Auf der Suche nach dem Stimmungskanon

Ein von Anna–Katharina Gisbertz herausgegebener Sammelband reflektiert Gefühlsatmosphären in Künsten und Räumen

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Stimmung ist ein rätselhaftes Phänomen − wenn sie denn ein Phänomen ist und nicht eher ein zumeist nicht-erscheinendes Fundament. Nicht nur gehört sie, wie schon Leo Spitzer bemerkte, zu den deutschen Begriffen, die als unübersetzbar gelten; daher fand der Begriff auch Eingang in das „Dictionnaire des Intraduisibles“. Die Stimmung scheint auch insofern verwirrend, als wir uns im Alltagsgebrauch ohne große Schwierigkeiten über sie verständigen können, etwa wenn wir von einer Frühlingsstimmung oder einer Morgenstimmung sprechen, oder wenn wir darauf verweisen, dass bei jenen schlechte Stimmung sei, oder auf dieser Party eine Bombenstimmung herrsche. Jeder versteht, was gemeint ist. Doch wird die Sache vertrackt, wenn man sich wissenschaftlich, als Psychologe oder Philosoph, als Musik- oder Kunstwissenschaftler um präzise Beschreibungen, Abgrenzungen und Wirkungszusammenhänge der Stimmungen bemüht. Oder wenn man gar versucht, diese experimentell zu messen oder zu manipulieren. Unter dem analytischen Begriffs- und Methodeninventar der Wissenschaften lösen Stimmungen sich oft auf, gleichsam wie eine Wolke beim Durchfliegen. Sie entziehen sich der Sprache und der kategorialen Einordnung.

Seit Gernot Böhme die leibphänomenologische Philosophie der Stimmung von Hermann Schmitz in einem Buch über „Atmosphären“ (1996) aufgriff, seit David Wellbery 2003 einen gründlichen Überblicksartikel in den „Ästhetischen Grundbegriffen“ vorlegte und schließlich Hans Ulrich Gumbrecht in einer Serie von „F.A.Z.“-Artikeln für eine literaturgeschichtliche Stimmungsforschung plädierte und essayistische Kostproben des Gemeinten vorlegte, seit gut zehn Jahren also sind Stimmungen zu einem kulturwissenschaftlichen Forschungsgebiet geworden. Diese Konjunktur steht im Rahmen des emotional turns in den Geistes- wie Naturwissenschaften. Galten Affekte und Emotionen lange Zeit (durchaus fälschlicherweise) als kaum erforschbare, weil vermeintlich irrationale Phänomene, so sind die weniger ereignisbezogenen, nicht gerichteten, dauerhafteren Stimmungen tatsächlich schwieriger zu messen und zu versprachlichen als kurzlebigere Emotionen mit Objektbezug wie Wut, Liebe, Angst, Stolz, Scham oder Freude.

Ein perspektivenreicher Sammelband unternimmt nun eine Bestandsaufnahme der Stimmung als ästhetischer Kategorie in den diversen Kunstwissenschaften. Er versucht somit, Wellberys Gegenwartsbestimmung am Ende seines historischen Abrisses zu widerlegen. Denn der verkündete, dass in der heutigen ästhetischen Theorie, die auf Kommunikation oder Sprache und nicht mehr auf Gefühl fundiert sei, der Stimmungsbegriff kaum mehr Relevanz besäße. Zudem sei das Konzept nicht nur historisch sondern durch seine Verhunzung im Alltag gewissermaßen auch ‚dumm‘ geworden und vermutlich für die Theoriebildung desavouiert.

