Wenn nichts gesagt wird

Warum das neue Gedicht von Günter Grass kein Skandal ist

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Günter Grass erstaunt. Kaum dass die heftige Auseinandersetzung um sein politisches Gedicht Was gesagt werden muß abgeklungen ist (siehe literaturkritik.de 5/2012), hat er, an gleicher Stelle, ein zweites publiziert: Europas Schande. Nicht viele lebende Autoren hätten sich das getraut, und keiner von ihnen würde so unbeirrt daran festhalten, Zeitereignisse poetisch zu kommentieren. Gut zwei Wochen später kann man aber feststellen: Das zweite Gedicht wird keinen Skandal hervorrufen wie das erste.

Dabei scheint es einige Kritiker durchaus aufgeregt zu haben. Manche haben sich Mühe gegeben, es satirisch und parodistisch lächerlich zu machen. Einer dieser satirischen Texte, der von Volker Weidermann in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, hatte eine beträchtliche, aber nur kurze Wirkung im Internet, die darauf beruhte, dass er nicht verstanden wurde. Die Kritik, die Weidermann im Übrigen an der Süddeutschen Zeitung äußerte und der sich andere Journalisten wie Hellmuth Karasek anschlossen, gab diese ironisch zurück. Viel mehr als diesen kleinen Streit unter konkurrierenden Blättern bewirkten die neuen Verse von Grass nicht. Zu den wenigen ernstzunehmenden, das Gedicht selbst ernstnehmenden Äußerungen gehört Ulrich Greiners Leitartikel in der ZEIT vom 31. Mai, der befand, Europas Schande verdiene „Diskussion und Zuspruch“. Beides ist ausgeblieben, das Erste noch mehr als das Zweite. Dafür, dass Europas Schande den Skandal, den manche erwartet haben, nicht ausgelöst hat, gibt es vor allem drei Gründe.

Erstens erregt das Thema offensichtlich die Öffentlichkeit nicht in der gleichen Weise wie das von Was gesagt werden muß. In seinem neuen Gedicht hat Grass scharfe Worte für ein Europa gefunden, das nicht mehr weiß, was Griechenland einmal für seine Kultur bedeutet hat. Durch die teils abwehrende, teils gleichgültige Reaktion auf seine Verse dürfte er sich in seinem Urteil über dieses Europa der Politiker bestätigt fühlen. Wenn es ihm allerdings darum zu tun war, die Idee eines kulturell und nicht nur ökonomisch verstandenen Europa ins Gedächtnis zu rufen, dann ist er gescheitert. Offenbar ist die deutsche Öffentlichkeit daran nicht interessiert – wenigstens nicht so, wie der Autor wohl vermutet hat.

Zweitens kann man Grass bei seinem Griechenland-Gedicht, das genauso ein Europa-Gedicht ist, nicht persönliche Befangenheit vorwerfen, wie es bei seiner Äußerung zum israelisch-iranischen Konflikt getan wurde. Das könnte eigentlich dazu führen, sein Gedicht sachlich unvoreingenommener und unaufgeregter zu diskutieren. Dass dies nicht geschehen ist, hat vielleicht mit der Müdigkeit zu tun, mit der inzwischen viele auf die öffentlichen Einlassungen des streitbarsten deutschen Gegenwartsautors reagieren. Vielleicht vermag aber auch ein politisches Gedicht, selbst wenn es von einem Nobelpreisträger stammt, der Öffentlichkeit nicht viel Aufmerksamkeit abzuringen. Das ändert sich erst, wenn es einen Anlass bietet oder zu bieten scheint, einen prominenten Schriftsteller im Geist des Schwarms herabzusetzen. Die höhnische Abkanzelung und das hämische Missverständnis verraten dieses Bedürfnis. In dem Maß, in dem es dieses Mal unbefriedigt blieb, wandte sich das große Publikum desinteressiert ab.

Es half auch nicht, das Gedicht kurzerhand zu verreißen und den Autor zu einem „Moralmeister“ zu erklären, der grundsätzlich „unglaubwürdig“ geworden, dessen „Gestus“ inzwischen „hohl“ und „peinlich“ sei (Weidermann). Ihm dann das leidige ‚Moralisieren’ verbieten zu wollen, kann allerdings kaum gelingen, solange dieses Anliegen selbst moralisch begründet wird. So entsteht die kuriose Situation, dass Journalisten entscheiden wollen, wann und worüber sich ein Schriftsteller äußern darf, ohne ihren Unmut zu erregen. Für einen Skandal reicht das nicht.

