Das erinnerte ‚Genie‘

Claudia Stockingers und Stefan Scherers Handbuch zu Ludwig Tieck

Von Christoph KleinschmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Kleinschmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zur Auseinandersetzung mit dem vielfältigen Schaffen Ludwig Tiecks gehört fast schon reflexartig das Schlagwort vom ‚König der Romantik‘, dessen ‚Genie‘ von der Forschung über lange Jahre vergessen wurde. Zumindest die letztere Zuschreibung wird man künftig wohl nicht mehr bemühen können, denn mit dem von Claudia Stockinger und Stefan Scherer herausgegebenen Handbuch über Leben, Werk und Wirkung Ludwig Tiecks ist der Autor endgültig im Kanon der Literaturwissenschaft angekommen. Die Herausgeber legen mit ihrem gründlich recherchierten und fundiert zusammengestellten Buch eine umfassende Überblicksdarstellung vor, die Tieck in der ganzen Breite seines Wirkens von der Spätaufklärung bis zum Frührealismus aufarbeitet und in der Vielfalt seiner Einflüsse in Erinnerung ruft.

Bei dem Band handelt es sich um den zweiten in der Handbuchreihe des de Gruyter-Verlags, der sich konzeptuell am Vorgängerlexikon zu E.T.A. Hoffmann orientiert, jedoch einige andere Schwerpunkte setzt. Ein markanter Unterschied betrifft die Gewichtung des literarischen Werks, das die Herausgeber stärker in den biografischen und literaturgeschichtlichen Abriss integrieren beziehungsweise geordnet nach größeren Schaffensphasen behandeln. Auf Einzeldarstellungen wird somit weitgehend verzichtet. Das Handbuch ist in fünf Kapitel unterteilt: Ein erstes, das den zeitgenössischen soziokulturellen Kontext Tiecks erschließt, ein zweites, das den Traditionen und diskursiven Einflüssen nachgeht, ein drittes, das die poetologischen und literaturkritischen Schriften erörtert, gefolgt von einem vierten zu den genuin poetischen Texten, und schließlich einem fünften zur Wirkung Tiecks. Abgerundet wird der Band mit einer Zeittafel, einer umfangreichen Bibliografie, einem Abbildungsverzeichnis und einem Register, das einen schnellen Zugriff auf einzelne Aspekte erlaubt.

Bereits im ersten Kapitel zeigen sich Expertise und Facettenreichtum der Beiträge. Angefangen bei der Jugendfreundschaft mit Wilhelm Heinrich Wackenroder und den Vorlesungen bei Karl Philipp Moritz über die literarischen Salons von Henriette Herz und Rahel Varnhagen sowie den Jenaer Begegnungen mit den Schlegels bis zu den Korrespondenzen mit Johann Wolfgang von Goethe und den teils skeptisch beäugten Romantikern der mittleren Phase erscheint Tieck als integrale Figur des Literaturbetriebs vom späten 18. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. Dabei gehört es zu den Vorzügen der Aufsätze, dass in ihnen die Lebensstationen Tiecks stets in Bezug gesetzt werden zu seinen literarischen Produktionen. Tieck erscheint damit als ein kritischer Beobachter und Förderer der zeitgenössischen Literaturszene, dessen eigene Position zwischen Originalität und Offenheit für diverse Einflüsse changiert. Charakteristisch ist zudem, dass er verschiedene literarische Phasen durchläuft ohne dabei bestimmte poetische Prinzipien aufzugeben. Dieses komplizierte und komplexe Verhältnis fasst gelungen ein Beitrag von Gustav Frank zusammen, in dem „Tiecks ungeklärte Epochalität“ diskutiert wird. Sein Vorschlag, Tiecks Schreiben als produktive Form der Diskontinuität zu fassen, überzeugt ebenso wie die Differenzierung in eine inter- und intraepochale Betrachtung seiner Arbeiten. Dass das Handbuch auch Platz bietet für Anekdotisches, dokumentiert ein Beitrag von Janet Boatin über dessen berühmt-berüchtigte Vorleserabende. Unter aller Vorsicht einer (re)konstruktivistischen Perspektive zeigt sie wunderbar auf, wie Tieck als Vorleser sich selbst und seine Zuhörer einer Art Körperdisziplinierung unterzieht, die sogar Franz Grillparzer an den Rand der Erschöpfung bringt.

