Nichts vergessen?

Zdenek Peckas Studie „Thomas Bernhard als zoon politikon“ liefert eine gelungene und wegweisende Bestandsaufnahme zur Thomas Bernhard-Rezeption in Tschechien.

Von Clemens GötzeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clemens Götze

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich mit dem Werk des Österreichers Thomas Bernhard beschäftigt, kommt nicht umhin, auch dessen Rezeptionsgeschichte zu reflektieren, denn wie bereits der Bernhard-Forscher Wendelin Schmidt-Dengler diagnostizierte: „Thomas Bernhards Werk ist nicht mehr abzulösen von der Wirkung, die es gehabt hat.“ So legte gerade die Forschung der 1990er-Jahre den Fokus auf den Aspekt der Wirkung, die vielfach losgelöst von den Texten des Autors diskutiert wurde, was eine gewisse Perspektivverengung zur Folge hatte. Dem gegenüber standen und stehen bis heute die wenigen Beiträge zur Rezeptionsästhetik von Bernhards Werk im internationalen Vergleich. Neben einem 1995 publizierten Band, der die internationale Bernhard-Rezeption reflektierte, ist bisher kaum etwas zu diesem Thema erschienen.

Nun legt der tschechische Germanist Zdeněk Pecka eine umfangreiche Studie vor, in welcher die Bernhard-Rezeption in Tschechien erstmals eingehend untersucht wird. Es geht dabei nicht um eine Gesamtanalyse, sondern die Herausstellung „prägender Momente“, wobei insbesondere auf die tschechische Auseinandersetzung mit der eigenen kommunistischen Vergangenheit eingegangen wird, die in Bernhards Themenkomplex des österreichischen Nationalsozialismus im Zuge ihrer Selbstverortung nach dem Fall des Ostblocks einen literarisch-interpretativen Anknüpfungspunkt finden konnte.

Trotz der sowohl geografischen als auch historischen Nähe Tschechiens zu Österreich war das Werk Thomas Bernhards – ähnlich wie etwa in der DDR – zu seinen Lebzeiten dort fast unbekannt und entfaltete erst nach der politischen Neuordnung Osteuropas seine Wirkung, dann jedoch umso rasanter. Der Grund dafür, dass sich ausländische Autoren in Westeuropa wesentlich rascher bei einem interessierten Leserkreis etablieren konnten, liegt zweifellos zu einem nicht unerheblichen Teil in Ideologie und Zensur begründet, wie Pecka es darlegt. Erst fünf Jahre nach Bernhards Tod und damit in einer gewissen zeitlichen Distanz zu den Entstehungskontexten seiner Werke konnte es gelingen, Thomas Bernhard am tschechischen Buchmarkt so zu platzieren, dass er einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich wurde und entsprechendes Interesse weckte beziehungsweise eine Nachfrage nach seinen Texten entstehen konnte. Das ist mit Sicherheit kein Makel, ist doch die Bernhard-Rezeption hierzulande bis heute im Wesentlichen von der Entstehungsgeschichte der einzelnen Texte geprägt. Gerade die Rezeption in den USA, Frankreich oder Spanien hat aber gezeigt, welches Potenzial das Werk Bernhards besitzt, wenn es abseits seiner historischen Wirkungslinie auf einen unbeeinflussten Leserkreis fernab des österreichischen ‚Grundtenors‘ trifft.

