Meister aller Klassen

Über Roland Emmerichs Film „Anonymous“, aus Anlass einer neu kommentierten Ausgabe von William Shakespeares sämtlichen Werken

Von Patrick MenselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Mensel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Diskussion währt schon lange, neuerdings befeuert von Roland Emmerichs letztem Film „Anonymous“: Ist William Shakespeare tatsächlich der wahre Autor dieses riesigen Repertoires an Werken wie „Hamlet“ oder „Macbeth“ gewesen?

Die neuste deutschsprachige Gesamtausgabe erscheint in zeitlicher Nähe zum Film. Dieser weist eine einfache Rahmenhandlung auf. Zu Beginn flüchtet ein Mann durch die schlammigen Straßen und Gassen Londons, um den königlichen Häschern zu entgehen. Auf den zur besseren Begehbarkeit des Bodens aufgelegten Planken findet er seinen Weg zur Shakespear’schen Wirkungsstätte: dem Globe Theatre. Unter dem Arm trägt er diverse Manuskripte, gerade so, als hüte er Englands kostbarsten Schatz. Er deponiert in aller Eile die Schriftstücke im doppelten Boden der Bühne und schon zünden die Verfolger das Theater an und bringen den Mann zum Verhör in den Tower. Gegen Ende tritt der gleiche Mann wieder auf und findet zwischen den verkohlten Balken und Bühnenbrettern – wie durch ein Wunder bewahrt – die unversehrt gebliebenen Werke, deren Aufführungen noch heute ganze Säle füllen.

Emmerich hat sich dabei für Edward de Vere entschieden. Der 17. Earl of Oxford soll der eigentliche Verfasser der zahlreichen Bühnenstücke gewesen sein. Neu ist die Theorie nicht. Angeblich solle de Vere Shakespeare als Marionette eingesetzt haben: Unter seinem eigenen Namen war es ihm nicht möglich, solche Stücke zu publizieren – und so setzte er Shakespeare als Strohmann ein und lieferte dem Publikum ein Gesicht zu den magischen Versen. Diese Verschwörungstheorie ist unter dem Namen „Oxford-These“ bekannt geworden. Geprägt wurde sie von einem englischen Laienprediger, aber wirklich bekannt wurde sie erst durch ihre berühmten Anhänger. So war auch Sigmund Freud derselben Meinung. Emmerich hat diese Strömung in seinem Film aufgefangen und sich die historischen Begebenheiten so zurechtgestutzt, wie er sie zur Untermauerung seiner Thesen brauchte. Besonders angreifbar macht sich die Ansicht vor allem dadurch, dass der Earl of Oxford bereits zehn Jahre vorher starb, noch bevor Shakespeare seinen Rückzug aus dem Theatergeschäft verkündete. Aber auch das macht die Verschwörungstheoretiker nicht verlegen: So soll der Earl die Stücke auf Vorrat geschrieben haben und Shakespeare konnte angesichts der unerschöpflichen, kreativen Ader des Edelmannes nach Belieben über einen großen Vorrat an Werken verfügen.

So alt diese Thesen auch sein mögen, einen Sturm der Entrüstung haben sie dennoch heraufbeschworen. Die Einwohner von Shakespeares Geburtsstadt haben aus Protest alle Schilder verhüllt, die auf den großen Dichter hinweisen. In der englischen Presse schwingen leise antideutsche Töne mit. Es dauerte nicht lange, und der Film war in aller Munde. Für Emmerich war diese Werbung unbezahlbar.

So oft auch diese Debatte um die Autorenschaft Shakespeares geführt wird, bleibt doch die Mehrheit bei der naheliegendsten Erklärung: William Shakespeare hat selbst zur Feder gegriffen. Ist es denn so unglaublich, dass der Sohn eines einfachen Handschuhmachers über ein literarisches Genie verfügte? In der damaligen Zeit wurde kein Wort des Zweifels über Shakespeare geäußert. Im Gegenteil, es sind Worte wie „Bühnenerschütterer“, die der Nachwelt erhalten geblieben sind und davon zeugen, dass nicht Zweifel, sondern Neid und Missgunst Shakespeares Aufstieg begleitet haben. Alle großen Autoren der Zeit stammen aus einfachen Verhältnissen. Es sind nicht Earls und Lords, welche die damaligen Theaterbühnen aufgemischt haben, sondern Söldner oder Handwerker. Christopher Marlowe, Thomas Kyd oder Ben Jonson bilden da keine Ausnahme. Erst die Nachwelt kreiert einen Verschwörer-Mythos um Shakespeare: Allen voran das 19. Jahrhundert. Plötzlich ist es undenkbar geworden, dass Verse wie in Hamlet oder Cäsar von einem Mann aus dem Kleinbürgertum stammen sollen. Den Höhepunkt der Zweifel bildet die darwinistische Gesellschaftsbetrachtung. Die sozialen Klassen sind aus dem Ergebnis einer biologisch-genetischen Auswahl entstanden, demzufolge die „Oberen“ den „Unteren“ körperlich-geistig überlegen sind. Eine solche Betrachtung ist heute nichts anderes mehr als eine kuriose Randnotiz, damals aber gelebte Überzeugung. Englands begabtester Schriftsteller durfte schlicht nicht dem einfachen Volk angehören.

Wie auch immer man sich dieser Debatte nähert, wichtig ist es, dass sie den Menschen die Werke Shakespeares immer wieder vor Augen führt. Insofern ist Emmerich zu danken, dass er – als Glied in einer langen Kette von Zweiflern – den Mythos Shakespeares befördert und der kommenden Generation präsentiert.

Werkausgaben zu Shakespeare hat es schon viele gegeben. Eine der neuesten im deutschsprachigen Raum ist vom Aufbau Verlag herausgegeben worden. Sie umfasst alle Werke Shakespeares einschließlich der Sonette. Bei den Übersetzungen wurde teilweise auf die „klassischen“ zurückgegriffen. So ist es die richtige Entscheidung gewesen, dass Schlegels „Hamlet“ ausgewählt wurde. Andere Übersetzungen sind neueren Datums, was aber nicht schlechtere Qualität bedeutet. Hervorzuheben sind die am Ende eines jeden Bands eingefügten Anmerkungen. Hier wird jedes Theaterstück kontextualisiert und anschließend der Text minutiös kommentiert. Fremde Begriffe, Anspielungen und Querverbindungen werden aufgezeigt und sollten gerade dem Shakespeare-Neuling einen geglückten Start in die Welt des englischen Nationaldichters ermöglichen.

„Anonymous“, Großbritannien/Deutschland 2011 – Regie: Roland Emmerich. Darsteller: Rhys Ifans, Vanessa Redgrave, Joely Richardson, Rafe Spall. 130 Minuten.

Titelbild

William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden.
Übersetzt aus dem Englischen von Günther Klotz, August Wilhelm Schlegel, Dorothea Tieck und Wolf Graf Baudissin.
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2009.
4032 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783746625546

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