Mit dem zweiten Kapitel verschiebt sich der Fokus auf die Verarbeitung traditioneller und zeitgenössischer Diskurse bei Tieck. Dabei wird dessen produktive Aufnahme europäischer Literaturen sichtbar, die von den Dramen William Shakespeares bis zur hispano-romanischen Literatur eines Miguel de Cervantes oder Dante Alighieri und den Komödien des Dänen Ludvig Holberg reicht. Gerade in diesem Teil zeigen sich aber auch die Grenzen eines Handbuchs. Denn dort, wo die Forschung erst in Ansätzen geleistet wurde, können die Beiträge selbst nur das wenig Bekannte konstatieren (Gilbert Heß: ‚Antike-Rezeption‘) oder einen listenartigen Überblick geben (Christian Sinn: ‚Englische Dramatik‘). Als heterogen erweisen sich die durchaus instruktiven Einlassungen zu Orientalismus, Musik, Bildender Kunst, Religion und Philosophie. Während einige Beiträge eine sehr gute Balance zwischen zeitgenössisch-biografischen Positionen und literarischen Umsetzungen finden, bleiben andere gerade im Hinblick auf die Literatur zu fragmentarisch. Bedenkt man beispielsweise die zentrale Rolle der Malerei in „Franz Sternbalds Wanderungen“, so genügen die wenigen Sätze hierzu in Helmut Pfotenhauers Beitrag zur Bildenden Kunst bei weitem nicht aus. (Erst in seinem Artikel zur Kunsttheorie erfährt der „Sternbald“-Roman eine eingehendere Untersuchung.) Insgesamt unterrepräsentiert bleibt in diesem Kapitel die Wechselbeziehung der Künste, wie sie vom „Sternbald“ bis zu den „Elfen“ bei Tieck deutlichen literarischen Niederschlag findet und auch in den Freundschaften zu Novalis und Runge einen wichtigen Stellenwert im ästhetischen Diskurs einnimmt. Wie schwer sich allerdings gerade bei Tieck eine Auswahl von zentralen Motiven darstellt, zeigt indirekt der Beitrag Achim Hölters über die Privatbibliothek des Dichters. Auch wenn eine Sammlung keinen Rückschluss über die tatsächliche Lektüre erlaubt, offenbart das umfassende „intertextuelle Archiv“ Tiecks ein außerordentliches Interesse für die Geschichte und Entwicklung der Literatur. Dass die Bibliothek nach seinem Tod aufgelöst wurde und mittlerweile auf viele Orte zerstreut ist, spiegelt dabei auf ironische Weise die Heterogenität der Einflüsse wider, denen Tieck sich selbst und seine Leser aussetzt.

