Vom poetischen Gehalt der Natur

Zum 150. Todestag: Der Prachtband der deutschen Erstausgabe von „Wilde Früchte“ ehrt Henry David Thoreau

Von Patrick WichmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Wichmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der amerikanische Philosoph Henry David Thoreau war rund anderthalb Jahrhunderte vor allem als Autor zweier Werke bekannt: Zum einen für den Essay „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ („Civil Disobedience“), in dem er ein moralisch begründetes Widerstandsrecht der Bürger gegen die staatliche Obrigkeit entwickelt. Zum anderen stand seine Bibel der Alternativen und Welt-Entsager, „Walden oder das Leben in den Wäldern“ („Walden; or, Life in the Woods“), im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, in dem Thoreau sein zweijähriges Leben in einer selbstgebauten Blockhütte thematisiert. In diesem Jahr nun hat sich am 06. Mai Thoreaus Todestag zum 150. Mal gejährt – und pünktlich fällt dieser Gedenktag mit der jüngsten ökologischen Bewegung in unserer Bevölkerung zusammen. Wo mittlerweile die Umwelt im Zentrum der allgemeinen Überlegungen steht, gerät auch die naturphilosophische Seite von Thoreaus Schaffen stärker in den Blickpunkt.

Eine wahre Pioniertat hat nun der Manesse-Verlag zu diesem Anlass getätigt: Zum Thoreau-Jubiläum wurde das Werk „Wild Fruits“, das im Jahr 2000 in den USA aus tausenden Manuskriptseiten extrahiert und veröffentlicht wurde, erstmals in deutscher Sprache aufgelegt. Dabei hat der Schweizer Verlag, der sonst für die kleinen, westentaschengroßen Bücher aus der „Bibliothek der Weltliteratur“ bekannt ist, Thoreaus „Wilde Früchte“ eine opulente Schmuckausgabe spendiert: mit 320 großformatigen Seiten, in rotes Leinen gebunden, mit erläuterndem Nachwort, einem umfangreichen Anmerkungsapparat und botanischem Glossar. Der augenfällige Höhepunkt der Ausgabe sind allerdings die 52 farbigen Illustrationen von Sonia Schadwinkel, in denen sie den Früchten Thoreaus ein glanzvolles Leben verleiht. Ihre Bilder schmiegen sich dabei geradezu an den Text und sind jedes Mal aufs Neue eine Augenweide.

Henry David Thoreaus unvollendet gebliebene Schrift ist – und zwar im besten Sinne – nichts anderes als eine liebevolle Hommage an die Schönheit der Natur. Diese sucht und findet er nicht etwa in der fremdländischen Exotik, sondern sprichwörtlich vor der eigenen, nordamerikanischen Haustür. „Um der Schönheit ihrer Beeren willen ziehen wir fremdländische Sträucher in unseren Vorgärten, doch mindestens ebenso hübsche Beeren wachsen unbeachtet auf den uns umgebenden Fluren“, plädiert er für die heimische Flora. Thoreau führt den Leser tagebuch- und notizartig durch das botanische Jahr und beschreibt das Auftreten und die Wachstumsstadien von insgesamt 182 wilden Pflanzen und Früchten, von der Ulme am 10. Mai bis zum Kriechwachholder am ersten Tag des darauffolgenden März, und von minimalistischen Ein-Wort-Beschreibungen à la „Purpurviolett“ zur Jungfernrebe bis hin zur 25-seitigen Liebeserklärung an die Schwarze Hucklebeere. Bei all der Beschreibung von charakteristischen Merkmalen und Blütenständen, ist die botanische Systematik jedoch nur ein Randaspekt in „Wilde Früchte“. Vielmehr weiß Thoreau durch den hohen Grad an poetischem Gehalt in seiner Naturbeschreibung zu beeindrucken – wobei hier zweifelsohne auch Uda Strätling zu danken ist, die den beinahe hymnischen Duktus Thoreaus nahezu perfekt ins Deutsche übertragen hat.

Bei Thoreaus Reise „in die Beeren“, wie er es selbst nennt, steht zu jeder Zeit die unmittelbare Naturerfahrung als solche im Mittelpunkt. Mit quasi-religiöser Ehrerbietung verleiht er seiner Liebe zur Natur Ausdruck. „Wilde Früchte“ ist daher auch weniger als botanische Enzyklopädie des Pflanzenbestandes von Neuengland von Bedeutung, sondern als persönliche Hommage zu lesen, die mit humoristisch-anekdotischen Elementen durchsetzt ist. So werden hier Erdbeeren zu dem „Manna“ des „Frühlingsdufts“, die Hucklebeere zu „Sakrament“ und „Kommunion“ und da „beschwört ein knorriger Holzapfel, den ich vom Fahrweg auflese, durch seinen Duft allen Reichtum Pomonas herauf – er trägt mich den Tagen entgegen, da man in Obstgärten und vor den Ciderpressen Äpfel zu goldenen, rotbackigen Haufen aufschüttet“.

„Wilde Früchte“ ist kein Buch zum ununterbrochenen Lesen, dafür erschöpft sich der teils stakkatoartige Stil zu rasch. Nur durch selektives und verknapptes Erkunden kann man angemessen in die botanischen Miszellen eintauchen. Umso bedeutsamer und lobenswerter ist vor diesem Hintergrund die Tat des Manesse-Verlags: Er hat nicht nur ein weiteres Werk des – so Bradley P. Dean in seinem Nachwort – „Protoökologen“ Henry David Thoreau auch dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht, sondern hat für dieses Buch auch die perfekte Form gefunden. „Wilde Früchte“ ist eine bibliophile Prachtausgabe, die immer wieder zum kurzweiligen und gedankenverlorenen blättern, stöbern und genießen einlädt.

Titelbild

Henry David Thoreau: Wilde Früchte.
Herausgegeben von Bradley P. Dean.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Uda Strätling.
Manesse Verlag, München 2012.
320 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-13: 9783717560067

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