Gefühle denken

Dominik Perlers eindrucksvolle Studie über „Philosophische Emotionstheorien“ ist zugleich eine Einführung in das Philosophieren

Von Daniel Tobias SegerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Tobias Seger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die akademische Philosophie hat es schwer. Weitgehend abgekoppelt von ihren öffentlichkeitswirksamen Sprechern wie etwa Habermas oder Sloterdjik fristet sie ein eher kärgliches Dasein im Spannungsfeld von Tradition und Moderne. Da gibt es den ‚Wärmestrom’ des Philosophierens als ein Eintauchen in die Welt klassischer oder klassisch gewordener Autoren von Platon bis Heidegger, oder als ein von persönlichen Vorlieben getragenes Nachdenken über Existenz und Bewusstsein. Und da gibt es den ‚Kältestrom‘ des Philosophierens als eine Nötigung, über Entwicklungen etwa in den Neurowissenschaften eifrig nachzudenken oder sich im Rahmen der akademischen Ausbildung als Anbieter von Ethikkursen zu etablieren. Philosophieren für das curriculare Punktekonto, also auf einen Zweck hin, nicht um des Denkens selbst willen. Was soll da nur aus der Philosophie werden?

Nun zeichnet sich in den letzten Jahren die Tendenz ab, die Philosophie mit dem großen Bereich der ‚Selbstsorge‘ im Sinne einer integrativen Ethik neu zu verknüpfen und auszugestalten. Die Perspektive des ‚Mit-sich-selbst-befreundet-Seins‘ bindet das Philosophieren an persönliche Fragen zurück und haucht Konzepten wieder neuen Atem ein, die im Geraune trendiger Ansätze und vorgeblich moderner Bezugnahmen schon längst im Speicherraum des Denkens vergessen zu sein schienen, etwa denen des Stoizismus, von Seneca bis Montaigne. In diesem Zusammenhang kommt auch der Frage nach den Gefühlen, ihrer Kontrolle, Mäßigung, Unterdrückung oder Entfachung, mit Blick auf die Regulation des guten Lebens in der Moderne ein neuer Wert zu. Die Zahl der Veröffentlichungen auf diesem Gebiet ist Legion. Dabei verschwimmt die Grenze zwischen gedanklicher, sprich: philosophischer Auseinandersetzung mit dem Thema und praktischem Eifer leider allzu oft, oder bleibt es etwa bei einer bloßen, mit Sentenzen oder empirischem Material unterfütterten Beschreibung dessen, was etwa Furcht, Freude oder Zorn sein könnte.

Wer sich für die Frage nach den Gefühlen interessiert, wird die groß angelegte Studie von Dominik Perler mit dem Titel „Transformation der Gefühle“ gerne zur Hand nehmen – und dann womöglich zurückzucken. Denn der Untertitel „Philosophische Emotionstheorien 1270-1670“ kündigt dem Leser an, dass er sich auf den vorliegenden fünfhundert Seiten nicht auf eine Darlegung neuester Trends und Entwicklungen, auf ein Spiel mit Namen, Texten und Diskursen einzustellen hat, sondern auf einen Rückblick und Rückgriff auf eine Zeit, die so gar nichts mit der unseren zu tun zu haben scheint: auf die Zeit des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, auf Namen wie Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus oder Baruch de Spinoza.

Doch wer sich auf diese bewusste und sodann souverän und umsichtig ausgestaltete Distanznahme einlässt, der wird nicht nur mehr über Emotionstheorien in der Vergangenheit lernen, sondern auch gegenwärtige Ansätze mit einem neuen, kritischeren Blick sehen – und dem wird zugleich wieder bewusst, was das eigentlich ist: philosophieren.

Nach Perlers Überzeugung können wir den Emotionen nur dann philosophisch wirklich auf den Leib rücken, wenn wir uns weder in empirische noch in naturwissenschaftliche Sicherheitszonen flüchten, sondern uns ganz klassisch um eine Begriffsklärung bemühen. Dazu gehört es zu sehen, dass Emotionen zu jeder Zeit in einem theoretischen Zusammenhang charakterisiert und von anderen Phänomen abgegrenzt werden. Und je nach Zusammenhang wird der ontologische Status, die epistemische und kategoriale Beschaffenheit von Gefühlen anders definiert und klassifiziert. Je nach theoretischem Rahmen wird die Möglichkeit, Emotionen zu mäßigen oder zu entfachen, unterschiedlich erklärt. Doch geht es Perler nicht darum, ein Konzept gegen das andere auszuspielen oder gar aus den von ihm untersuchten Konzepten Teilaspekte zu isolieren und in die gegenwärtige Diskussion einbauen zu wollen. Vielmehr will er die Frage nach den Gefühlen als stetigen Transformationsprozess sichtbar machen, der letztlich bis heute andauert und von dem man nicht absehen kann, will man durchdacht darüber Auskunft geben, wie Emotionen verstanden wurden und werden.

