„Die Ahnung eines Zusammenhanges von allem mit mir selbst“

Mit dem Journal „Ruhm am Nachmittag“ beschließt Karl-Markus Gauß seine Bilanz einer Dekade

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum vierten Mal lässt uns Karl-Markus Gauß teilhaben an seiner Inspektion des Zeitgeschehens in Form eines Journals. Dieses Genre ist viel weltzugewandter als das Tagebuch und lässt weitaus mehr zu. Der österreichische Autor nutzt diese Möglichkeiten, indem er Reise- und Lektüreerlebnisse, erzählerische Partien mit Reflexionen abwechseln lässt, wobei er mitunter von sich in der dritten Person spricht und dabei hinter dem, was er mitzuteilen hat, diskret zurücktritt. Zeitung und Fernsehen liefern oft die Stichworte, die zu zeitkritischen Betrachtungen führen. Auch wenn man Manches durchaus für sich lesen könnte, entfalten sich die Eintragungen in ihren Beziehungslinien untereinander erst im Kontext einer unablässigen Selbsterkundung und -verortung. Dieser große Zusammenhang relativiert an manchen Stellen wieder feste Urteile. Gauß schreibt, um sich selbst „beim Verfertigen von Gedanken weiterzuhelfen“, wie er kürzlich in einem Interview sagte, um „schreibend so etwas wie die Ahnung eines Zusammenhanges von allem mit mir selbst herzustellen“.

Das erste große Stichwort ist die Finanzkrise im Jahre 2008, die Anlass gibt, über Spekulantentum nachzudenken. Gauß verliert dabei nie den Blick für die handgreifliche Wirklichkeit, wenn er etwa Obdachlose vor der Brüsseler Börse mit den globalen Finanzgeschäften in Verbindung bringt. Das mittlerweile schon etwas abgenutzte Schlagwort „Dienstleistungsgesellschaft“ wird geistreich umgedeutet: „Sie verdient ihren Namen, weil sie uns nötigt, immer mehr Dienste für Unternehmen zu leisten, die sich an uns und den Diensten, die wir für sie verrichten, bereichern.“ An anderer Stelle wird die vermeintliche Zeitersparnis durch Computerisierung in der paradoxen Zuspitzung „Alles wird schneller, dafür brauchen wir länger“ mit den Erfahrungen des Autors aus seiner Redaktionstätigkeit als Herausgeber der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ als recht zwiespältig entlarvt. Wenn sich Gauß’ biografische Erfahrung des Älterwerdens und die Erfahrung der Modernisierung in der Welt perspektivisch befruchten, so hat das vielleicht etwas Nostalgisches – die kleine Betrachtung über das Zugreisen gestern und heute ist dafür ein schönes Beispiel –, wird jedoch nie larmoyant. Überhaupt sind es der ständige Fokuswechsel – vom persönlichen Naherfahrungsbereich und davon ausgehenden Erinnerungsbewegungen wieder zum Zeit- und Weltgeschehen – sowie das Abwechseln von erzählerischen Passagen mit essayistisch-reflektierenden, die den Eintragungen ihren Rhythmus verleihen und sie zu einer kurzweiligen Lektüre machen. Dem schon vielfältig Kommentierten und vermeintlich Altbekannten gewinnt der Leser in Gauß’ subjektiver Beleuchtung noch etwas ab. Auf äußere, kalendarische Zeitmarkierungen hat der Autor klugerweise verzichtet, da die Betrachtungen – die erzählerischen Partien sind ohnehin frei davon – stets über die Tagesaktualität hinauszielen. Der Blickwinkel ist weniger: Was war damals (für mich) wichtig?, sondern: Was ist auch heute noch virulent?

