„Sehnsucht nach einem schwer benennbaren Ganzen oder Absoluten“

May Mergenthaler liest in ihrem Buch „Zwischen Eros und Mitteilung“ die frühromantische Symphilosophie als Fortsetzung des Platonischen „Symposions“

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer der in den USA lehrenden Germanistin May Mergenthaler in ihrer auf einer Dissertation fußenden Publikation mit geistigem Gewinn folgen möchte, hat zuvor in eine nicht unproblematische terminologische Entscheidung der Autorin einzuwilligen: Der Begriff, welcher die poetische Kardinalabsicht der Frühromantiker, namentlich Friedrich Schlegels, bezeichnen soll, ist die „vollendete Mitteilung“. Wenngleich Mergenthaler einzuräumen hat, dass er explizit im Werk Friedrich Schlegels nicht vorkommt, führt sie einige nicht unplausible Gründe für ihre Prämisse an, dass er „der Idee nach“ in dessen frühen Schriften „enthalten“ sei und sich „aus der Vorrede seines ‚Gesprächs über die Poesie‘ im dritten Athenaeum-Band entwickeln“ lasse.

Mergenthaler charakterisiert die „vollendete Mitteilung“ Friedrich Schlegels und seines Kreises als „Sehnsucht nach einem schwer benennbaren Ganzen oder Absoluten“, wobei dieses Absolute, welchem die romantische Poesie als „progressive Universalpoesie“ (F. Schlegel) zustrebt, in der Sicht der Autorin nicht bloß als ein „unendlich Werdendes“, sondern zugleich als „ein Seiendes“ zu denken ist. Bei diesem Widerspruch zwischen aktuellem Gegebensein und Noch-nicht-Sein der Synthesis der die menschliche Existenz bestimmenden Gegensätze handelt es sich um eine am ideengeschichtlichen Horizont aufscheinende metaphysische Konstellation, die den am romantischen Jenaer Projekt der „Symphilosophie“ und „Sympoesie“ zwischen 1798 und 1800 Beteiligten mit unabweisbarer Dringlichkeit begegnete: Wie anders und zwingender konnte sich das prekär-antithetische Verhältnis zwischen Endlichem und Unendlichem, Bedingtem und Unbedingtem, Wirklichkeit und Idee/Ideal zur Sprache, zur „vollendeten Mitteilung“, bringen lassen als auf dem Wege der Kommunikation pointierter Unvollkommenheit und exponierter Unabgeschlossenheit; als durch dezidiert antisystematische Aussageweisen wie Ironie, Paradox und Fragment?

Vor ihrem Hauptstück: der Inszenierung eines imaginären Gesprächs zwischen Schlegels berühmten, in der zusammen mit seinem Bruder August Wilhelm gegründeten Zeitschrift „Athenaeum“ abgedruckten „Athenaeums“-Fragmenten und Platons „Symposion/Gastmahl“, absolviert Mergenthaler die usuelle Pflicht der Referierung des Forschungsstandes mit Eleganz und Intelligenz. Sie verteilt nämlich die Fülle der neueren Romantik-Rezeptionen in Rubriken von Forschungsrichtungen (Hermeneutik, Dekonstruktion, Systemtheorie etc.) und liefert so zugleich eine glänzende, polyfokale Einführung in das von den einen enthusiastisch zustimmend, von den anderen skeptisch inspizierend und von wieder anderen rigoros ablehnend ins Visier genommene Gebiet der literarischen (Früh-)Romantik.

Mergenthaler beurteilt all die von ihr gesichteten Herangehensweisen „in gewisser Hinsicht als begrenzt und einseitig“ und stellt ihren eigenen Zugang – und das ist von einiger methodologischer Tragweite – unter das Programm einer „partizipatorischen Lektüre“: „Die hier vorgeschlagene romantische Lektüre der Romantik, das teilnehmende Lesen von Schlegels frühromantischen Schriften als Ausdruck eines Strebens nach vollendeter Mitteilung, hat den Anspruch, der ‚Andersheit‘ dieses Projekt [sic] selbst, wenn irgend möglich, angemessener zu sein als die genannten Interpretationen, und stellt den Versuch dar, eine Balance zwischen Nähe und Abstand zum Text zu finden.“

Diese Artikulation des schriftstellerischen Selbstverständnisses, Mitagierende des romantischen symphilosophischen und sympoetischen Unternehmens zu sein, hat freilich erhebliche Konsequenzen für die konzeptionelle Ausrichtung und die inhaltliche Anlage der Studie. Denn es muss eine, um einen frühromantischen Grundbegriff zu bemühen, „divinatorische“ Einsicht dahintergestanden haben, als May Mergenthaler auf den Gedanken kam, es walte eine strukturelle wie intentionale Affinität der „Athenaeums“-Fragmente zu Platons „Gastmahl“. Um so überraschender ist dieser Einfall, als die Autorin einzuräumen hat, dass Schlegel selbst auf Platons Gespräch über den Eros „[d]irekt […] allerdings selten“ Bezug nimmt. Trotzdem: „Das Symposion, das im 18. Jahrhundert wie Platons Philosophie insgesamt an Bedeutung gewann, war für Schlegel das wichtigste historische Vorbild seines frühromantischen Projekts, worauf schon seine Forderung nach einer allgemeinen ‚Symphilosophie‘ und ‚Sympoesie‘ hinweist.“

