katastrophen den medialen Reiz, dass Edelmut und Opfersinn der Betroffenen dann umso heller erstrahlen können und ein tröstliches Gegenbild zu jener humanen Hybris entwerfen, die oft am Anfang des Unheils stand. In dieser Hinsicht behauptet der Untergang der Titanic am frühen Morgen des 15. April 1912 nach wie vor seinen prominenten Platz im Panorama der fatalen Havarien. Mit rund 1.500 Opfern war der Verlust des Luxusliners allerdings nicht die verlustreichste Schiffskatastrophe in der zivilen Seefahrt, doch zum Zeitpunkt des Untergangs war das zweite Flaggschiff der britischen White Star Line immerhin der größte Passagierdampfer der Welt, dicht gefolgt von ihrem fast baugleichen Schwesterschiff „Olympic“, die ihre Jungfernfahrt über den Atlantik ein Jahr zuvor beinahe problemlos und von der Öffentlichkeit kaum beachtet absolviert hatte.

Nicht aber der Untergang der Titanic selbst, sondern vielmehr dessen Wahrnehmung legten schließlich seinen Rang im irritierenden Panoptikum des menschlichen Scheiterns fest. Durch das von Anfang an sprießende Dickicht von Legenden, Lügen und Lobeshymnen auf vermeintliche und tatsächliche Helden schlägt die Kulturhistorikerin und Musikwissenschaftlerin Linda Maria Koldau eine eindrucksvolle Schneise kritischer Fragen. Unter ausführlicher Würdigung aller verfügbaren Quellen rekonstruiert sie den bis heute spektakulärsten Schiffsuntergang in der Geschichte der Seefahrt und verabschiedet damit die cineastischen Bilder vom einsamen Sinken der Titanic im eisigen Nordatlantik. Tatsächlich hatte die Titanic keinen einzelnen, verirrten Eisberg gerammt, sondern war trotz beschränkter Sicht mit ihrer äußersten Kraft von 22 Knoten pro Stunde in ein ausgedehntes Eisfeld gerast, vor dem sie zuvor durch immerhin sechs Meldungen gewarnt worden war. Auch war sie in ihren letzten dramatischen Stunden keineswegs allein, befand sie sich doch immerhin auf einer der meist befahrenen Routen des Atlantiks. Mindestens ein Dutzend Schiffe in ihrer Reichweite waren auf sie aufmerksam geworden, ohne allerdings zu wissen, dass das „praktisch unsinkbare Schiff“ tatsächlich dem Untergang geweiht war. Dazu waren die abgegebenen Leuchtsignale der Titanic und auch die Funkmeldungen zu unklar.

Dem anfragenden Frachter „Frankfurt“ (Was ist los?) antworteten die im Dienste der Firma Marconi stehenden Funker der Titanic sogar recht unbritisch mit YAAF (You are a Fool). Man wollte eben lieber von einem britischen oder besser noch von einem Schiff der White Star Line gerettet werden. Das sparte Bergungskosten. Aber einzig der Kapitän des Passagierdampfers „Carpathia“ fasste schließlich den Mut, mit voller Kraft bei stockfinsterer Nacht durch ein Eisfeld zu dampfen, in dem die meisten anderen Schiffe vorsichtshalber ihre Maschinen gestoppt hatten. Ganz nebenbei erhält der Leser bei der Lektüre des kenntnisreichen Buches auch einen ungemütlichen Eindruck davon, was selbst bei einer mit leistungsfähiger Technik und modernen Kommunikationsmitteln ausgestatten Seefahrt alles schief gehen kann. Auch dann bleibt die See eine kaum beherrschbare Herausforderung, und wer sich zum reinen Vergnügen auf sie einlässt, sollte lieber zweimal nachdenken. Der instruktive und gleichwohl handliche Band über die wohl spektakulärste Schiffskatastrophe des 20. Jahrhunderts, der sich auch ausführlich mit der literarischen und cineastischen Aufarbeitung des Themas befasst, ragt zweifellos aus der Flut der übrigen Publikationen zu dem Thema hervor.

Titelbild

Linda Maria Koldau: Titanic. Das Schiff, der Untergang, die Legenden.
Verlag C.H.Beck, München 2012.
303 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406624247

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