Der Mittelteil des Journals steht unter dem Titel „Kurze Chronik vom Leben und Sterben im Jahr 2009“ und setzt damit einen thematischen Schwerpunkt, wie er auch bereits die hintersinnige Glossensammlung des Verfassers „Der Mann, der ins Gefrierfach wollte“ von 1999 eingeleitet hat. Der Amoklauf von Winnenden, die Schweinegrippe, Todesfälle von Schriftstellern, die Gauß etwas bedeuteten, aber vor allem auch das in der medialen Öffentlichkeit inszenierte Sterben: von der Reality- und Talkshow, die Gauß medienkritisch unter die Lupe nimmt – von hier ist auch der Titel des ganzen Bandes „Ruhm am Nachmittag“ motiviert – bis hin zum Krebstod von Christoph Schlingensief wechseln ab mit Betrachtungen über den Tod und Freitod in ihren kulturellen und geschichtlichen Kontexten. Hinter dem vordergründigen Interesse am Bizarren und Kuriosen wird stets eine zeitkritische Perspektive sichtbar, die Einzelfälle in einen deutenden Zusammenhang bringt.

Was wir aus Gauß’ früheren Büchern kennen und schätzen: seine Aufmerksamkeit und Sensibilität für randständige Ethnien in Mitteleuropa sowie das Interesse an wenig bekannten, vom Vergessenwerden bedrohten Autoren, die deren Schicksal bezeugen – einen von ihnen, den slowenischen Schriftsteller Boris Pahor, hat Gauß in Triest getroffen – zieht sich durch das ganze Journal und bildet neben den zeitgenössischen Schlagwort-Diskursen einen weiteren roten Faden. Aber auch der aus Rumänien stammende nihilistische Mystiker Émile Cioran, längst im deutschsprachigen Raum kein Geheimtipp mehr und dem Aufklärer Gauß weltanschaulich wohl zutiefst fremd, wird in den Wandlungen seiner Biografie kritisch durchleuchtet und ein wenig seiner Aura entkleidet.

Der dritte und letzte Abschnitt „Nach Österreich und anderswohin“ muss denjenigen enttäuschen, der einen weiteren Beitrag zum austriakischen Subgenre „Österreichbeschimpfung“ erwartet. Gauß’ Blickwinkel umfasst immer sein Heimatland im europäischen und europapolitischen Kontext. Vor allem aber ist er von seinem rhetorischen wie stilistischen Selbstverständnis her niemand, der mit der Sprache herumfuchtelt und wild um sich schlägt, in der Hoffnung, wenigstens irgendetwas zu treffen. Sein Stil- und Schreibprinzip ist das des geringsten Kraftaufwandes: So wie ein Chirurg mit geübten Handgriffen operiert und nicht daran denkt, wie das anzuschauen wäre oder ein Tennisspieler ein ‚schönes‘ Tennis spielt, auch wenn er damit nicht immer gewinnen mag, hat das eine eigene Ästhetik. Wenn Gauß mehr oder weniger prominente (österreichische) Politiker ins Visier nimmt, ist nicht das Ressentiment die treibende Kraft, sondern sein aufklärerischer Impetus. So wird in den Miniporträts von Tony Blair, Wolfgang Schüssel und Alfred Gusenbauer – kleine Meisterstücke voller funkelndem, hoch dosiertem Sarkasmus – ein Politikertypus kenntlich gemacht, der seine sozialdemokratischen Ideale längst an seine Macht- und Geldgier verraten hat: „Wie sie sich doch gleichen, Blair, Schröder, die abgedankten Sozialdemokraten Europas, je mehr sie in sich hineinstopfen, desto hungriger werden sie“. Andere Zeitthemen, wie die Privatisierung im Bildungs- und Gesundheitswesen, werden an österreichischen Beispielen entfaltet, sind aber bekanntlich nicht auf Österreich beschränkt.

So fremd wie die exaltierte Rhetorik der Österreichbeschimpfung ist Gauß aber auch ein zeitdiagnostisches, mit metaphysischer Resonanz daherkommendes Schreiben in einem raunenden Tonfall, das seine tiefere Bedeutung nicht zuletzt aus einer esoterisch-elitären Selbststilisierung zu gewinnen sucht wie etwa bei seinem deutschen Kollegen Botho Strauß.

Die Balance zwischen wacher Zeitbeobachtung und Selbsterkundung ohne jeden Anflug von Nabelschau ist geglückt und wir als Leser begleiten den Salzburger „Journal-isten“ gerne auch durch die kommenden Jahrzehnte.

Titelbild

Karl-Markus Gauß: Ruhm am Nachmittag.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012.
283 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783552055674

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