Albtraum in Marokko

Abdellah Taïa schickt den Leser in eine gnadenlose Welt

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einsamkeit, Beleidigungen, Bespucken und Schläge, Vergewaltigung und Tabus – Abdellah Taïa zeichnet das Marokko Hassans II. als einen Albtraum. Sein Roman „Der Tag des Königs“ ist die dramatisch-mitreißende Geschichte des 14-Jährigen Jungen Omar, der, aufgewachsen in einem Armenviertel der marokkanischen Hauptstadt Rabat, schon früh die Rolle des Familienoberhaupts übernehmen muss. Nachdem seine Mutter aus der gewaltvollen Unterdrückung des Vaters floh und dieser sich seither, seiner Ehre beraubt, billigem Alkohol hingibt, sucht Omar Schutz und Liebe bei seinem Freund Khalid. Khalid stammt aus dem reichsten Viertel der Stadt, er wohnt in einer Villa in Salé und, sein Vater vergeht sich an einem schwarzen Dienstmädchen. Omar und Khalid vereint die Sehnsucht nach Freiheit und Unabhängigkeit. Und sie entdecken die Liebe gemeinsam, Omar schmiegt sich nackt an seinen Freund, genießt die süßen Gerüche des Hauses, er küsst ihn und träumt von einer Begegnung mit König Hassan II.: „Der König: Ich bin mit ihm geboren, ich kenne nur ihn, ich sehe nur ihn, ich achte nur ihn. Er ist überall. Er ist der Gebieter. Er ist der Vater. Er ist Gott.“ Omar möchte den König küssen, ihm nahe sein.

In den Träumen der Jungen verbinden sich Ängste, Sehnsüchte, Lust und Liebe. Realität und Albträume fließen ineinander, es wird schwer, dem Strudel der Gefühle zu folgen. Und dann wird ausgerechnet Musterschüler Khalid zum König gerufen, er darf seine Schule bei einer Zeremonie vertreten, in der die besten Schüler des Landes geehrt werden. Khalid scheint das nicht so wichtig zu sein, er versteht die zwanghaften Träume seines Freundes nicht, die Eifersucht bricht offen aus.

Immer wieder kehrt Omar nun in Gedanken zu seiner Mutter zurück. „Ich will meine Mutter nicht verstehen. Sie ist weggegangen. Jemand muss sie jetzt töten. […] Und ich werde es tun.“ Auch in seinem Hass auf die Mutter verbergen sich unstillbare Sehnsucht und unendliche Liebe. Die Mutter ist ihm längst genommen, jetzt soll ihm auch die mentale Verbindung zum König genommen werden. Der vermeintliche Verrat seines Freundes verlangt ein Opfer. Doch nicht die Mutter wird sterben.

In Marokko wird die gnadenlose Repression Hassans II., die Folter und das Verschwinden politischer Gegner in den 1970er- und 1980er-jahren, bis heute aufgearbeitet. Aber seinem Land bescherte er Stabilität. In Taïas Roman jubelt die Menge ihrem König zu. Es ist der Deckmantel über einer scheinbar heilen Welt: aufgesetzte Freude und bestellter Jubel. Nur Khalid und Omar warten nicht an der Straße, bis die Kolonne des Königs vorbeifährt. Sie wenden sich ab, ziehen sich aus und lieben sich. Die Menge wird ihnen gleichgültig. „Wir waren ja nicht die Menge. Sie konnte den Taumel nicht verstehen, in dem wir unsere Unabhängigkeit erklärten. Wir entfernten uns von ihr, immer weiter.“ – Komparierend zum Leben des Autors, der seine Unabhängigkeit erklärte, sich als homosexueller Schriftsteller outete und heute in Frankreich lebt.

Verstört reibt sich der Leser des Romans die Schläfen. Die heißen Tränen der Vergewaltigten und des am Boden liegenden Vaters von Omar, das verbotene homoerotische Spiel der Jungen und die sexuelle Macht des weißen Mannes über seine verbitterte schwarze Sklavin bleiben im Kopf. Der Roman ist keine platte Mahnung und keine Anklage mit erhobenem Zeigefinger. Kunstvoll umschlingt er das Gewissen des Lesers und reißt ihn in stakkatohaften Kurzsätzen und verzweifelten Ausrufen mit. Der ernsthafte und zugleich wahnwitzige Strudel von Worten, Träumen, Gedankenströmen und Erlebnissen der Jungen gleicht einem unangenehmen Rausch, der sich im Verlauf des Romans beschleunigt und ein dramatisches, tödliches Ende findet – in einem Schrei, einem Sturz und einem aussetzenden Atemzug.

Titelbild

Abdellah Taïa: Der Tag des Königs. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Andreas Riehle.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
179 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518422953

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