In ihrer Einleitung verdeutlicht die Herausgeberin Anna-Katharina Gisbertz, dass Immanuel Kant ‚Stimmung‘ als ästhetischen Begriff eingeführt habe; und zwar an der Stelle, wo Verstand und Empfinden zum Ausgleich kommen (als freies Spiel von Verstand und Einbildungskraft) − und so ein ästhetisches Urteil ermöglichen. Mit Martin Heidegger wurde der Begriff philosophisch populär. Doch weist seine Bestimmung, die Stimmung als Grundweise des Daseins aufzufassen und sie damit gleichsam zum Fundament der Philosophie zu machen, auf ein Sprach- und Erkenntnisproblem hin. Denn wie könnte man solche kaum fixierbaren, fundamentalen Daseinsweisen, die der Sprache und dem Erkennen zugrunde liegen, benennen und erkennen? Ziel ihres aus einer Konferenz hervorgegangen Sammelbandes sei es, die historisch wie systematisch stark divergierenden Verwendungsweisen des Stimmungsbegriffs in den Semantiken der Musik, Physik Philosophie und Psychologie zu vergleichen und soweit möglich aufeinander abzustimmen.

Christiane Freys brillant argumentierender Aufsatz erklärt Kants Konzept ‚proportionierter Stimmung‘. Freys Rahmenthese zur Ästhetikgeschichte lautet: Die lange dominierenden Kunsttheorien der Proportion und des Maßes wurden im 18. Jahrhundert abgelöst von Ästhetiken der Stimmung oder Atmosphäre (also der unbestimmten Gefühlszustände und Tönungen im Kunsterleben). Bei Kant finde sich die überraschende Kombination dieser beiden Leitaspekte: als ‚proportionierte Stimmung‘. Mit dieser bezeichne er das freie Spiel der verschiedenen Erkenntniskräfte, das dem ästhetischen Urteil zugrunde liege. Pointiert setzt Frey Kants Verwendungsweise des Konzepts von der heute geläufigen ab: „‚Stimmung‘ meint bei Kant folglich eher das Gegenteil der Stimmung im modernen Sinne − und das heißt einerseits im phänomenologischen und andererseits, wie in der Semantik des 18. Jahrhunderts bereits verfügbaren, psychologischen Sinn. Sie ist keine subjektiv erfahrbare Stimmung und Tönung der Objektwelt durch das Gemüt oder eine Innen- und Außenwelt zusammenstimmende Atmosphäre. Kants Stimmung meint vielmehr etwas geradezu Technisches, nämlich eine Einstellung, ein Disponieren der Gemütskräfte zur Erkenntnis überhaupt.“ Zwar könne sich hier der Verdacht erheben, dass Kant die Wohlproportioniertheit, die er dem Objekt eines Schönen abgesprochen hatte, auf der Subjektseite des Rezipienten wieder einführe. Doch finde im ästhetischen Urteilen eben keine Subsumtion unter einen Begriff statt (wie beim sonstigen Urteilen), sondern es ereigne sich bloß die gefühlte Übereinstimmung von Verstand und Einbildungskraft in ihrem gewaltlosen Spiel. Stimmung sei bei Kant mithin weder ein Gefühl noch ein Gegenstand noch ein Begriff (für das Schöne), sondern der Verweis auf das Zusammenspiel der beiden Erkenntniskräfte Sinnlichkeit und Verstand. Im ästhetischen Urteilen werde das ‚Erkenntnisgetriebe‘ als solches, gewissermaßen im Leerlauf, ohne Begriffsbezug bemerkbar und erzeuge einen Genuss am Zusammenspiel der Erkenntnisvermögen.

Erst Friedrich Schiller in seiner produktiven Fehllektüre Kants etabliere dann tatsächlich die Wohlproportioniertheit der subjektiven Vermögen als Kennzeichen des Ästhetischen. Schiller ästhetisiere in „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“ den (auf Erkenntnisprozesse bezogenen) Stimmungs-Begriff Kants. So werde bei Schiller die Stimmung eine rein ästhetische; denn nur im ästhetischen Zustand befinden sich für ihn die Gemütskräfte in vollkommener Harmonie.

