Liebe und dennoch

Cornelia Travniceks Debütroman „Chucks“ ist eine lesenswerte, moderne Liebesgeschichte

Von Clemens GötzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clemens Götze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass es ein solches Buch schon lange nicht mehr gegeben hat. Mit Sicherheit erwartet man von einer so jungen Stimme nicht, dass sie derart viele schwierige Themenkomplexe in ihrem Debütroman vereint. Von Krankheiten wie Krebs und AIDS gelingt ohne jedes Klischee der Übergang zum Leben auf der Straße mit all seinen negativen Assoziationen. Trotz der ernsten Töne, die der Roman anschlägt, kommt die romantische Liebesgeschichte nicht zu kurz. Die Autorin nimmt ihre Figuren ernst und schreibt dabei dennoch mit einer erfrischenden Leichtigkeit, dass man den 187 Seiten langen Roman schnell verschlingt.

Ob es sich bei „Chucks“ um einen Jugendroman handelt, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, auch wenn es ganz ohne Zweifel um das Erwachsenwerden geht. Es ist verblüffend, wie unbemüht die Autorin ihre Protagonistin schon als Kind in der Rolle der frühzeitig Erwachsenen schildert. Maes Bruder ist an Krebs erkrankt und das langsame Sterben macht aus dem Mädchen eine viel reifere Persönlichkeit als man zunächst aufgrund ihrer Biografie glauben mag. Dem Leser erschließt sich das Konzept der ineinander greifenden Erzählstränge erst auf der Hälfte des Buches, denn erst dann holt die Bedrohung einer Krankheit die Protagonistin wieder ein. So liest sich Maes Geschichte als Entwicklungsroman, der von dem Versuch erzählt, die unabänderlichen Dinge im Leben zu akzeptieren und damit leben zu lernen. Es ist zudem erfreulich, dass sich Travnicek nicht in Klischees verliert, was bei dieser Anzahl an als Tabus stigmatisierten Themen keineswegs selbstverständlich ist.

Die Figuren des Romans sind alle irgendwo emotional beschädigt, weshalb sie so authentisch und letztlich liebenswert sind. Stilistisch hervorragend formuliert ist die Charakterisierung von Maes erstem Freund Jakob, dessen Eigenschaften immer wieder wie beiläufig in das Geschehen eingeflochten werden. Überhaupt entwickelt die Autorin ihre Figuren nicht in langen Beschreibungen, sondern durch ihre Handlungen und Worte, was ihnen Authentizität und Glaubwürdigkeit verleiht. Selten hat man gerade bei jungen Autoren ein so klar gezeichnetes Mutter-Tochter-Verhältnis gefunden, dass jenes Dilemma des Abnabelns und der Verbundenheit so eingehend beschreibt. Weder Stil noch Romanhandlung wirken bemüht, und es gelingt der Autorin, einen Ton in der deutschsprachigen Literatur anzuschlagen, der eine ausbalancierte Mischung aus Punk und Lakonie in teils sehr poetische Sätze kleidet und erinnert dabei durchaus an Judith Hermann.

