Teenagerin sucht Mama

Über Virginie Despentes Sozialkrimi „Apokalypse Baby“

Von Almut OetjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Oetjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lucie Toledo, Privatdetektivin in den Dreißigern, klammert sich an ihren schlecht bezahlten Job, weil sie auf dem Markt für Arbeitssuchende eine reife Frau ohne Qualifikation wäre. Lucie sollte die fünfzehnjährige Valentine beschatten, verlor sie jedoch in der Metro aus den Augen. Valentines Großmutter Jacqueline Galtan beschwert sich lauthals bei Lucies Chef Deucené. Sie bietet eine Prämie von 5.000 Euro, wenn Valentine innerhalb von zwei Wochen gefunden wird, andernfalls die Hölle. Da Lucies Erfahrungen mit der Personensuche auf ihrer qualifikatorischen Nulllinie liegen, arbeitet sie mit einer Spezialistin für Vermisstenfälle zusammen – der Hyäne. Lucie bietet ihr für den Erfolgsfall die 5.000 Euro, ansonsten einen Teil ihres Gehalts.

Die Agentur, für die Lucie arbeitet, hat zwei Schwerpunkte. Sie nimmt im Auftrag von Unternehmen Konkurrenz im Internet unter Beschuss (Veränderung, Löschung von Webseiten beziehungsweise ganzen Internetauftritten). Sie überwacht im Auftrag von Eltern Kinder und Jugendliche, gerne auch über Handy, die für Kids unentbehrliche Prothese, wie es einmal im Roman heißt. Eltern lieben die Echtzeitüberwachung mit Bildmaterial von Orten und Handlungen, direkter Weiterleitung von Telefonaten und SMS.

Was wissen die Einen über mich, was können die Anderen über mein Leben herausfinden? Orson Welles untersuchte dies in zwei Filmen, „Citizen Kane“ und „Mr. Arkadin“. Virginie Despentes verbindet beide Fragen in „Apokalypse Baby“. In der Multiperspektive von Vater, Stiefmutter, Mutter, MitschülerInnen und Sexpartnern wird das Bild eines fünfzehnjährigen Mädchens entwickelt. Lucie und Hyäne versuchen on the Road herauszufinden, was über den Teenie erfahrbar ist.

Bis kurz vor Ende erfahren wir über Valentine kaum etwas, dafür aber umso mehr über andere Personen. Despentes verschränkt dabei zwei Ebenen miteinander: In sieben Abschnitten bestimmt die Ich-Erzählerin Lucie die Perspektive. Sieben weitere Abschnitte sind mit Vornamen überschrieben und bilden Marksteine in der Suche nach Valentine.

Die Reise nimmt ihren Ausgangspunkt in Paris bei Francois Galtan, dem Vater des Mädchens, und führt über die Pariser Stationen Claire (Francois’ Mutter, Valentines Oma) und den ehebrecherischen Cousin Yacine nach Barcelona. Erste Anlaufstelle ist dort Valentines Mutter Vanessa, die ihre Familie und Paris dem Architekten Camille zuliebe verlassen hat, mit dem sie im Geld schwimmt und den sie bei dem einen oder anderen Landgang betrogen hat. Danach lernen wir die Hyäne in einem umfangreichen Abschnitt besser kennen, gefolgt von der Nonne Elisabeth, einer Schlüsselfigur in der Biografie Valentines. An siebter Position schließlich erfahren wir Valentines Geschichte. Die sieben Geschichten werden von einer dritten Person erzählt, die ungenannt bleibt. In diesem Gewebe lernen wir weitere Figuren und Sachlagen kennen.

Francois ist leidlich erfolgreicher Schriftsteller, an den sich Vanessa unter Wert verkauft hat, dem sie aber zur Sicherung der Zwischenstation ein Kind angehängt hat. Als sich die Möglichkeit zur Verbesserung bietet, wird sie sogleich genutzt, wobei sich auch ein Neuanfang ohne Kind anbietet. Francois’ übt Kritik am Literaturbetrieb, die zwar motiviert ist durch seine persönliche Situation, dennoch aber nicht verkehrt sein muss.

Despentes beschreibt verschiedene Lebenskreise, die nicht selten auch Höllenkreise sind. Sie entwickelt eine differenzierte Welt, stellt bisweilen die Negative zu Abbildungen bereit, die wir zu Positiven unseres Alltags verfremdet haben. In der Welt des Romans gibt es Kreise, in denen Rassismus politisch korrekt ist. Und der gesellschaftliche Rand ist nur eine andere Ausdrucksform der gesellschaftlichen Mitte. Von den vielen auftretenden Figuren kann man eine oder zwei für sympathisch halten. Valentine gehört dazu, eine Jugendliche, die mit ihrer Geburt in ein Leben geworfen wurde, das einem Schlammloch gleicht, um das herum sich die Anderen formieren und beobachten, ob sie darin umkommt oder ihr der Weg hinaus gelingt. Da „Hinaus“ nur bedeutet, in die Welt der Anderen zu kommen, ein – auch – fragliches Bemühen. Ein sehr dunkles Buch, gehüllt in einen hellen Schutzumschlag, sehr lesenswert und, ja, auch unterhaltsam.

Titelbild

Virginie Despentes: Apokalypse, Baby! Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer und Dorit Gesa Engelhardt.
Berlin Verlag, Berlin 2012.
383 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783827010216

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