Thomas Pfau widmet sich dem Auftauchen von Stimmung und Spiel als Subkategorien des Konzepts der Bildung nach 1800. Der Gewinn dieses Aufsatzes für das Konzept der Stimmung scheint eher gering, da sein Fokus auf einer philosophiehistorisch gut informierten Präzisierung des Spiel-Begriffs liegt (wobei der Anküpfungspunkt zum Stimmungsdiskurs wieder in Kants folgenreicher Begründung des ästhetischen Urteils im freien Spiel der sensuellen und rationalen Erkenntniskräfte liegt). Pfau versucht, eine tiefenstrukturelle Affinität von Spiel und Kognition, zwischen dem Spielerischen und dem Rationalen zu verdeutlichen.

Caroline Welsh rekonstruiert, wie die Begriffsgeschichte von ‚Stimmung‘ schon seit der Aufklärung transdisziplinär verlief. Wie der Resonanz-Begriff sei auch ‚Stimmung‘ eine ‚Denkfigur‘, die im Feld des Wissens zwischen Ästhetik, Psychologie und Physiologie zirkulierte. Ihre historische Semantik entwickelte sich in einem Forschungsfeld, das Emotionen, Denken und Erinnerung umfasste. Welsh unterscheidet eine mit Johann Georg Sulzer anhebende psychologische Traditionslinie ästhetischer Stimmung von der philosophischen Traditionslinie, die ihren Ursprung hatte in Kants Ablehnung der Gefühlsästhetik. Daher gerate in Kants Stimmungsbegriff der Bereich der Emotionen (der psychologischen Gemütsstimmungen) weitgehend aus dem Blick. Sulzers älteres Modell stelle dagegen Denkmuster bereit, die der komplexen Emotionalisierung, wie sie moderne Ästhetiken modellieren, Anknüpfungspunkte biete. Laut Welsh werde die Erzeugung von Stimmungen in der Moderne im Anschluss an den psychologistischen Strang der Stimmungstheorien − wie ihn besonders die Schüler Wilhelm Wundts verfolgten − geradezu zum eigentlichen Inhalt der Kunst. Die emotionalen Stimmungsdiskurse in der Psychologie wie in der Ästhetik blieben eng verbunden; beide Wissenschaften betonten die große Bedeutung unbewusster Prozesse. Eine entscheidende Transformation der ästhetischen Moderne liege darin, dass Stimmungen nun nicht mehr als Voraussetzungen ästhetischer Erfahrung betrachtet werden, sondern dass die Stimmungen des Gemüts als Ergebnis der ästhetischen Erfahrung aufgefasst wurden. Stimmung war nun Telos der Kunst. Welsh rekonstruiert eindringlich, wie das Konzept psychologischer Stimmung die Wirkungsästhetiken der Spätaufklärung (vor Kant) mit den ästhetischen Theorien der Moderne verbindet. Über Welshs historische Rekonstruktion hinausgehend kann man konstatieren, dass dieser psychologistische, emotionsorientierte Strang des Kunstdenkens gewissermaßen eine empirisch befestigte Umgehungsstraße anbietet, um die überambitionierten Kunstansprüche idealistischer Autonomie-Ästhetiken (von Kant bis zum New Criticism) wie die entpsychologisierten Wahrheitsästhetiken (von Hegel bis Adorno) zu umgehen.

