Karl May – unerhört vielseitig

Über Gert Uedings Essay-Sammlung

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Sammlung von Essays Gert Uedings über Karl May (1842-1912), der in diesem Jahr seinen 100. Todestag hat, ist eine anregende und packende Lektüre sogar für den, der nicht eine Zeile von Karl May kennt. Etwa wenn Ueding Moritz von Schwinds Gemälde „Der Traum des Gefangenen“ bespricht, dieses Lieblingsbild Sigmund Freuds, dabei die „sanftsäuselnde Luft“ aus Beethovens Florestan-Arie („Fidelio“) entdeckt und von da aus die vielfältige „ästhetische Erfahrung“ als „Wunscherfüllung“ entschlüsselt. Oder wenn er die letzten Jahre Karl Mays, die Prozess-Jahre, beleuchtet und dabei die wilhelminische Zeit charakterisiert, deren „Borniertheit, Engherzigkeit und Prüderie geradezu sprichwörtlich geworden ist“. Oder wenn er in seinem Arzt-Essay mit dem Untertitel „Heile und unheile Welten“ zu Paracelsus zurückgeht – die Vertreibung aus dem Paradies sei die große Erkrankung, sagte er – und zu Jesus – der sich mit den Sündern und den Kranken abgab – und dann in neuere Romane blickt, wo die chronisch kranke Gesellschaft beschrieben wird und, „wie in einem virtuellen Bilde, der eigentliche Patient“ auftaucht: Es ist „der Leser“.

Zugleich und vor allem natürlich ist Uedings Buch etwas für die May-Leser und May-Spezialisten. Denn es führt präzise hinein in die Einzelheiten von Mays Formulierungen und Mays Weltentwürfen. Da geht es um die Anfänge in Mays Erzählungen – um das Greenhorn und seinen Wildwest-Freund Sam Hawkens, Motive, mit denen May „den Aneignungsprozeß des Fremden in allen seinen Stufen“ thematisiert, und um das Gasthaus in dem mexikanischen Hafenort Guaymas, wo dem Ankömmling „das Phantastische als das Alltägliche, nicht etwa als Ulk oder Maskerade begegnet“. Oder, nochmals zum Thema Arzt, Ueding nennt die Heilkünste von Mays Hauptheld Kara Ben Nemsi und auch Mays diesbezügliche Selbstparodie, den Don Parmesan vom Rio de le Plata mit seiner komödiantischen Phrase: „Ich säble alles, alles herunter“, und deutet das May’sche Streben nach dem ganzheitlichen Heil-Sein. Natürlich ist es ein Vergnügen für den May-Freund, Mays Namen hier in der Nähe der ganz Großen zu finden; wie Plato („die Dichter lügen“), Aristoteles („Dichtung hat therapeutische Wirkung“), Adorno („Auflösung des Subjekts“), Schiller (den May in „aufgedonnerten“ idealistischen Formulierungen wiederholt).

Ueding ist Rhetoriker und Kulturwissenschaftler. In seinen Literaturanalysen betrachtet er den Menschen in seiner Lebenswelt mit seiner Macht, seiner Ohnmacht, seinem kreativen Wollen. Uedings Literaturdeutung ist in erster Linie literarische Anthropologie. Der Stil der Essays ist unaufgeregt, ja heiter, immer dem Leser zugewandt und, möchte ich sagen, einladend. Ueding nimmt gleichsam die Leser an die Hand, führt sie durch seine Assoziationen und Schlüsse, die auch in langen Sätzen wunderbar durchsichtig sind.

Die acht Seiten „Literaturnachweis“, dies ein Kritikpunkt, sind missraten: mit Druckfehlern (bis hin zur Namensverwechslung), irreführend (von „Ardistan und Dschinnistan“ wird die Buchfassung genannt, obwohl, der Kenner merkt es, die Essays die Zeitschriftenfassung zitieren) und unvollständig – Ueding benutzt nicht nur die paar May-Veröffentlichungen, die er in der Liste nennt, sondern zitiert aus viel mehr May’schen Werken. Da sind wir wieder bei einem Vorzug von Uedings Interpretationen: Ueding zieht den ganzen May heran, den Kolportage-Autor („Das Waldröschen“) ebenso wie den des „Winnetou“, des „Old Surehand“, des „Mahdi“ und der anderen klassisch gewordenen Reiseerzählungen, den Verfasser von Dorfgeschichten ebenso wie den Selbstbiografen, den theoretisierenden May ebenso wie den späten Epiker, also den Autor von „Ardistan und Dschinnistan“.

Der letzte Essay im Buch mit dem Titel „Leben aus der Totenstadt“ ist eine tiefsinnige Einführung in den Dschinnistan-Roman, diesen allegorischen Reisebericht, der ein edles Reich der Zukunft erträumt und doch, wie Ueding betont, immer auf das Jetzt achtet und „die Verwandlung und Erneuerung der alten Welt“ haben will. Die alte Frau Marah Durimeh vom Lande der Sternenblumen sei eine Wiedergeburt der Makarie aus Goethes „Wilhelm Meister“.