Dies belegt auch Peckas Studie, in der die einzelnen Phasen der tschechischen Bernhard-Rezeption chronologisch ausdifferenziert werden. Etwa dergestalt, dass die Wahrnehmung von Thomas Bernhards Texten schon sehr früh auf deren formale Innovation und das komische Potenzial rekurrierten, wohingegen dies im deutschsprachigen Raum erst nach einer Rezeptionsperiode geschah, die zunächst in Bernhard nur den düsteren Nihilisten sah. Dennoch weist Pecka auf die Kehrseite jener Situation hin, die eine verspätete Rezeption hervorbringt: Tschechien rezipiert Thomas Bernhard grundsätzlich als einen kanonisierten Autor, als einen „Klassiker der europäischen Literaturgeschichte, über dessen Berechtigung nicht gezweifelt wird.“ Seit gut zehn Jahren lässt sich damit in einem europäischen Kontext das feststellen, was für Österreich schon etwas länger gilt. Nämlich die Erhebung eines ehemaligen Enfant terrible in den literarischen Adelsstand, also die allgemein gültige Formung eines Staatsdichters. Für Österreich bedeutet dies vermutlich die beste Werbung, die man als Land haben kann – wobei diese Diagnose von Heiner Müller stammt, von einem Autorkollegen also, dessen Dichterhabitus mit dem Bernhards in manchem durchaus vergleichbar war. Sicherlich spielt dabei der Umstand, dass man einem verstorbenen Dichter huldigt, eine nicht unerhebliche Rolle, denn das Image eines Toten kann sich nurmehr schwer wandeln. Das macht es wiederum einfacher, ihn in einen bestimmten Rezeptionsrahmen zu stecken, und so mag es auch kaum noch verwundern, dass Pecka im Zuge seiner Untersuchung von Thomas Bernhard als einem „österreichischen Kulturexportartikel“ spricht. Bezeichnenderweise funktionierte dieser Export von Bernhard in das Ausland jedoch nicht vordergründig und in erster Linie über dessen literarisches Werk, welches beim Fall des Eisernen Vorhanges in Tschechien kaum bekannt war. Stattdessen spricht Pecka von einer regelrechten „Prärezeption“ zu Beginn der 1990er-Jahre, die angestoßen durch die Wissenschaft eine künstliche Rezeption im Literaturbetrieb schaffen konnte. Es ist schließlich nur folgerichtig, dass Peckas Studie die Bernhard-Rezeption der Nachbarn Ungarn und Polen gleich partiell mitreflektiert und somit aufzeigt, dass das tschechische Phänomen kein lokaler Einzelfall war.

Besonders interessant, weil unerwartet, ist die Tatsache, dass die tschechische Bernhard-Rezeption der 1990er-Jahre eng mit dem Theater und dessen Dramen verknüpft war. Dies mag vielleicht auch mit der politischen Neuorientierung eines sich gerade erst unabhängig konstituierenden Staates zu tun haben. Man konnte ähnliche Mechanismen in der Wendezeit der DDR beobachten, als die Revolution von den Theaterbühnen auf das Volk übergriff. Heute jedoch ist die Dramatik Bernhards ein eher unterbelichtetes Feld, sowohl in der literaturwissenschaftlichen Forschung als auch auf den Spielplänen europäischer Bühnen. Zum Bernhardjahr 2011 fiel deutlich eine Konzentrierung auf das Stück „Der Theatermacher“ auf, ein Hinweis darauf, wie heutige Regisseure und Theaterschaffende Thomas Bernhards Gesamtwerk interpretieren.

Das einzig störende an dieser sonst so fundierten Bestandsaufnahme zur Bernhard-Rezeption in Tschechien ist, dass sich der Verfasser aus nicht nachvollziehbaren Gründen um ein Fazit gedrückt hat. Dieser setzt nämlich an das Ende seines Buches schlichtweg ein Interview mit der Lektorin des Odeon Verlags, bei dem 1984 mit „Der Atem“ der erste Bernhard-Titel in tschechischer Übersetzung erschien. Dies mag ein interessanter Textkorpus sein, dessen Gehalt durchaus eine Publikation in diesem Rahmen rechtfertigt. Dennoch stellt er keinen guten Schluss einer solchen Arbeit dar, von der man wenigstens eine Kurzzusammenfassung erwartet hätte, ist sie doch sonst sehr logisch strukturiert und thematisch-chronologisch konzipiert. Auch die Bibliografie im Anhang ist entsprechend ausführlich und sorgfältig zusammen getragen, sodass das fehlende Resümee wirklich als Manko hervortritt. Wer in dieser Studie einen prägnanten, schlagwortartigen Forschungsbericht sucht, wird diesen vermissen, denn er muss das gesamte Buch lesen, um sich in die Thematik zu vertiefen.

Dennoch sind solche Arbeiten für die Zukunft der Bernhard-Forschung mehr als wünschenswert, weil sie über die österreich-spezifische Rezeption hinausweisen und den Blick für neue Perspektiven im internationalen Vergleich öffnen. Vielleicht entsteht auf diese Weise die Neubewertung seines Werkes und expliziert dessen Präsenz über die Grenzen Österreichs hinaus.

Titelbild

Zdenek Pecka: Thomas Bernhard als zoon politikon. Zur verspäteten Aufnahme Thomas Bernhards und seines Werkes in Tschechien.
Praesens Verlag, Wien 2010.
194 Seiten, 25,30 EUR.
ISBN-13: 9783706906296

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