David Wellbery entfaltet verschiedene nicht-räumliche und räumliche semantische Aspekte des Stimmungsbegriffs in seinem Beitrag zum „Gestimmten Raum. Von der Stimmungslyrik zur absoluten Dichtung“. In Abgrenzung von Stimmung als Vorbedingung für Handeln (als Potentialität) skizziert Wellbery den gestimmten Raum mit Ludwig Binswanger. Der gestimmte Raum sei ein Raum, der als solcher präsentisch erfahren werde, ohne Orientierung auf zielgerichtetes Handeln. In einem solchen gestimmten Raum herrsche die Indifferenz von Innen und Außen, von Leibraum und Fremdraum. Binswangers Konzept des ‚gestimmten Raums‘ soll nun als Beschreibungssprache für Stimmungslyrik, vor allem für diejenige Rilkes, literaturwissenschaftlich fruchtbar gemacht werden. Georg Simmels Essays über Landschaft, sowie über ‚Brücke und Tür‘ sind weitere Anknüpfungspunkte Wellberys, der diese Raum-Symbole der Symbolisierung ergänzt um das Fenster als Vermittlungsort von Innen und Außen. Unterschieden wird das romantisch-sentimentalische Modell des Fensterdispositivs, dem es nicht um stimmungsmäßige Erschließung der Existenz gehe, vom genuin stimmungslyrischen Fensterdispositiv Rilkes. Als souveräner, besonnener Zug überzeugt die skeptische Beschränkung der Stimmungskategorie durch Wellbery: Stimmungsgedichte seien zu Recht marginal; es gebe nur einen sehr kleinen Kanon guter Stimmungstexte. Der Grund hierfür sei, dass das Nebulöse sich nicht einpräge, weil die diffuse Semantik der Stimmungstexte zu wenig Differenzen aufkommen lasse. Rilke reagiere auf diese ästhetische Sackgasse, indem er das Stimmungskonzept steigere und es schließlich überführte in etwas ganz Anderes. Wellbery erklärt, wie die Evokation des gestimmten Raums bei Rilke allmählich in die Ausgestaltung eines Sinnraums absoluter, sich selbst setzender Dichtung überging.

Burkhard Meyer-Sickendiek versucht in seinem Beitrag (wie auch in einer Monografie zum ‚Lyrischen Gespür‘), den angestaubten Begriff der Stimmungslyrik von seiner Hegel‘schen Herkunft und der romantischen Innerlichkeit zu befreien und auf eine neue, phänomenologische Grundlage zu stellen. Mit Gernot Böhme begreift er die Synästhesien moderner Kunst als Prozesse eines eigenleiblichen Spürens, in die wir durch die Atmosphäre von Kunstwerken verwickelt werden. Das vom ‚Gespür‘ unterschiedene ‚Spüren‘ ziele auf eigenleibliche Empfindungen. Das Gespür hingegen sei das Vermögen, Verborgenes und Nuancen gefühlsmäßig zu erfassen; es ziele auf Stimmungen im Plural. Die Geschichte moderner Lyrik versteht Meyer-Sickendiek als fortschreitende Emanzipation des Gespürs vom leiblichen Spüren. Statt romantischer Gemütsstimmungen gehe es moderner Lyrik um Zeitstimmungen, so sein mit Hermann Bahr vorgetragenes Argument. Hilfreich für das Anliegen des Bandes sind die von Meyer-Sickendiek aus der (emotions-)psychologischen Forschung zusammengetragenen Abgrenzungskriterien der Stimmungen von Emotionen. Stimmungen seien dauerhafter und konsistenter, treten häufiger auf, haben keinen bestimmten Objekt- oder Ereignisbezug; sie seien „nichtintentionale Zustände mit niedriger Intensität.“ Mit Hermann Schmitz und Heidegger argumentiert der Verfasser des Buches „Affektpoetik“ dann gegen den von Hegel stammenden Subjektivismus der Stimmungskategorie. Stimmungen existierten durchaus in Gefühlsräumen oder im Dasein jenseits des Subjekts. Sein zentrales Anliegen ist die These, dass moderne Lyrik seit dem 18. Jahrhundert ein wesentliches Medium für das Erspüren von (solcherart desubjektivierten) Atmosphären geworden sei. Schon Barthold Heinrich Brockes sei ein Meister des Erspürens von Atmosphären gewesen, wie unter Bezugnahme auf ein Gleim-Gedicht, das Brockes als Stimmungsmeister rühmt, erklärt wird. Meyer-Sickendieks kühne Begriffsbestimmungen von ‚Gespür‘ und ‚Spüren‘ wie auch seine lyrikgeschichtlichen Epochenzuschreibungen sind so anregend wie vermutlich schwer zu überprüfen.