Ebenfalls hier, da es nun um die Interpretation des „Symposion“ geht, haben wir, um folgen zu können, der Autorin terminologisch entgegenzukommen; dann nämlich, wenn sie den griechischen „Eros“ mit dem – seit einiger Zeit wildwuchernden – „Begehren“ in eins setzt. Zumindest unterscheidet sie nicht wie Friedrich Schleiermacher (immerhin einer der „Athenaeums“-Beiträger) in seiner Platon-Übersetzung klar zwischen dem „Eros“ und der „Epithymia“; nur diese bringt Schleiermacher als „Begehren“ ins Deutsche, während er „Eros“ entweder unverändert übernimmt oder „Liebe“ als Entsprechung wählt. Mergenthaler indes ist der Ansicht, dass der „Begriff des Eros […] in der griechischen Antike ein starkes und oft sexuelles Begehren bezeichnet“. Am Rande wäre hier zu erwähnen, dass May Mergenthaler vornehmlich auf englischsprachige Sekundärliteratur zu Platon zurückgreift und der nicht unumstrittenen These anhängt, Symposien hätten generell eine demokratisierende, die Polis stabilisierende Funktion erfüllt.

Die Gleichsetzung von „Eros“ und „Begehren“ hat für den Argumentationsgang des vorliegenden Buches aber wesentliche Bedeutung, weil so dem Eros eine immanente Widersprüchlichkeit attestiert werden kann, die typischerweise dem Begehren (bzw. der Begierde) eigentümlich sein mag: dass „es den Geliebten und/oder den Liebenden und damit auch sich selbst wenigstens teilweise zu konsumieren und zu vernichten droht“. Und eben diese innere Widersprüchlichkeit des Eros als Begehren treibt in Mergenthalers Interpretation den Gedankengang des Platonischen „Symposions“ von Redner zu Redner bis hin zum Gipfel der Rede des Sokrates, welche die Eros-Lehre Diotimas reflektierend nacherzählt.

Unter der genannten Voraussetzung, das „Symposion“ bezwecke eine „vollendete Mitteilung“ des „Begehrens“, kann Mergenthaler überzeugend auch die Sokrates-Rede nicht, wie üblich, als apodiktische Korrektur des Vortrags seiner Vorredner verstehen, sondern lediglich als ein Moment in das Ensemble der anderen fünf Eros-Deutungen einsortieren und folglich das Resultat des „Gastmahls“ als offen, als, wie es sich für ein veritables frühromantisches Gespräch schickt, vollendet in seiner Unvollendetheit fassen.

Zwar finden beide Autoren: Platon und Friedrich Schlegel, schließlich einen Ausweg aus den skizzierten Aporien – Platon in der Ideenlehre der „Politeia“ und Schlegel in katholisch dogmatisierter Transzendenz –; doch lassen sie beide im „Symposion“ beziehungsweise in den „Athenaeums“-Fragmenten etwas zum Zweck der Vollendung zu Vollendendes übrig. Und, so Mergenthaler im Hinblick auf ihr eigenes Programm: „Ein solcher Rest steckt auch im Dialog zwischen Schlegel und Platon bzw. Platons Sokrates: Sie leisten einander Widerstand, indem sie einander vervollständigen. Auch die Lektüre eines Dialogs zwischen Schlegel und Platon stößt auf einen Widerstand. Dessen Ursache liegt nicht zuletzt in dem ungeheuren zeitlichen Abstand, der zwischen den beiden Autoren und ihren Texten liegt. Und doch lässt sich Schlegels nach Universalität strebendes frühromantisches Projekt und seine Umsetzung in den Athenaeums-Fragmenten schwer begreifen, untersucht man nicht seine Auseinandersetzung mit Platons Symposion.“

Das letzte und umfangreichste der vier Kapitel überschreibt Mergenthaler mit „Das romantische Symposion der Athenaeums-Fragmente“. Dort verfährt sie gemäß dem Schlegel’schen Diktum: „Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein.“ Nach dieser entdisziplinierenden Devise konstruiert die Autorin nun den Dialog zwischen den Teilnehmern des antiken Trinkgelages und dem Jenaer „Athenaeum“-Kreis. Obschon lediglich die Männer (die Brüder Schlegel, Friedrich Schleiermacher und Friedrich von Hardenberg (Novalis)) Fragmente zur Zeitschrift beitrugen, rechnet sie auch die weiblichen „Symphilosophen“ (Auguste Böhmer, Caroline Schlegel und Dorothea Veit) hinzu und analogisiert jede dieser Personen einer Gestalt aus dem Gespräch Platons. So spielt die pubertierende Auguste die Rolle von Apollodoros und Aristodemos, während Novalis den Part der Diotima zugewiesen bekommt. Friedrich Schlegel selbst ist Platon und Sokrates. Freilich ist das ziemlich exzentrisch konzipiert, romantisch eben, wie ja auch angekündigt. Doch warum sollte man nicht den Eigensinn haben dürfen, mittels vielleicht auch ungewöhnlicher Ideen die oftmals so öde Landschaft der Wissenschaft zu poetisieren?

Mergenthalers eigener Schlusssatz verabschiedet den Leser mit einer gewiss absichtsvoll so lapidar formulierten minimalistischen Konklusion: „Platons und Schlegels Symposien zeigen nichts weiter als dies: die Macht und die Zwiespältigkeit des Eros und der Mitteilung.“

Titelbild

May Mergenthaler: Zwischen Eros und Mitteilung. Die Frühromantik im Symposion der „Athenaeums-Fragmente“.
Schöningh Verlag, Paderborn 2012.
344 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783506773609

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