So poetisch die Sprache Travniceks auch ist, es fehlt an einer Stelle ein wenig an logischer Stringenz. Nach gut einem Drittel des Buches lernt die Erzählerin Mae bei der Wiener AIDS-Hilfe den HIV-positiven Paul kennen. Obwohl sie ihn nur einmal gesehen hat, verlässt sie wenige Szenen später ihren Partner, den vernünftigen Architekten Jakob. Dies scheint doch etwas unmotiviert, denn so stark wie die Zuneigung für einen solchen Schritt sein müsste, wird die Anziehung zu Paul am Beginn nicht geschildert. Die Erzählerin beschließt aber die Koffer zu packen und steht plötzlich vor Pauls Tür, um bei ihm einzuziehen. So jugendlich-sympathisch die Figur der Mae auch sein mag, ihr Verhalten erscheint an dieser Stelle doch ein wenig konstruiert. Es scheint fast so, als dürfe Mae nicht in geordneten Verhältnissen leben, wie ihre Vita uns suggeriert. Durch den Tod des Bruders aus der Bahn geworfen und als Straßenkind ins Milieu abgerutscht, verbüßt sie schließlich eine Ordnungsstrafe bei der AIDS-Hilfe, um sich dann in ein neues Abenteuer zu stürzen, das Paul heißt. Man kann diesem Lebenslauf durchaus folgen und ihn als organisch akzeptieren, gerade mit psychologisch fundierter Interpretation fällt das nicht schwer. Doch die Schnelligkeit, mit der die Erzählerin ihr so geordnetes Leben hinter sich lässt, ist schon erschreckend. Ein wenig mehr erzählerische Ausdifferenzierung hätte dem Roman an diesem Punkt sicher gut getan, zumal die Geschichte sonst sehr stimmig ist.

Kritisch anzumerken bleibt vielleicht auch die Form. Der Roman erzählt in Rückblenden, die sich allzu oft mit Erzählsträngen der Jetztzeit vermischen. Die einzelnen Kapitel vereinen in Absätzen die drei verschiedenen Stränge des Romans: die Kindheitserzählung der Protagonistin, die vor allem das langsame Sterben ihres krebskranken Bruders thematisiert, dann die Zeit als Punk auf den Straßen Wiens und schließlich die aktuelle Liebesgeschichte zu Paul. Es ist anfangs ein wenig schwierig, diese drei Parallelschichten zusammenzubringen. Man benötigt etwas Geduld und die Toleranz, sich auf diesen Erzählkosmos einzulassen. Dafür wird man als Leser mit einer berührenden Geschichte belohnt, die schließlich eine Liebeserklärung an das Leben ist, ganz egal wie problembeladen es auch sein mag.

Dieser Roman ist kein typisches Exempel für das Werk einer jungen Autorin. Umso wichtiger dürfte die Tatsache sein, dass gerade Travniceks Generation sich Themen wie Krebs oder AIDS literarisch zuwendet, die in Zeiten von Eurorettungsschirmen und drohenden Staatspleiten scheinbar in Vergessenheit geraten. Dass die Literarizität diesen Themata nicht abträglich ist, beweist der Roman auf erfrischende, angenehme Weise. Schade nur, dass sich (noch) kein renommierter österreichischer Verlag für Travniceks Texte begeistern kann. Vielleicht sind jene Chucks ihres Romans auch einfach zu sehr Sinnbild und Ausdruck eines subversiven Lebensgefühls. Ihre Symbolkraft ist eindeutig lebensbejahend, stehen sie doch für das Überleben, die Kraft, eine Krankheit zu überstehen und immer wieder das Glück zu suchen, und schließlich – wenn auch nur zeitweise – sogar zu finden. Diese perspektivische Offenheit ist sicherlich eine der Stärken von Travniceks Roman, der mit einer Leichtigkeit ernste Themen behandelt, ohne dabei in irgendeiner Art anstrengend zu werden. Tiefgang und sprachliche Exaktheit machen dieses Buch überaus lesenswert.

Am Ende bleibt nicht nur das Erstaunen darüber, dass die Geschichte schon zuende ist, weil man den Roman einfach nicht beiseite legen konnte, sondern auch die keineswegs so leichtfüßige Einsicht: „Das bin ich, sind wir, im Endeffekt: nicht gerne allein.“ Ein Gedanke, der sowohl den Leser im Jetzt berührt als auch die Fantasie über den Fortgang der Geschichte anregt. Durchschnittlich ist dieses Debüt auf keinen Fall, gelungen indes sicher. Es bleibt zu hoffen, dass wir von dieser jungen Österreicherin noch viel zu hören respektive zu lesen bekommen.

Titelbild

Cornelia Travnicek: Chucks. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2012.
187 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783421045263

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