Gleiches gilt für die Ontologisierung und Desubjektivierung des Stimmungsbegriffs, wie sie Hermann Schmitz’ Neuphänomenologie vorschlägt. Schmitz selbst führt seine leib- und raumbezogene Stimmungskunde vor an der ‚Stimmung der Stadt‘. „Die Stimmung einer Stadt beruht auf Bewegungssuggestionen und synästhetischen Charakteren, die als leibnahe Brückenqualitäten bei den Anwesenden solidarische Einleibung bewirken, auf der sich Gefühle als Atmosphären mit bedeutsamen zuständlichen Situationen niederlassen und den Anwesenden mitteilen.“ Zur konkreten Verdeutlichung vergleicht er die Stimmungen der sächsischen Großstädte Leipzig und Dresden und schließt mit einem Hinweis auf hässliche Großstädte, deren bauliches Wesen Stimmungen von Entfremdung und Verzweiflung evoziere.

Hans Georg von Arburg geht dem Konzept der Enharmonik bei Rameau, Diderot und Goethe nach. Peter Szondi habe erstmals das musikalische Prinzip der Enharmonik auf die Philologie übertragen und so den Funktions- und Bedeutungswandel einzelner Worte oder Sprachbilder in verschiedenen Passagen poetischer Texte Mallarmés und Celans verdeutlicht. Szondis Absage an die Parallelstellen-Hermeneutik zugunsten einer Bestimmung der je individuellen Bedeutungskonstitution eines Einzeltextes insistiert auf den je singulären Stellenwert eines Wortes im spezifischen Text. Von Arburg wendet Szondis Genauigkeitsmethode an auf ‚Rameaus Neffen‘, der das Enharmonische Verwechslungs- und Differenzkonzept auf der Inhaltsebene verhandelt und zudem in seiner Rezeption durch Goethe die Fragen der Stimmung und Bedeutung auch im Hinblick auf intertextuelle oder translatorische Aneignungen aufwirft. Von Arburg erkennt in der Übernahme des Enharmonik-Konzepts von Rameau zu Diderot und noch einmal in der Übersetzung des ‚Neveu de Diderot‘ durch Goethe jeweils Differenzen − mithin Stimmungs- wie Bedeutungsverschiebungen. So plädiert von Arburg für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den Stimmungen in der Literaturwissenschaft, die gerade nicht auf eine entdifferenzierende, unkontrolliert dialektische Verwendungsweise der Stimmungen (als diffuse emotionale Einheitserlebnisse) hinauslaufen soll. Eine enharmonisch sensible Stimmungsphilologie fokussiere vielmehr die Übersetzungs- und Verstehensprobleme, angesichts derer die Unterschiede von Sprachen, Texten und Erfahrungen hervorgehoben werden müssen.

Friederike Reents erörtert die Rolle der Stimmung in Friedrich Schlegels Kritikästhetik. Wie seine Kunstkritik die Stimmung eines Kunstwerks aufnehme, überschreibe und überstimme, verdeutlicht Reents an Schlegels Kritik ‚Über Goethes Meister‘. Die Kategorie der Stimmung werde bei Schlegel als ‚apriorisch-subjektives Prinzip‘ angewandt sowohl auf Kunst, Kritik wie Wissenschaft. Dabei sei Stimmung nur dem Kenner einsehbar; so differenziere sich die Wissenschaft in eine logischere Abteilung und in eine kennerschaftliche Stimmungsphilologie.

