Erkundungen des Neuesten

Ein Tagungsband angloamerikanischer Germanisten versammelt Essays zu „emerging novelists of the twenty-first century“

Von David WachterRSS-Newsfeed neuer Artikel von David Wachter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung ist die deutschsprachige Gegenwartsliteratur so vielfältig wie selten zuvor. Es wäre wohl ein unmögliches Unterfangen, ihre Haupttendenzen trennscharf auf einen gemeinsamen Nenner bringen zu wollen. Gleichwohl lassen sich, bei gebotener Vorsicht gegen voreilige Rubrikbildung, einige leitende Trends beobachten. Dazu zählt zweifellos die Tendenz zur Überschreitung national begrenzter Handlungsräume und Identitätsmodelle, mit der Autoren zunehmend die Auswirkungen kultureller Globalisierung auf das Deutschland des 21. Jahrhunderts vermessen.

Von Terézia Moras traumatisierten Exilanten in „Alle Tage“ (2004) über Saša Stanišićs pikareske Balkanmemoiren in „Wie der Soldat das Grammophon repariert“ (2006) bis zu Yadé Karas Londoner Deutschtürken in „Café Cyprus“ (2008) reichen die transnationalen Grenzgänge, von Daniel Kehlmanns berühmten (Nicht-)Reisenden in „Die Vermessung der Welt“ (2005) über Sibylle Bergs popliterarische „Fahrt“ (2007) bis hin zu Sven Regeners SO-36-Kreuzberg in „Der Kleine Bruder“ (2008) erstrecken sich die wechselseitigen Annäherungen zwischen literarischem Höhenkamm und Populärkultur.

Während sich die traditionelle Germanistik in heimatlichen Gefilden mit der Annäherung an lebende (und lebendige) Autoren nach wie vor schwer tut, öffnet sich die jüngere Forschung zunehmend für eine literatur-wie kulturwissenschaftlicher Erkundung dieses faszinierenden und zukunftsoffenen Feldes – und bleibt doch gegenüber der „jüngsten“, noch nicht hinreichend nobilitierten Literatur etwa Clemens Meyers oder Alina Bronskys weiterhin zurückhaltend.

Die angloamerikanische Germanistik hat in dieser Hinsicht seit jeher eine niedrigere Hemmschwelle. Dass dieser Befund mehr ist als ein abgegriffenes Klischee – dies zeigt nun auf bemerkenswerte Weise der Sammelband „Emerging Novelists of the Twenty-First Century“, herausgegeben von den britischen Forschern Lyn Marven und Stuart Taberner, die beide schwerpunktmäßig über deutschsprachige Gegenwartsliteratur arbeiten.

Die aus einem Workshop hervorgegangenen Beiträge folgen dem gemeinsamen Ziel, der „globalization of the novel as a literary form“ in Essays zu einzelnen Neuerscheinungen nachzugehen. Sie widmen sich in erster Linie solchen Autoren, die – anders als die berühmten Granden Martin Walser oder Günter Grass – einer jüngeren Generation angehören, deren Lebenswerk sich trotz teilweise hoher Popularität und offizieller Anerkennung durch literarische Preise weiterhin in der Anfangsphase befindet. Ohne den jeweiligen Publikationskontext zu ignorieren, legen die Essays jeweils einen Akzent auf ein ausgewähltes Werk, und der Band ist chronologisch nach dem Erscheinungsdatum der untersuchten Romane – von Ulrike Draesners „Mitgift“ (2002) über Ilija Trojanows „Der Weltensammler“ (2006) bis hin zu Karen Duves „Taxi“ (2008) – aufgebaut. In der Detailuntersuchung eines neuen Romans verdichten sich größere Forschungsprojekte der Beteiligten. Neben dem gemeinsamen Interesse an Schriftsteller(inne)n wie Terézia Mora, Clemens Meyer oder Kathrin Schmidt, die nicht bereits in vollem Umfang akademisch kanonisiert sind, eint die Beiträge ein kulturwissenschaftlicher Blickwinkel. Im Horizont kultureller Globalisierung liegt der Akzent auf „cosmopolitan plots“ und „cultural discourses“, durch welche die hier analysierten Werke an kulturwissenschaftliche Ansätze besonders der angloamerikanischen Germanistik anschlussfähig werden.