Gert Ueding leistet Interdisziplinarität und intertextuelles Forschen auf höchstem Niveau. Er ist nicht darauf aus, sensationelle Thesen über Karl May zu präsentieren. (Wir erinnern uns: Solche Thesen haben Arno Schmidt und Ernst Bloch ausgesprochen; für Schmidt war May der „Großmystiker“, für Bloch der Dichter, der „ehrlichen Revolutionsersatz“ liefert.) Der Wert von Uedings May-Analysen liegt darin, dass frappierende Textdetail-Beobachtungen gemacht, kühne Bogen geschlagen und scharfsinnige Einordnungen in die Geistesgeschichte vorgenommen werden. Zu den bisherigen Beispielen noch dieses: Im Essay „Ich blieb ein Kind für alle Zeit“ (ein May-Zitat) geht es um die weltoffene Haltung der Kinder, um den möglichen Neuanfang durch die Rückkehr zum Kind-Sein, darum eben, dass Mays Kindlich-Sein keine Regression ist. Dieser Gedanke ist nicht neu, ist von Ernst Bloch und Claus Roxin gründlich ausgearbeitet worden (Ueding nennt sie beide), wird aber hier weiter psychologisch und soziologisch entfaltet.

Überhaupt ist Gert Uedings Hauptanreger Ernst Bloch, sein „Prinzip Hoffnung“, seine Theorie vom Vorschein der Kunst. Ueding schreibt: „Die Genialität Karl Mays liegt auch darin begründet, daß er, vermittelt durch den eigenen Wunsch nach einer neuen, unbefleckten, reinen Lebensgeschichte, diesen Wunsch seiner Leser wahrnahm, auch aus ihrer Vorgeschichte heraus und in die wahre Geschichte einzutreten.“

Zu dieser Aussage (aus dem frühesten Essay) gibt es eine ähnliche im Vorwort, die uns die Sache konkreter und sinnlicher darbietet: „Tatsächlich ist die gewaltige historische Leistung des Christoph Kolumbus nicht denkbar ohne den utopischen Treibstoff der Phantasie, der noch 400 Jahre später die Einbildungskraft unseres sächsischen Erzählers beschleunigte. Einen neuen Himmel und eine neue Erde zu entdecken, sind jedenfalls beide ausgezogen […].“ Aber Ueding verlässt auch diesen Ansatz oder vertieft ihn vielmehr, wenn er das Nichtige und Eitle in Mays Reiseschilderungen nennt. Sie haben, sagt er, „einen Mechanismus von Kreuzundquerzügen, der sich selbst in Gang hält“ und der nur eine „kurzatmige Rationalität“ bezeugt. Gewiss, May liebte die Indianer, trat für ihr Lebensrecht ein, aber dann ist es doch so, dass „die Parteinahme für die Indianer aus erzähltechnischen Gründen ganz schnell in die Parteinahme für bestimmte Indianerstämme umschlagen kann“. Karl May dachte aufklärerisch, dachte aber auch vorwissenschaftlich-spekulativ, er erzählte eindeutig Privates und eindeutig Historisches zugleich.

Keine sensationelle These bei Ueding? Ueding hat eine radikale These über Mays Schaffen aufgestellt, die bisher wenig beachtet worden ist, obwohl der betreffende Essay mit dem Titel „Das Spiel der Spiegelungen“, hier wieder enthalten, bereits 1990 gedruckt worden ist. Über Mays Superhelden, den alles könnenden Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi, sagt Ueding, er sei „ein Mann ohne Eigenschaften. Seine angebliche Fülle ist die Leere einer totalen Beliebigkeit“. Mays Held habe jeweils gerade die Fähigkeiten und Kenntnisse, die momentan gebraucht werden. Ich denke, es ist eine umstürzlerische These und eine fruchtbare. Denn unglaublich erhellend ist es, in Mays Reise- und Abenteuererzählungen diesen Haupthelden sich einmal wegzudenken, also diesen ‚leeren Helden‘ oder abstrakten Helden zu entfernen und auf diese Weise den Blick zu schärfen für den ‚realistischen‘, den ‚naturalistischen‘, den ‚bescheidenen‘ Literaten May. Man sollte sich gleichzeitig klarmachen, dass May, wie sein abstrakter Held bezeugt, viel von Abstraktion und von Deontologisierung wusste. May war damit typisch für die Jahrhundertwende um 1900. An anderer Stelle, im Essay „Das Geschriebene verschwindet“, sagt Ueding, in Mays Landschaftsschilderungen zeige sich „das mathematisch Erhabene“. Die mathematische Abstraktion etwa? Wir sehen: Ueding deutet noch sehr viel an. Er hat seine Exegesen des Schriftstellers Karl May noch längst nicht zu Ende geschrieben.

Titelbild

Gert Ueding: Utopisches Grenzland. Über Karl May. Essays.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2012.
303 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-13: 9783863510299

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