Die Herausgeberin Gisbertz widmet sich in ihrem Beitrag wie in ihrer Dissertation Stimmungen in der Wiener Moderne. Der sprachskeptische Philosoph Mauthner unterschied den Begriffsinhalt vom Stimmungsgehalt der Worte. Während der Begriffsinhalt kaum festhaltbar sei (und darum Welterkenntnis in Sprache unmöglich), sei der Stimmungsgehalt in Wortkunst dauerhaft festhaltbar. Während Arthur Schnitzer der Stimmung misstraue, begreife sie Hugo von Hofmannsthal als konsequenter Vertreter einer Stimmungspoetik, die Stimmung im Sinne Mauthners als doppelte Realität auffasste, nämlich als gleichermaßen im Partikularen verhaftet wie das Ganze vermittelnd. In Abgrenzung von Mauthner versuchte Richard Beer-Hofmann Stimmungen begrifflich zu fassen, anstatt sie sprachkünstlerisch zu binden. Dies war, so Gisbertz, zum Scheitern verurteilt und zeigte zugleich die Fragilität der über das Stimmungskonzept operierenden Einheitssuche.

Mit ähnlicher Skepsis gegenüber der Reichweite und Fruchtbarkeit des Stimmungsbegriffs wie Wellbery skizziert der Musikwissenschaftler Sebastian Klotz, wie im Musikdenken die Tonkunst als Artikulation von Stimmungen begriffen wurde. Dazu referiert Klotz die Verwendung des Konzepts der (psychologischen) Stimmung in Musikästhetiken und Physiologien des 19. Jahrhunderts von Hans-Georg Nägeli über Eduard Hanslick bis Hermann von Helmholtz. Verdeutlicht wird das epistemologische und musikhermeneutische Problem, dass Stimmungen weder einen klaren Wahrnehmungsinhalt, noch eine präzise Gestalt, noch deutlich konturierte Reizqualitäten bieten. Deswegen seien sie auch nie zur zentralen Kategorie des Musikdenkens oder der Wirkungsforschung geworden. In einem Ausblick auf heutige Tendenzen sowohl der phänomenologischen Musikforschung wie der positivistisch-experimentellen Erforschung der ‚languages of emotion‘ benennt Sebastian Klotz aktuelle Desiderate der musikalischen Stimmungsforschung. Denn auch wenn Stimmungen nicht so unmittelbar mess- und manipulierbar sind wie die auf Handlungen bezogenen Emotionen, so sei doch der Einfluss von Stimmungen auf Kognition, Erinnerung und körperliches Befinden unstrittig. Der Musikforscher plädiert für einen ‚ökologischen‘ Zugang zu Stimmungen. Dieser solle die zeitkritische Dimension, das Bewegungsmoment und das Potential der Stimmungen, kognitive Fähigkeiten zu modulieren, umfassend untersuchen. Musik könnte dabei eine Ausdrucksweise sein, die ein Sensorium für (noch) nicht begrifflich fassbare Prozesse biete.

Die Kunsthistorikerin Kerstin Thomas erörtert die ‚Bildstimmung als Bedeutung in der Malerei des 19. Jahrhunderts‘ ausgehend von der wirkungsästhetischen Annahme, dass das Konzept der Stimmung prädestiniert sei, „die Distanz zwischen Darstellungsinhalt, Medium und Betrachter zu überbrücken. Durch Stimmungen treten Kunstwerke dem Betrachter nahe, sie vermitteln ihm eine Innenperspektive, ja sie können ihn sogar in seinen Gefühlen beeinflussen.“ Wenn Stimmungen mit Rudolph Hermann Lotze als „Färbungen des Gemüthszustands“ begriffen werden, so bedeute dies, dass diese Gefühle des Gemüts nicht auf Objekte (Sachverhalte oder Personen) bezogen sind, sondern gewissermaßen auf alles und nichts, doch eben in einer bestimmten Färbung oder Tönung. Affekte richten sich auf bestimmte Szenen, so Thomas. Stimmungen hingegen lassen das Einzelne zurücktreten zugunsten des Gesamteindrucks, in dem die Details und Differenzen sich in einer Gesamtharmonie auflösen. Gemälde Caspar David Friederichs benennt die Kunsthistorikerin als Paradebeispiele für einen solchen Stimmungsbegriff. Denn bestimmte Techniken Friedrichs ‚katapultierten‘ den Betrachter ins Bild und ermöglichen so die Übertragungsprozesse von Landschaftsstimmung und Gemütsstimmung.