Wie produktiv diese Zugänge nach wie vor sind, zeigen die Beiträge aus zahlreichen Perspektiven. So untersucht die Liverpooler Germanistin Lyn Marven in ihrem Beitrag zu Ulrike Draesner, wie „gendered bodies, narratives and images of physicality, and ways of seeing“ im Roman „Mitgift“ die Beziehungen der Protagonisten und deren Bewegungen im Raum prägen. Aus der Perspektive von „jewish studies“ stellt demgegenüber Stuart Taberner heraus, wie jüdische Identität in Vladimir Vertlibs „Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur“ performativ eingeübt und zugleich parodistisch unterlaufen wird. Während Kate Roy mit Rückgriff auf Gilles Deleuzes Konzept der „Deterritorialisierung“ die Grenzverschiebungen hybrider Orientierung in Yadé Karas „Café Cyprus“ als Beitrag zur Debatte um „kulturelle Identität“ herausarbeitet, zeigt Brigid Haines, wie Saša Stanišić in „Wie der Soldat das Grammophon repariert“ mit orientalistischen Balkanklischees spielt und zugleich in abgründigem Humor nach Formen post-jugoslawischer Identität im Nachgang des Bürgerkrieges fragt. Demgegenüber akzentuiert Anke S. Biendarra die traumatische Erinnerung des heimatlosen Abel Nema in Terézia Moras „Alle Tage“ und weist darauf hin, wie in diesem Roman das Konzept einer transnationalen Mobilität an seine dystopischen Grenzen geführt wird. Julian Preece betont das Problem einer „intercultural failure“, einer Poetik des Missverständnisses in Ilija Trojanows „Der Weltensammler“, und Barbara Mennel weist den Einfluss von Ghettodiskursen der US-amerikanischen Rapmusik in Alina Bronskys „Scherbenpark“ nach, wobei sie hervorhebt, in welchem Ausmaß hier Rollenbilder gender-typischen Verhaltens gekreuzt und so destabilisiert werden.

Ein weiterer Akzent der Beiträge in „Emerging German-Language Novelists“ liegt auf Positionierungen der Autoren im literarischen Feld. Rebecca Braun von der University of Lancaster zeichnet detailliert nach, wie Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ die gesellschaftliche Funktion des Fetischs „Berühmtheit“ („celebrity“) sowohl für die Gestaltung seiner Protagonisten wie für seine eigene Rolle auf dem literarischen Markt nutzt und dabei die Trennung zwischen „hoher“ und „niedriger“ Literatur unterläuft. Einen vergleichbaren Kontakt zwischen Literatur und Popmusik, der allerdings stärker auf Gesten der Grenzziehung beruht, entdeckt Andrew Plowman in Sven Regeners „Der kleine Bruder“ und dessen Spiel mit Identifikationsmodellen aus Kreuzberger Subkulturen der 1980er-Jahre. Kommt hier ein Aspekt der deutsch-deutschen Vergangenheit ins Spiel, so darf auch die NS-Erinnerung nicht fehlen. Dementsprechend analysiert Valerie Heffernan die Funktion einer „historia matria“, einer Mikrogeschichte des Kleinen nach Carlo Ginzburg, in Julia Francks „Die Mittagsfrau“.

Bereits dieser knappe Parcours durch die kulturwissenschaftlichen Ansätze in „Emerging German-Language Novelists“ lässt Stärken und Schwächen des Sammelbandes erkennen. Ein Verdienst liegt zweifellos darin, die jüngste Gegenwartsliteratur überhaupt einmal auf die akademische Tagesordnung zu setzen und dabei erkennen zu lassen, welche produktiven Einsichten sich aus den methodischen Bereichen Gender, Transnationalität, Popliteratur oder Traumaforschung für die untersuchten Romane gewinnen lassen. Eine Schwäche des Bandes liegt allerdings in einer mal geringer, mal deutlicher ausgeprägten Neigung zum kulturwissenschaftlichen Jargon, dem es an philologischer Präzision mangelt. Symptomatisch ist hier bereits die bedauerliche Entscheidung der Herausgeber, auf deutschsprachige Zitate gänzlich zu verzichten, als sei der Direktkontakt zum sprachlichen Original im Eifer der Theoriebildung und mit Blick auf ein englischsprachiges Publikum („outreach“!) nebensächlich.

Dies setzt sich fort im Umgang der Beiträger mit ihrem theoretischen Rüstzeug. Während etwa Anke S. Biendarras Essay zu Terézia Mora textnah argumentiert und so Plausibilität herstellt, wimmelt es in Kate Roys erklärt „deleuzianischer“ Perspektive von einer Rhetorik der De- und Reterritorialisierung, die bei vorsichtigerem Einsatz an Evidenz gewonnen hätte. Dies gilt mit Einschränkungen auch für Lyn Marvens Essay über Ulrike Draesner oder Emily Jeremiahs Beitrag zu Sibylle Berg: Obwohl beide im Grundansatz überzeugen, neigen sie in ihren Erkundungen von „images of the body“ oder „glocalization“ zu einer Rhetorik, die mitunter Züge einer politisch korrekten Antragsprosa aufweist. Gelegentlich liegt der Haken auch im Detail. So nimmt Stephen Brockmann in seinem Essay über Juli Zehs „Spieltrieb“ wie selbstverständlich auf „Nietzschean ideas about Nihilism and power“ Bezug, wobei er gänzlich unkritisch die unsägliche Kompilation „Der Wille zur Macht“ aus der Feder von Elisabeth Förster-Nietzsche als Nietzsches Philosophie zitiert.

Trotz dieser gelegentlichen Schwächen erweist sich „Emerging German-Language Novelists of the Twenty-First Century“ zweifellos als anregendes Projekt, aus dem sich faszinierende Einsichten in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur in gleichem Maße gewinnen lassen wie ein Zugang zu kulturwissenschaftlichen Fragestellungen, welche die – trotz zunehmender Sparzwänge weiterhin hochproduktive – angloamerikanische Germanistik auszeichnen.

Titelbild

Lyn Marven / Stuart Taberner (Hg.): Emerging German-Language Novelists of the Twenty-First Century.
Camden House, Rochester 2011.
273 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-13: 9781571134219

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