Perler versteht ‚Transformation‘ als ‚Umformung‘, mit Blick auf die jeweils zu Rate gezogenen schulbildenden Denker (Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus, Wilhelm von Ockham, Michel de Montaigne, René Descartes und Baruch de Spinoza) als ‚Durchformung‘. Denn es ist ihm entscheidend um Struktur und Stringenz des jeweiligen theoretischen Rahmens zu tun, den der jeweils zur Diskussion stehende Philosoph entwickelt. Insofern ist seine Untersuchung auch eine beeindruckende, weil unbestochene und unbestechliche Einführung in das Philosophieren selbst.

Wenn etwa Thomas von Aquin die Liebe als ein Gefühl auffasst, das durch ein gutes, präsentes Objekt ausgelöst wird, ist dies im Rahmen des thomistischen Denkens nachvollziehbar. Dass Spinoza vierhundert Jahre später in seiner „Ethik“ die Liebe als Steigerung der eigenen Wirkungsmacht begreift, qualifiziert Perler nicht einfach als ‚Fortschritt‘ auf dem Weg zu einer letztgültigen Einsicht in das Wesen der Gefühle, sondern als eine andere Durchformung der Problemstellung. Gleiches gilt für die Ansätze von Johannes Duns Scotus und William von Ockham. Perler ist weit davon entfernt, deren kognitiven Ansatz gegen die hylemorphistische Weltsicht eines Thomas in Stellung zu bringen.

Geduldig und stets präzise, immer entlang der zentralen Texte zeigt Perler die Entwicklung der Gefühlstheorien als Durchformungsprozess metaphysischer Modelle auf: Angefangen mit der Umdeutung und späteren Ablehnung des bereits angesprochenen aristotelischen Materie-Form-Denkens, über die Abkehr von der Fixiertheit auf den Gegenstand hin zur Perspektive der Repräsentation des Gegenstandes im Zusammenhang mit der Gefühlserregung, die Entwicklung einer Naturalisierung der Gefühle bis hin zu der Frage, inwieweit sich Gefühle überhaupt in eine Theorie fassen lassen.

Wer vermeintlich ‚aktuelle‘ Auseinandersetzungen mit dem Thema zur Hand nimmt, wird schnell bemerken, welche transformatorischen Kräfte in den Anfragen und Ansätzen eines Johannes Duns Scotus und eines Wilhelm von Ockham, eines René Descartes und eines Baruch des Spinoza liegen und sich weiter entfalten. Dass selbst die Theorie formaler Objekte eines Thomas von Aquin in gegenwärtigen Debatten wieder aufgegriffen wird (etwa in der Frage der Verbindung von Intentionalität und körperlicher Veränderung mit Blick auf die Emotionen), macht die Bedeutung dieses Nachdenkens über Gefühle als ein grundlegendes auf eindrucksvolle Weise deutlich.

Als besonders erhellend nicht nur für Perlers Studie, sondern für die Auseinandersetzung mit einer wie auch immer gefassten ‚Theorie der Gefühle‘ erweist sich der Ansatz Michel de Montaignes in seinen „Essais“. Nicht nur dass er mit seiner generellen Skepsis gegen Theorien eine Distanz zu den ihm bekannten ‚Denkgebäuden‘ herstellt und damit letztlich den Übergang zu einem Denken der Repräsentation markiert, für das dann zunächst Descartes und Spinoza stehen. Montaigne macht in seinen Betrachtungen auch eindrucksvoll darauf aufmerksam, dass es womöglich nicht die feinsinnig durchbuchstabierten inneren Verhältnisse sind, die den Menschen dazu bringen, bestimmte Emotionen hervorzubringen, sondern die ihm in seiner Lebenswelt auferlegten sozialen Praktiken und Normen. Diese „Externalisierungsstrategie“ Montaignes, wie es Perler nennt, weist auf eine andere, eine soziale Perspektive der „Transformation der Gefühle“ hin, die das auf so vielgestaltige Weise in der frühneuzeitlichen Philosophie diskutierte Zusammenspiel rationaler und sinnlicher Vermögen des Menschen auf den Menschen in seiner Welt durchsichtig macht.

Titelbild

Dominik Perler: Transformationen der Gefühle. Philosophische Emotionstheorien 1270-1670.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
532 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783100612113

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