Bis heute folge die Verwendung des Stimmungsbegriff in der Kunstgeschichte diesem romantischen Modell der Seelenlandschaft als Ort der Selbstbespiegelung. Alois Riegls wichtiger Aufsatz ‚Stimmung als Inhalt der modernen Kunst‘ postulierte 1899 im Rückgriff auf Friedrich Theodor Vischers dialektische Ästhetik, dass der Betrachter in der Stimmung die Ordnung des Weltganzen erfahre und so von der Enge des Weltgetriebes erlöst werde. Anstelle positivistisch-experimenteller Zugriffe auf Betrachter-Emotionen, die als reduktionistisch kritisiert werden, plädiert Thomas für die Untersuchung der historischen künstlerischen Strategien. Heikel wird dieser historistische Zugang, wenn Gefühle als Eigenschaften des Werks betrachtet werden und in ihrer sprachlichen Qualität wie in ihrer unmittelbaren Ausdruckshaftigkeit begriffen werden sollen. Thomas betont die Einheitlichkeit und Unmittelbarkeit der zugleich doch als historisch codiert gedachten Gefühlsausdrucksqualität. Überzeugender wird ihre Argumentation, wenn sie erklärt, wie in Georges Seurats Großstadtbildern Stimmung nicht von der Befindlichkeit des Malers zeugen sollte, sondern von der Charakteristik des Dargestellten.Seurat bezog sich dabei auf neue Form-, Reiz- und Wahrnehmungstheorien Gustav Theodor Fechners, Helmholtz’ und anderer, die der Universalgelehrte Charles Henry popularisierte. In Seurats Rezeption naturwissenschaftlicher Theoretiker erkennt die Kunsthistorikerin die Genese einer dezidiert rationalistischen, nach-romantischen Stimmungsästhetik. Dies wurde von der Kunstgeschichte bisher kaum gewürdigt wurde, da diese im Dualismus von rationalistischer Ästhetik und Stimmungskunst befangen blieb. Mit Martha Nussbaum argumentiert Thomas, dass Stimmungen sich als Wertungen verstehen lassen. Sie ermöglichen uns, die Welt qualitativ wahrzunehmen und seien daher auch Träger von Sinn und ermöglichen Verständigung. Weitreichend ist auch ihre Überzeugung, dass Stimmungen zwar über keinen direkten Objektbezug verfügen, gleichwohl auf etwas gerichtet seien: nämlich auf das Ganze (auf das, „was man gemeinhin Welt nennt“), mithin auf einen komplexen Zusammenhang von Objekten, Sachverhalten, Personen, Räumen. Thomas begreift Stimmung als künstlerische Verfahrensweise der Welterschließung, „weil sie das Wie der Gegebenheiten zeigt: die Qualität von Situationen, den Klang spezifischer Formen, die Tönung von Ereignissen, wie sie der Erfahrungswelt einer bestimmten Gesellschaft entsprechen.“ Mit Maurice Halbwachs wird auch die Kunst, und gerade die Stimmungskunst, zum Träger eines gesellschaftlichen Sinnzusammenhangs ausgerufen, in dem die Gefühle eine kollektive, konstruktive Rolle spielen.