Zu den vielen Vorurteilen über Tieck zählt seine Theorieferne. In der Tat kann er gegenüber den Fragmenten von Novalis und Friedrich Schlegel mit ihren Epoche machenden Forderungen nach einer Romantisierung der Welt und einer progressiven Universalpoesie nichts Vergleichbares vorweisen. Allerdings wäre es verfehlt, seinem Schaffen jegliche theoretische Basis abzusprechen. Wie Jürgen Brummack in seinem Artikel treffend formuliert, ist „Tiecks eigenster Beitrag zur Poetologie […] performativ“. Er ist also Teil des praktischen Umgangs mit der Literatur und das betrifft im Falle Tiecks nicht nur das eigene literarische Schreiben, sondern auch seine Tätigkeiten als Übersetzer, Dramaturg und Herausgeber. Vor diesem Hintergrund leistet das Handbuch mit seinem dritten Kapitel einen wichtigen Beitrag zu einer Aufarbeitung der vermischten poetologischen Positionen. Allen Beiträgern gelingt es dabei überzeugend, die über verschiedene Vorworte, Kritiken und Briefe verstreuten Konzepte herauszuarbeiten. Tiecks Verständnis vom Übersetzer als zweitem Autor oder seine Wendepunkttheorie der Novelle finden dabei ebenso Berücksichtigung wie seine Reformbemühungen als Dramaturg und seine recht frei interpretierte Herausgebertätigkeit. Auch wenn sich die vermischten Äußerungen zu keiner kohärenten Theorie fügen, zeigt sich in dem gut aufeinander abgestimmten Artikelspektrum ein gemeinsamer Tenor: Tiecks poetologisches Verständnis entwickelt sich stets in der kritischen Auseinandersetzung mit anderen Autoren und Texten. Bei aller Kritik an solch einer produktiven ‚Uneigenständigkeit‘ lässt die Orientierung an und Förderung von namhaften Autoren wie Shakespeare, Cervantes, Goethe, Novalis oder Kleist keinen Zweifel an dem „sichere[n] Gefühl für literarische Größe“ (Roger Paulin: ‚Zur Person‘), das Tieck auch gegen zeitgenössische Anfeindungen zu behaupten wusste.

Die Auswahl der Schwerpunkte im vierten Kapitel zeigt den generalistischen Anspruch des Handbuchs auch im Hinblick auf die ‚eigentlichen‘ ´poetischen Schriften. Mit den Abhandlungen über die zahlreichen Schülerarbeiten, die Lyrik mit ihren circa 750 Gedichten und den knapp 50 Dramen stehen zu Beginn Texte von Tieck im Vordergrund, die bis vor wenigen Jahren von der Forschung weitgehend unberücksichtigt blieben. Anhand einer kursorischen Durchsicht und exemplarischer Analysen leisten Claudia Stockinger und Stefan Scherer eine überzeugende Neubewertung der mit dem Etikett ‚Auftragsarbeiten‘, ‚Imitationen‘ oder ‚Fingerübungen‘ häufig negativ apostrophierten Texte. Sie machen dagegen die literarische „Experimentierfreude“, die „polykontexturale Variabilität der Dramen“ und die zentrale Rolle Tiecks bei der Begründung romantischer Stimmungslyrik stark. Der Vorzug dieser Kapitel – die Berücksichtigung unbekannterer Texte im Rahmen einer Überblicksdarstellung – gerät indes ein wenig zum Nachteil der Behandlung von Tiecks Prosa. Außer den Romanen „William Lovell“ und „Franz Sternbalds Wanderungen“ sowie dem Novellenzyklus „Phantasus“, die alle drei nach bewährter Handbuchmanier eingeführt werden, erfährt kein Prosatext eine Einzeldarstellung. Auch so bekannte und viel erforschte Erzählungen wie „Der Runenberg“ oder „Des Lebens Überfluss“ müssen sich mit einer recht knappen Besprechung begnügen. Dass sich die Artikel zu den frühen Erzählungen, den Dresdner Novellen und der späten Prosa dennoch als Einstieg in eine vertiefende Beschäftigung eignen, liegt an der Prägnanz der Beiträge. Was ihnen besonders gelingt, ist die Einordnung in den Gesamtzusammenhang von Tiecks Schaffen, so etwa die diagnostizierte Verbindung eines aufklärerischen Skeptizismus mit einer protoromantischen Psychopathologie in den frühen „Straußfedern“-Erzählungen (vergleiche Detlef Kremer: ‚Frühes Erzählen‘). Gleiches gilt für die beobachtete satirisch-selbstreflexive Rückschau auf die Frühromantik in „Waldeinsamkeit“, einer späten Novelle, die im Titel ein Gedicht aus dem Märchen „Der blonde Eckbert“ zitiert. Gerade an dieser motivischen und generischen Bricolage zeigt sich indes die grundlegende Schwierigkeit, der sich die Herausgeber des Handbuchs ausgesetzt sahen und die sie doch gemeistert haben: Tiecks literarische Schriften lassen sich gattungs- und epochenspezifisch schwer systematisieren.

