„Liebster Vater“ oder: Franz Kafkas Befreiung aus dem Ehezwang

Drei Geschichten aus dem Jahr 1913: Franz Kafka, die Fraktion der Jugendbewegung um den „Anfang“ und Otto Gross

Von Karl BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1 Eingang

Franz Kafkas Text, überschrieben „Liebster Vater“, bekannt geworden als „Brief an den Vater“, besitzt einen klar benennbaren Auslöser. Es handelt sich um einen Ratschlag Hermann Kafkas, den er seinem damals 36-jährigem Sohn anlässlich der Heiratsabsicht mit Julie Wohryzek im September 1919 erteilt hatte. Es war die Wiederholung eines Rates, den der Vater dem pubertierenden Sohn – „Ich weiß nicht, wie alt ich damals war, viel älter als sechzehn Jahre gewiss nicht“ – schon einmal gegeben hatte: den Gang zur Prostituierten. Hermann Kafkas Ratschlag zur gefahrlosen Befriedigung geschlechtlicher Not verletzt in beiden Varianten, der von ca. 1899 und der von 1919, Franz Kafka tief. Das erstmalige Aussprechen des Rats nennt er „eigentlich die erste direkte, lebenumfassende Lehre […], die ich von Dir bekam“, das erneute Aussprechen charakterisiert er so: „Tiefer gedemütigt hast Du mich mit Worten wohl kaum und deutlicher mir Deine Verachtung nie gezeigt“.

Bevor der „Brief an den Vater“ von Hermann Kafkas wiederholtem Ratschlag zur Prostitution her gedacht werden kann, bedarf es zweier Schritte. Der eine besteht in der Darstellung der biografischen Geschehnisse der Beziehung mit Julie Wohryzek im Jahr 1919, im anderen sollen drei – ziemlich unterschiedliche – Geschichten aus dem Herbst des Jahres 1913 erzählt werden: eine biografisch-intime aus Franz Kafkas Leben; eine des exemplarischen Hinausschreiens sexueller Not im „Anfang“, einer der ersten von jungen Leuten redigierten Zeitschriften in Deutschland, die Franz Kafka kaum gekannt haben dürfte; eine um einen Vater-Sohn-Skandal, der in der „Aktion“, dem Sprachrohr der expressionistischen Bewegung, populär gemacht wurde und dessen Wurzeln im psychoanalytisch geprägten Zusammendenken und öffentlichen Aussprechen von patriarchalischer Kleinfamilie und sexueller Unterdrückung liegen dürften – vom Fall Hans und Otto Gross hatte Franz Kafka Kenntnis.

Jede dieser drei Geschichten aus dem Jahr 1913, von 1919 durch den entscheidenden Kulturbruch des Ersten Weltkriegs nachhaltig getrennt, könnte durchaus für sich allein stehen; im vorliegenden Zusammenhang jedoch markieren und illustrieren sie die Einpassung des „Briefs an den Vater“ in die gesellschaftlich-sexuelle Verfasstheit der damaligen Zeit; denn, so schreibt Franz Kafka, „hier entscheiden die allgemeinen geschlechtlichen Standes-, Volks- und Zeitsitten“.

