Die Geschichte eines nationalen Mythos

Jeffrey Verheys "Der 'Geist von 1914' und die Erfindung der Volksgemeinschaft"

Von Kai HassRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Hass

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der amerikanische Historiker Jeffrey Verhey rekonstruiert in diesem Buch einen der wichtigsten der von rechten und nationalistischen Autoren ausgebeuteten Mythen. Es handelt sich um den Mythos vom "Geist des Augusts 1914", neben der sogenannten "Dolchstoßlegende" die bekannteste Mythe des nationalen Lagers im 20. Jahrhundert. Ebenso wie letztere trägt das "Narrativ vom Geist des August" also zur "Erfindung der Volksgemeinschaft" bei.

Verhey geht v. a. von der Darstellung der letzten Vorkriegs- und ersten Kriegswochen in der Presse aus, da sie "ein umfangreiches und repräsentatives Bild der veröffentlichten Meinung" lieferten. Er stellt sich damit in Gegensatz zu den meisten anderen Untersuchungen der Stimmung im "deutschen Volk" während der ersten Kriegszeit, die hauptsächlich auf Briefe und Tagebücher von Kriegsteilnehmern rekurrieren. Die Schwierigkeit besteht nach Meinung Verheys darin, dass die Verfasser dieser Texte "meist aus der Mittel- und Oberschicht" stammten oder Frontsoldaten waren. Dagegen fehlten "Briefe von Bauern und Arbeitern, von Menschen aus der unteren Mittelklasse" und den daheim gebliebenen Angehörigen. Die bisherigen Darstellungen geben damit nur Positionen der "intellektuellen Elite" wieder, sind aber nicht repräsentativ für die Gesamtheit.

Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren läßt sich Verhey nicht darauf ein, den Mythos vom Geist von 1914 fortzuschreiben und die angeblich rückhaltlose Kriegsbegeisterung der Deutschen zu tradieren. Vielmehr basiert die Darstellung auf einer durchaus intelligenten und akribischen Interpretation der Zeitungsartikel, die sowohl als Spiegel der veröffentlichten Meinung, als auch als meinungsbildendes Instrument analysiert werden. Wie kaum eine andere historische Darstellung basiert sie auf der annähernd literaturwissenschaftlichen Interpretation der Quellentexte, was eindeutig zu den Stärken dieser Untersuchung gehört. Auch die Entscheidung, Zeitungsartikel als Quellentexte zu benutzen, muss als positiv bewertet werden, da sie nicht nur der Abbildung der "öffentlichen Meinung" diente, sondern auch zur Verbreitung von Ideologien beigetragen haben. Am Beispiel des "Geists von 1918" zeigt Verhey auf intelligente Weise, wie ein Mythos funktionalisiert wird, um eine nur virtuell existente Entität, wie "die Volksgemeinschaft" oder die "Nation" Realität werden zu lassen. Insgesamt handelt es sich um eine durchaus lesenswerte und ansprechende "Geschichte" eines Mythos und seiner Funktion von seiner Entstehung bis zu seinem Untergang, der sich bereits 1939 abzeichnet und 1945 mit dem Ende der Nazi-Herrschaft vollzieht.

Titelbild

Jeffrey Verhey: Der 'Geist von 1914' und die Erfindung der Volksgemeinschaft.
Hamburger Edition, Hamburg 2000.
290 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3930908581

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