„This America, man“

Daniel Eschkötter liest die TV-Serie „The Wire“

Von Philipp BöttcherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Böttcher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Ende der ersten Staffel der HBO-Serie „The Wire“ (5 Staffeln, 2002-2008) tritt Staatsanwältin Rhonda Pearlman für einen kurzen Moment nicht nur als Figur, sondern zugleich als Rezipientin der Serie in Erscheinung. Was sie in dieser Doppelfunktion gleichsam berauscht, ist nicht allein die Aussicht auf den Karriereschub, den der scheinbar gelöste Fall verspricht; es ist der Fall selbst, dessen vielschichtige Struktur sie jetzt, da sich alle Handlungsstränge (die Drogen, die Morde, das Geld) zusammenfügen, vollends durchdrungen hat: „I have to admit it, Jimmy, this is a great case. I mean, not just because of Greggs, because it goes to that and answers that, but because, because of how deep it goes. I mean, the murders, the money – Jesus, I feel like I’ve been drunk […]” Dass der Zuschauer der Serie sich dauerhaft ähnlichem ‚poetischen Taumel‘ ausgesetzt sieht, liegt zum einen an dem Anreiz, die zahllosen und komplexen Handlungselemente aufeinander zu beziehen, anderseits an dem selbstreflexiven Charakter, welcher „The Wire“ vor allem anderen auszeichnet.

„We’re building something here and all the pieces matter”, konstatiert Detective Lester Freamon bezogen auf den Fall und meint natürlich abermals die Serie selbst, die an anderen Stellen (textuell und paratextuell) als Gesellschaftsroman entworfen wird und in diesem Sinne philologische Aufmerksamkeit einfordert. Daniel Eschkötter erweist dem Fernseh-Roman diese Aufmerksamkeit. Im Rahmen der bei diaphanes erscheinenden Reihe „booklet“, die der Selbstbeschreibung des Verlags zufolge „Lektüren zur Serie“ bieten möchte, hat der Weimarer Film- und Literaturwissenschaftler die Einführung zu „The Wire“ übernommen. Sie ist ihm insgesamt ausgezeichnet gelungen. Auf 95 Seiten bietet sie allen, die mit der Serie nicht vertraut sind, eine hilfreiche Orientierung, ohne dabei Inhalte zu paraphrasieren; Kennern und Fans hingegen wird eine profunde und kohärente ‚Lektüre‘ geboten, die durch erhellende Betrachtungen überzeugt und ebenso zum Mitdenken anregt wie ihr Gegenstand selbst. Jedoch hätte man sich anstelle der entbehrlichen wie in Bezug auf die erforderliche Rezeptionshaltung widersinnigen „5 Anspieltipps“ eine Bibliografie gewünscht, die auf bereits bestehende Lektüren deutlicher verweist, als dies in den wenigen Anmerkungen geschieht beziehungsweise geschehen kann.

Dies ist freilich dem Autor kaum anzulasten, der sich in seiner Darstellung nicht lange damit aufhält, zu erläutern, wovon in „The Wire“ erzählt wird. Sein Interesse gilt insbesondere den übergeordneten Erzählzusammenhängen und -verfahren. Instruktiv beschreibt er die Genese der Serie aus dem Geist des Reportagejournalismus („Journalismus in Serie“), welche sich auf vielen Ebenen untersuchen ließe – etwa anhand der Überschneidungen zu „Homicide“, jener Großreportage, die der ehemalige Polizeireporter, Produzent und Ideengeber von „The Wire“, David Simon, bereits 1991 veröffentlichte. Auch die zahlreichen Übereinstimmungen mit und Referenzen auf die jüngere Zeitgeschichte des Handlungsortes Baltimore können demnach als spezifische Realitätseffekte gedeutet werden, die dadurch, dass die Serie zum Teil auf Laienschauspieler aus den jeweiligen Milieus zurückgreift, zusätzlich beglaubigt werden.

Mit dem Journalismusverständnis der Macher von „The Wire“ teilt die Serie laut Eschkötter überdies die Beobachtungssituation. Sowohl für den Reporter als auch für den Polizisten bilden das ausdauernde Observieren und Zuhören die Voraussetzung dafür, dass der in „The Wire“ konsequent extern fokalisierte Blick auf das Geschehen zur teilnehmenden Beobachtung wird. Wie das Kunstwerk, das „The Wire“ ist, diese eigenen Konstruktionsprinzipien permanent autoreferentiell offenlegt, behält die Einführung immer im Blick – so etwa in der Analyse einer selbstreflexiven Sequenz am Ende der zweiten Staffel: Wenn hier in einer Montage vorgeführt wird, wie sich aus den einzelnen Mikroobservationen vor Ort an der Pinnwand der Major Case Unit die Makrostruktur des Falls entwickelt, die wiederum fortdauernd von den Detectives studiert wird, und das Ganze zusätzlich mit Johnny Cash’s „I Walk the Line“ („I keep my eyes wide open all the time / I keep the ends out for the tie that binds“) unterlegt wird, reflektiert die Serie die potenzierte Beobachtungssituation, in die sie den Zuschauer miteinbezieht und hält zu diesem Erzählzeitpunkt außerdem ein paar lose Enden parat, welche die dritte Staffel dann zusammenführt.

Da die Fälle der Serie erst durch die Abhörtechniken der Polizei, die sogenannten „wiretaps“, so richtig in Gang kommen, plädiert Eschkötter dafür, das „soziale Band“, als das er „The Wire“ zugleich begreift, „als konstitutiv mediales zu denken“. Man könnte den Seriennamen unter Berücksichtigung von Selbstbezeichnungen wie „Great American Novel“ auch ergänzend (literatur-)programmatisch deuten: „The Wire“ ermöglicht dann im wörtlichen Sinne einen Erzählzusammenhang zwischen Figuren und Handlungsebenen, die aufgrund der unterschiedlichen und vielfältigen Milieus sonst kaum zu verbinden gewesen wären; im übertragenen Sinne stiftet das Kabel damit jenes ‚Gewebe‘, das man einst als Text bezeichnete. Dass das hier mustergültig umgesetzte horizontal-serielle Erzählen mit dem Anspruch des epischen Erzählens einhergeht, verdeutlichen neben den wiederkehrenden Mustern auf der paradigmatischen Ebene des Handlungsverlaufs vor allem die Schlussmontagen am Ende jeder Staffel, die das unmittelbare Geschehen in den allgemeinen sozialen Zusammenhang („the game“) überführen – und letztlich transzendieren. Gerade weil sich das komplexe Spiel zwischen Drogengangstern, Polizei, Politik und Presse nicht oder höchstens zum Schlechten wandelt, wird einerseits der Anspruch der Serie auf soziale Repräsentanz untermauert, anderseits die tautologische Eigenlogik des Sozialzusammenhangs („the game is the game“) auf einer höheren Ebene des Werdens und Vergehens pessimistisch bestätigt. Das Spiel bleibt das gleiche, nur die Figuren wechseln. Bestärkt wird diese Botschaft von der Variation des Immergleichen auch durch den Titelsong „Way Down in the Hole“ von Tom Waits, der pro Staffel jeweils in einer anderen Version präsentiert wird. In diesem Sinne ist „The Wire“ nicht nur die Geschichte einer amerikanischen Stadt, sondern zugleich jeder amerikanischen Stadt – oder mit den programmatischen Worten am Ende des ersten cold open: „This America, man.“

Titelbild

Daniel Eschkötter: The Wire.
Diaphanes Verlag, Zürich 2012.
95 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783037342107

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