2 Geschlechtliche Standes-, Volks- und Zeitsitten Herbst 1913

Franz Kafka am Gardasee, Herbst 1913

Franz Kafkas Italienreise im Herbst 1913 (14. September – 12. Oktober), die in einen längeren Aufenthalt im Sanatorium Dr. Hartungen in Riva am Gardasee mündet, spielt in seiner Biografie eine eigentümliche Rolle: Denn dieser Reise geht die inoffizielle Verlobungsanfrage bei den Eltern von Felice Bauer vom 14. August unmittelbar voraus; der Aufenthalt am Gardasee bedeutet aber ein erstes – immerhin sechs Wochen dauerndes – Aussetzen des gegenseitigen Kontaktes. Warum der Verlobungsversuch und die Unterbrechung der Beziehung samt dem versuchten „Schlußmachen“ Ende Oktober nicht als erster „Entlobungsversuch“ gilt, mag mit der Fixierung der Forschung auf die zeitgenössischen Formalitäten zusammenhängen. Schon während der Vorüberlegungen zur Verlobung und erst recht bei der erteilten Heiratserlaubnis durch Felice Bauers Eltern am 28. August erzittert Franz Kafka vor der nun bevorstehenden Perspektive einer Eheschließung, kämpft gegen sie an. Franz Kafka versucht Felice Bauer, mit der er sich verloben will, und auch deren Eltern klarzumachen, wie lebensnotwendig Felice für ihn und wie unfähig er eigentlich für eine Ehe sei. Zu Beginn der Reise, Mitte September 1913, bricht der Briefwechsel mit Felice Bauer ab: „Aber was soll ich tun, Felice? Wir müssen Abschied nehmen. Franz“, heißt es in einem am 16. September abgeschickten Brief; Kafkas Beantwortung eines Briefs von Felice Bauer vom 29. Oktober bekräftigt das Ende der Verbindung: „Daß ich mich wegreißen mußte, wenn Du mich nicht verstoßen wolltest“, allerdings in klarer Wiederaufnahme der Double-Bind Situation der Vorreisezeit: „Ein Verlangen habe ich nach Dir, daß es mir auf der Brust liegt wie Tränen, die man nicht herausweinen kann.“

Die in Tagebuch und Briefen spürbare depressive Grundstimmung der Reisezeit wird im Sanatorium Hartungen von Sehnsuchtsfantasien nach körperlich-sexueller Nähe überlagert, von Wünschen also, welche in der Perspektive auf die Ehe mit Felice Bauer seltsam zurückgedrängt bleiben. Am Gardasee lernt Franz Kafka eine 18-jährige, in Genua lebende Schweizerin, G.W., kennen; wir wissen nicht, wie sich das Verhältnis zwischen den beiden letztlich gestaltet hat. Eine Tagebuchaufzeichnung vom 20. Oktober jedoch rechnet diese „Bindung“ gegen eine andere, „vielsprechendere“ auf: „Was meine ich übrigens dazu, dass ich heute abend eine ganze Wegstrecke lang darüber nachdachte, was ich durch die Bekanntschaft mit der W. an Freuden mit der Russin eingebüßt habe, die mich vielleicht, was durchaus nicht ausgeschlossen ist, nachts in ihr Zimmer eingelassen hätte, das schief gegenüber dem meinigen lag. Während mein abendlicher Verkehr mit der W. darin bestand, dass ich in einer Klopfsprache, zu deren endgültigen Besprechung wir niemals kamen, an die Decke meines unter ihrem Zimmer liegenden Zimmers klopfte, ihre Antwort empfing, mich aus dem Fenster beugte, sie grüßte, mich einmal von ihr segnen ließ, einmal nach einem herabgelassenen Bande haschte, stundenlang auf der Fensterbrüstung saß, jeden ihrer Schritte oben hörte, jedes zufällige Klopfen als ein Verständigungszeichen irrigerweise auffasste, ihren Husten hörte, ihr Singen vor dem Einschlafen.“

Annäherungslust, Annäherungsangst: Verschiebung von einer Nähe in eine potentiell andere – hier: die Russin. Hätte Franz Kafka in seiner „Kurschatten-Lust“ die Russin statt der W. erwählt, so wäre ihm die Russin in gleicher Weise vor der W. gestanden, wie in der gegebenen Schilderung, die W. vor der Russin: ein Spiegelkabinett unerfüllten Begehrens, welches die Ehe als Ort sexueller Erfüllung negiert, welches aber auch die „Mädchen“ in greifbarer Nähe, Intimität und Vertrautheit herbeisehnend, kaum zu berühren wagt und letztlich auf die unbefriedigende Befriedigung in der Institution Prostitution verwiesen bleibt. Am 19. November, drei Wochen nach den versuchten Trennworten an Felice Bauer, notiert Franz Kafka im Tagebuch: „Ich gehe absichtlich durch Gassen, wo Dirnen sind. Das Vorübergehen an ihnen reizt mich, diese ferne, aber immerhin bestehende Möglichkeit, mit einer zu gehen. Ist das Gemeinheit? Ich weiß aber nichts Besseres und das Ausführen dessen scheint mir im Grunde unschuldig und macht mir fast keine Reue.“