Ebenso heterogen wie die eigenen Texte erweist sich auch die Wirkung Tiecks. Das fünfte und letzte Kapitel widmet sich ihr von den Urteilen der Zeitgenossen bis zu aktuellen Tendenzen in der Forschung einschließlich einiger Ausblicke auf Verarbeitungen in Musik, bildender Kunst und den Resonanzen im Theater. Besonders die Artikel von Andreas Hirsch-Weber und Gerhard Kaiser zeigen die polarisierende Wirkung, die Tieck zeitlebens ausgelöst hat. Dessen Rezeption wird dabei als „Spiegel zahlreicher Gruppenbildungsprozesse“ einsichtig, und zwar – wie Gerhard Kaiser treffend formuliert – „im Zeichen der [doppelten] Häresie“. Demnach erscheint Tieck mit seinem Eintreten für die Frühromantik als Verräter der Aufklärung und in den Augen der Jungdeutschen als Verteidiger eines überkommenen Literaturverständnisses. Dass es nach seinem Tod zwar zu einer Versachlichung kommt, keineswegs aber zu einer Vereinheitlichung im Urteil, macht ein Beitrag über dessen Rezeption im öffentlichen Leben deutlich. So zeigt Marja Rauch die Diskrepanz zwischen der Hochschätzung Tiecks in der Forschung gegenüber einer weitgehenden Vernachlässigung im Schulkanon auf. Dass zudem kein veritables Tieck-Denkmal existiert, mag bloß für Anhänger eines biografistischen Literaturverständnisses beklagenswert sein, stärker ins Gewicht fällt indes die Tatsache, dass es bis heute keine kritische Gesamtausgabe der Schriften Ludwig Tiecks gibt. Mit dieser Diagnose stellt das letzte Kapitel der zukünftigen Tieck-Forschung eine ihrer wichtigsten Aufgaben.

Das Tieck-Handbuch wird gewiss zu einem unverzichtbaren Orientierungswerkzeug in der Auseinandersetzung mit dessen vielfältigen Schaffen. Es erlaubt durch seine übersichtliche Gestaltung sowie das Register einen schnellen und gezielten Zugriff auf einzelne Aspekte, Texte und Personen. Zudem sind die Artikel sinnvoll über Querverweise miteinander vernetzt. Besonders die gut sortierte Bibliografie ermöglicht sowohl einen thematischen als auch textspezifischen Zugriff auf die Tieck-Forschung. Allerdings wäre zu überlegen gewesen, ob man sie nicht begleitend zum Handbuch als Onlinefassung hätte publiziert sollen, wie es beispielsweise die Forschungsstelle zu Annette von Droste-Hülshoff praktiziert. Dies hätte zum einen den Vorteil, dass sie laufend aktualisiert werden könnte, zum anderen, dass für die Besprechung der literarischen Texte mehr Raum geschaffen wäre. Bei der außerordentlichen Produktivität Tiecks und der Vielfalt seiner Motive und Verfahren ergeben sich allerdings zwangsläufig Leerstellen, die auch ein derart ambitioniertes und auf thematische Breite setzendes Handbuch wie das vorliegende nicht ganz vermeiden kann. Dass ihm dennoch ein Spagat zwischen der Dokumentation des Forschungsstandes und der Akzentuierung bisher unterrepräsentierter Perspektiven gelingt, macht es zu einem wertvollen Lexikon, das für ein differenziertes Tieck-Bild einen wichtigen Beitrag leistet.

Titelbild

Claudia Stockinger / Stefan Scherer (Hg.): Ludwig Tieck. Leben - Werk - Wirkung.
De Gruyter, Berlin 2011.
845 Seiten, 159,95 EUR.
ISBN-13: 9783110183832

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