Die Welt des Nibelungenliedes

Jan-Dirk Müllers Studienbuch zum „Nibelungenlied“ erscheint in der dritten, neu bearbeiteten und erweiterten Auflage

Von Lisa Pychlau-EzliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisa Pychlau-Ezli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Gründe nennt Jan-Dirk Müller im Vorwort seines Studienbuchs zum „Nibelungenlied“, die eine Neuauflage des Werks erforderlich machen. Zum einen verbindet Müller die Überarbeitung seiner „Nibelungenlied“-Einführung mit der Anpassung an die neue äußere Form der Reihe ESVbasics Klassiker Lektüren des Erich Schmidt Verlags. Zum anderen macht Müller auf das gesteigerte wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Interesse am mittelhochdeutschen Text aufmerksam, das eine erneute Auseinandersetzung mit dem Stoff rechtfertigt. Dabei konstatiert Müller, dass das Epos inzwischen seine Rolle für den Entwurf einer nationalen Identität verloren habe. Dies sieht er als Anlass, „sich nach seiner mittelalterlichen Gestalt zu erkundigen und dem Entwurf einer möglichen Welt, die schon um 1200 mit alten maeren assoziiert wurde“.

Das Studienbuch beinhaltet in komprimierter und prägnanter Form die Ergebnisse von Müllers langjähriger Forschungsarbeit zum „Nibelungenlied“, die er in seiner erstmals 1998 erschienenen, umfangreichen und über die Fachgrenzen hinaus bedeutenden Monografie „Spielregeln für den Untergang“ vorlegte. Die „Spielregeln“ haben die „Nibelungenlied“-Forschung revolutioniert und sich inzwischen als Standardwerk etabliert.

Während sich die „Spielregeln“ an ein wissenschaftliches Fachpublikum richten, ist das Studienbuch für Studierende der germanistischen Mediävistik konzipiert und stellt eine Einführung auf hohem Niveau dar. Das Studienbuch basiert zwar größtenteils auf den „Spielregeln“, ist aber in Stil und Form an die Bedürfnisse der Studierenden angepasst. So erläutert Müller Fachbegriffe, erklärt Zusammenhänge und liefert neuhochdeutsche Übersetzungen zu den mittelhochdeutschen Zitaten. Während Müller in den „Spielregeln“ ausführlich auf die Fragestellungen für seine Studie eingeht, erlaubt der Umfang des Studienbuchs nur die Präsentation der Ergebnisse seiner Überlegungen. Wie in den „Spielregeln“ legt Jan-Dirk Müller auch hier einen besonderen Fokus auf den historisch angemessenen Umgang mit dem „Nibelungenlied“. Dabei warnt er vor allem davor, neuzeitliche Vorstellungen an den Text heranzutragen, etwa durch die Unterstellung psychologisch schlüssiger Charaktere oder syntagmatisch-kausaler Motivierungen. Diese Vorgehensweise bezeichnet er als „falsche Aktualisierung, die das Mittelalter […] kolonisiert“. Daher ist auch die Verwendung bestimmter moderner literaturwissenschaftlicher Termini wie „Autorintention“ laut Müller unangemessen.

Das „Nibelungenlied“ funktioniert dabei nach bestimmten Regeln und Logiken, die sich einem modernen Rezipienten nicht auf den ersten Blick erschließen. Nach heutigem Verständnis vorhandene Inkohärenzen, Brüche, Doppelungen und Widersprüche sind laut Müller jedoch keine „Fehler“, sondern resultieren aus der hervorgehoben Bedeutung „paradigmatischer Verknüpfungen“ gegenüber „syntagmatischen Verflechtungen“. Auf diese Weise werde auch handlungslogisch Disparates zusammengefügt.

Dementsprechend verfährt Müller selbst beim inhaltlichen Aufbau seines Studienbuchs weniger handlungschronologisch als paradigmatisch. Aufgrund dieser Vorgehensweise ist das Studienbuch allerdings für Studienanfänger ungeeignet, da zum Verständnis eine sehr gute Textkenntnis notwendig ist.

Gemäß dem neuen Format des Verlags sind die Schlüsselbegriffe in der dritten Auflage fett hervorgehoben und am Ende jedes Kapitels befinden sich eine kurze Zusammenfassung und eine Auflistung weiterführender Literatur. Im Unterschied zur zweiten Auflage sind einige Kapitel umbenannt, zusammengefasst und aktualisiert, der Inhalt hat sich jedoch kaum verändert. Nach einer kurzen Inhaltsangabe folgen vier Kapitel zu den historischen Zusammenhängen, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Entstehung und Überlieferung sowie zur Komposition. Anschließend beschäftigt sich Müller mit den gattungsspezifischen Besonderheiten des „Nibelungenlieds“, mit Gesellschaft, Politik und Anthropologie der nibelungischen Welt, der Figurenkonzeption, Öffentlichkeit und Heimlichkeit und den mythischen Dimensionen der Sage. Neu hinzugekommen ist nun ein knappes Kapitel zur Rezeptionsgeschichte seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Trotz der Kürze verschafft dieses Kapitel der Einführung einen Mehrwert, indem es darlegt, wie vielfältig die Ansätze zum Verständnis des Textes in den letzten 250 Jahren gewesen sind. Müller macht dabei darauf aufmerksam, dass der Umgang mit dem „Nibelungenlied“ im Verlauf der Zeit immer von den Versuchen der Aneignung geprägt war und weniger darauf ausgerichtet war, zum eigentlichen Gehalt des Textes vorzudringen. Insbesondere die nationalsozialistische Auseinandersetzung mit dem Epos nennt Müller „offenkundig absurd“.

Müller verzichtet zudem ganz auf den Begriff der nibelungischen „Psychologie“. In den ersten beiden Auflagen sowie in den „Spielregeln“ erläuterte Müller unter diesem Begriff verschiedene „Nibelungenlied“-spezifische Phänomene wie „zorn“, „übermuot“ und „herze liebe“. Obwohl der Begriff „Psychologie“ als Anspielung auf die Fehldeutungen der älteren Forschung gedacht ist und Müller herausstreicht, dass gerade die Psychologisierung der Figuren der Erzählweise des Textes nicht gerecht wird, ist die Begriffswahl dennoch irritierend. In der dritten Auflage sind die Aspekte des „Psychologie“-Kapitels unter den Überlegungen zur nibelungischen Anthropologie aufgenommen worden.

Abschließend regt Müller eine adäquate Behandlung wenigstens einiger Auszüge des „Nibelungenliedes“ im Schulunterricht an.

Mit den „Spielregeln für den Untergang“ hat Jan-Dirk Müller einen essentiellen Beitrag zur „Nibelungenlied“-Forschung geleistet, den er durch das Studienbuch für fortgeschrittene Studierende zugänglich macht. Deutlich wird bei der Lektüre der Einführung vor allem, dass die Thesen der „Spielregeln“ in den vergangenen zehn Jahren nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben.

Titelbild

Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied. 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2009.
199 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783503098699

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