„Der Anfang“ oder Triebleben und Jugendkultur: Oktoberheft 1913

Im ersten Jahrgang von „Der Anfang, Zeitschrift der Jugend“, die ab Mai 1913 als Organ von Jugendlichen für Jugendliche – 1913 meint das junge Menschen unter einundzwanzig – erschien, findet sich in Heft 6 ein Artikel von Herbert Blumenthal, überschrieben mit „Jugendliche Erotik“: „Wir sind verkatert. Kein Zweifel, daß wir innerlich müde sind der lauten und grellen Betonung unseres Trieblebens. Eines Tages machte die Jugend die Entdeckung, daß sie ein großes, reiches, gewaltiges Triebleben besaß, das in der Öffentlichkeit vom Philisterium tot geschwiegen wurde. Gefühlt zwar, betätigt hatte sie es schon immer, das Neue war die bewußte und laute Anerkennung von seiten der geistigen, der empörerischen Jugend. Lange war sie den Geboten der ‚Moral‘ gefolgt, hatte zu unterdrücken versucht, was nicht zu unterdrücken war und mußte also ihre Triebe durch Heimlichkeit, durch verstecktes und verbotenes Tun schänden. Die Großstadtjugend endlich war es, die den Mut zum Protest fand; sie war in allen Stücken freier, sie ließ sich nicht länger unterdrücken und schrie dem Philister die Wahrheit ins Gesicht, wie stark und gesund, wie unzerstörbar ihr Triebleben sei. Nachdrücklich und mit Protest stürzte sie sich in seinen Strudel, ohne mehr den geringsten Hehl daraus zu machen; im Gegenteil, es ward zum betonten Teil jugendlichen Lebens; die Erotik wucherte und drohte, es ganz auszufüllen. Ja, dieses Extrem ist schon eingetreten; schon steht das Triebleben bei Gruppen der Großstadtjugend unumschränkt im Mittelpunkt des Daseins. Schon ist es zum Unbedingten geworden, zum absoluten Lebensinhalt. Das zeigt die jüngste Großstadtkunst, die Lyrik, die Malerei mit Sicherheit an. Sie ist rein erotisch. Wir müssen ihr dankbar sein, denn sie schreit es der Welt ins Gesicht, wie unanständig, wie schamlos die Jugend durch ihre Unterdrückung werden mußte. […] glaubt ihr denn die grelle Herausarbeitung des einen Themas sei Zufall? Zufall, daß die Dirne, und immer wieder die Dirne der Punkt ist, um den unsere verzerrten Schöpfungen sich drehen? Sehr ihr denn nicht, daß das alles Verzweiflungsschreie sind von solchen, die nach Erlösung trachten? Daß die Jugend, den Sumpf, in den ihr sie hineingetrieben habt, mit herzzerbrechendem Ekel immer wieder in ihren Äußerungen hervorheben muß, weil sie unsäglich unter ihm leidet? Könnt ihr denn Symptome nicht deuten, meint ihr, es seien Possen, die die Jugend zu ihrer Belustigung treibt? Worunter die Schaffenden leiden, davon müssen sie künden, und nichts kann besser die innere Reinheit der Jugend beweisen, als die Wollust, mit der sie verkündet, daß Sumpf Sumpf sei. Sie lebt ja nicht behaglich in ihm wie die Alten, sondern weil sie ihn überwinden muß; sie weiß, sie muß hindurch, aber der Weg ist Qual und bittere Not für sie. […] Es braucht nicht jeder in die Hölle hinabzusteigen, um sie zu erleben. Das Schreien derer, die sie erleben müssen, dringt den anderen, die da fühlen können, ins Herz, und verbrüdert sie den Gefolterten. […] Eine Ehrensache ist es aber auch für uns, die Glücklicheren, das Triebleben anzuerkennen. Wir alle, deren bewußtes Streben es ist, an der Kultur mitzuarbeiten, wir empfinden instinktiv, daß wir das Triebleben als solches nicht verleugnen dürfen, auch wenn es noch nicht Bestandteil der Kultur ist.“