Drittens schließlich macht das neue Gedicht von Grass es seinen Kritikern schwerer als das erste – nicht nur politisch, sondern auch literarisch. Die argumentativen und ästhetischen Schwächen von Was gesagt werden muß waren nicht zu übersehen. Eine Lektüre des neuen Gedichts verlangt mehr. Volker Weidermann nannte es „dieses besonders alberne und unglaubwürdig schlechte Gedicht“. Es ist weder das eine noch das andere. Es ist ein stilistisch zwar nicht immer gelungenes, gleichwohl durchkomponiertes poetisches Gebilde. Es spannt einen großen rhetorischen Bogen, der mit der Ansprache eines nicht weiter benannten „Du“ in der zweiten Zeile einsetzt und erst in der letzten mit der Nennung des Namens endet: „Europa“. Auffällig sind die zahlreichen Figuren der Wiederholung, zu denen nicht nur die leitmotivische Rede von dem „Land“ gehört. Hinzukommen Wortspiele wie „Rechtloses Land, dem der Rechthaber Macht/ den Gürtel enger schnallt“, oder Alliterationen wie „der Kommissare Claquere“. Dass auch solche Klangfiguren noch eine Bedeutung haben, zeigt am besten die im ersten Moment manieriert anmutende Wendung „was gülden glänzt gehortet in Deinen Tresoren“: Mit der Häufung der gleichen Anlaute wird die Häufung von Vermögen angeprangert. Und schließlich hat Europas Schande auch erkennbar eine metrische Struktur.

Die meisten Kritiker haben sich mit dem Hinweis begnügt, das Gedicht bestehe aus „zwölf je zweizeiligen Strophen“. Dass Grass auf die antike Form des elegischen Distichons zurückgreift, ist dabei übersehen worden. Zwar sind die Verse von Europas Schande keine klassisch streng gebauten Hexameter und Pentameter, sondern eher Freie Rhythmen, die sich, unter Benutzung verschiedener Metren, zumindest an der für das Distichon typischen Sechshebigkeit orientieren. Solche rhythmische Freiheit ist seit Rilkes Duineser Elegien aber nicht mehr ungewöhnlich.

Grass geht es jedoch weniger um das exakte metrische Schema als um die lange Tradition der Elegie in der deutschen Literatur, in der sich, an der Antike orientiert, etwa Goethe, Hölderlin und Mörike versucht haben. Die formale Pointe seines Gedichts besteht darin, sich der Gattung des altgriechischen Klagegedichts zu bedienen, um Trauer und Empörung über einen kulturellen Traditionsverlust auszudrücken, von dem eben unser Verhältnis zu Griechenland betroffen ist. Auf diese Weise in einer beziehungsreich gewählten poetischen Form zu sprechen ist etwas anderes als „in Versform zu leitartikeln“, wie Harald Jähner in der Frankfurter Rundschau vom 29.5. meinte. Dass die Formanspielung im Unterschied zu dem leicht identifizierbaren Goethe-Zitat – und den anderen deutlichen Bezugnahmen auf Sophokles, Sokrates und Hölderlin – kaum einmal erkannt worden ist, mag weniger über Günter Grass als über manche Literaturkritiker verraten.

„Hat noch jemand eine Vorstellung davon, was der Geist Europas sein könnte?“ hat Ulrich Greiner in seinem Artikel gefragt. Offensichtlich ist die Frage nicht rhetorisch gemeint. Die in fast jeder Hinsicht schwache Reaktion auf Europas Schande muss auch Zweifel daran wecken, ob in den Feuilletonredaktionen noch Vorstellungen von einer europäischen Idee existieren, wie sie von deutschen Schriftstellern seit der Romantik ‒ und bis in die jüngste Vergangenheit hinein ‒ intensiv diskutiert wurde. Europas Schande hätte die Gelegenheit geboten, solche Vorstellungen in die aktuelle Debatte einzuführen und zu bedenken. Das ist nicht geschehen. Stattdessen haben sich viele darin gefallen, den eigenen Überdruss an politisch engagierter Lyrik im Allgemeinen und an der von Günter Grass im Besonderen zu bekennen. Die europäische Idee, so ist zu befürchten, ist politisch und ökonomisch weniger eingeholt als ausgehöhlt, ja verabschiedet worden. Nichts anderes sagt das neue Gedicht von Günter Grass.