Ein Höhepunkt des Bandes ist Jochen Hörischs gewohnt prägnanter Essay, der mit Heidegger konstatiert: Man kann nicht nicht gestimmt sein; man ist immer so oder so gestimmt. Nachgedacht wird über das In-Stimmungen-Sein, und das (interaktiv-soziale) In-Stimmungen-gebracht-Werden, wie es literarische Szenen von Theodor Fontane, Peter Altenberg und Georg Büchner darstellen. Werther etwa wollte Herr seiner Stimmungen sein; er rief sie hervor mittels Medien wie Klopstock-Texten oder Walzern. Moderne Medientheorien erklärten ‚Mood management‘ als eine zentrale Funktion von Medien. Während viele Medientheorien von Platon bis Postman oft von apokalyptischem Ton und Untergangsstimmungen gekennzeichnet seien, opponiert Hörisch gegen deren medienkritischen Tenor die optimistischeren Mediennutzungstheorien. Diese betrachten Medienkonsum als ‚mood-and-mind-management‘ entscheidungsfähiger Medienkonsumenten. Wenn der Mensch das sich selbst gestaltende Tier (ein Autoplastiker) sei, dann sei Kunst ein wirkungsvolles autoplastisches Medium der Selbst- und Stimmungsgestaltung. Allerdings schließt Hörisch seine glänzende medienphilosophische Stimmungsreflexion mit dem Hinweis, dass die moderne Mediengesellschaft begriffen werden müsse im Spannungsfeld zwischen ihrer antitotalitaristischen Programmvielfalt und dem ‚nötigenden Überwältigungscharakter‘ ihrer audiovisuellen Wirkmittel der Massenkommunikation. Individuelle Mediennutzung finde statt zwischen gesteuerter Stimmungsmache und selbstbestimmtem Stimmungsmanagement.

Der Beitrag des literaturwissenschaftlichen Präsenz- und Stimmungspropagators Hans Ulrich Gumbrecht besteht im Abdruck des Kapitels über den pikaresken Roman aus seinem Buch „Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur“. Gumbrecht bietet hier auf knappstem Raum eine überzeugende Erklärung der Entstehungskontexte der Figur und Erzählgattung des Picaro. Erklärt wird, warum die epistemischen, moralischen und emotionalen Probleme der Täuschung und der Selbsttäuschung nicht nur im Spanien der katholischen Könige (näherhin: der Judenaustreibung und der heimlichen Assimilation) aktuell waren, sondern wie diese Problemlage noch den Existenzialismus Sartres, die gegenwärtige analytische Philosophie und wohl auch ein postmodernes Lebensgefühl im Alltag kennzeichne.

Allerdings wäre für einen solchen Stimmungs-Perspektiven sammelnden Band vermutlich eine theoretische Grundlegung Gumbrechts zu Methoden, Zielen und Grenzen der Stimmungsanalyse in der Literaturwissenschaft noch nützlicher gewesen als diese brillante Fallstudie, die im so einfühlsamen wie spekulativen Zugriff eine psychologisch heikle Subjektposition und Erzählhaltung historisch und gesellschaftlich situiert und aktualisiert.

Dieser Sammelband, der durchweg auf hohem Niveau argumentiert und zentrale Stimmen und Disziplinen der Stimmungsforschung präsentiert, hätte sicherlich davon profitiert, wenn auch von Seiten der Psychologie und Psychiatrie der aktuelle Stand der Erforschung von Stimmungsabläufen und Stimmungsregulationen (zu denen auch die durch Kunst zählen) in zusätzlichen Aufsätzen verdeutlicht worden wäre.

Das Buch bietet einen guten und orientierenden Einstieg in Begriffsverwendungen und Operationalisierungsmöglichkeiten des Stimmungskonzepts in diversen Kunstwissenschaften. Ob das vorliegende Kompendium in seinem Nachweis der verschiedenen historischen und aktuellen Verwendungen des Stimmungsbegriffs tatsächlich schon eine konsensfähige Definition erarbeitet oder gar einen Stimmungskanon − einen sehr wünschenswerten gemeinsamen Maßstab für die ästhetische Stimmungsforschung − erreicht hat, das darf man bezweifeln.

Titelbild

Anna-Katharina Gisbertz (Hg.): Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2011.
246 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770551767

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