„Der Anfang“ war konzipiert als unabhängige Monatsschrift innerhalb der Jugendbewegung; sein Einflussfeld ist durch den doppelten Erscheinungsort Wien/Berlin abgesteckt. In Wien ist er mit dem Namen Siegfried Bernfeld (1892-1953) verbunden, für Berlin mit dem von Georges Barbizon (das ist Georg Gretor, 1892-1943) – dem Berliner Kreis gehörte auch der junge Walter Benjamin (1892-1940) an, der unter dem Pseudonym Ardor ebenfalls für den „Anfang“ schrieb und mit dem Autor des Essays „Jugendliche Erotik“, Herbert Blumenthal, eng befreundet war. Am 11./12. Oktober 1913 fand – als Mischung von Parallel- und Gegenveranstaltung zu den Feiern des 100-jährigen Jubiläums der Befreiungskriege – der Freideutsche Jugendtag auf dem Meißner bei Kassel statt; das erste große Treffen der Jugendbewegung mit dem klaren Ziel, der Erwachsenenwelt und ihren Formen des Gedenkens ein Manifest und einen Zukunftsentwurf der Jugend entgegenzusetzen – herauskam nach Diskussionen und Reden selbsternannter, längst im Erwachsenenalter stehender Führer wie Gustav Wyneken (1875-1964) oder Martin Luserke (1880-1968) die „Meißner-Formel“, die als der geringste gemeinsame Nenner innerhalb der beginnenden weltanschaulichen Fraktionierung der Jugendbewegung zu betrachten ist und somit von Anfang an aussagelos blieb: „Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. Zur gegenseitigen Verständigung werden freideutsche Jugendtage abgehalten.“

Es scheint, als hätten die jugendlichen Redakteure des „Anfangs“ geahnt, dass eine zentralen Beunruhigungen der Jugend – Schlagwort: „Geschlechtsnot“ – am Freideutschen Jugendtag nicht Thema sein würde, und als hätten sie deshalb im Oktoberheft als grundsätzliche, das Meißner-Treffen ergänzende Erklärung Herbert Blumenthals Essay gedruckt: „Auf keinem der Gebiete, die unser Leben angehen, lassen wir der Barbarei, dem Chaos so viel Raum als auf diesem, eben weil wir fühlen: hier gilt es vor allem einen Protest, hier gilt es die prinzipielle Anerkennung eines wesentlichsten Lebensgebietes, hier geht es noch um die Behauptung eines Gebietes, in zweiter Linie erst um seine Gestaltung. Darum sind wir so unentwegt positiv, wo es um jugendliche Erotik geht, so frei von Bedenken, so skrupellos; wir übernehmen die Erotik mit allem Drum und Dran an Unkultur in Bausch und Bogen, und wer da nicht mitgeht, verfällt der Mißachtung als ein Quietist, ein Totschweiger, ein Feigling, ein Krüppel. Wir veranstalten Winters und Sommers unsere Feste, die nur von uns und für uns sind, wir machen den Tanz deutlich erotisch, wir flirten und lieben, wo wir nur können. […] Und weil wir deutlich fühlen, es geht hier um das Prinzip, um die Sache selbst, so nehmen wir Dinge in Kauf, gegen die wir uns sonst empören: die Hässlichkeit in all ihren Formen. […] Für alles, was uns sonst empören und krank machen würde, haben wir auf einmal kein Organ mehr; denn es geht um unsere Erotik und also um ein heiliges Gut. […] Wir bekannten uns zum Triebleben überhaupt und übernahmen die Formen, die wir vorfanden; aber wir dürfen nicht bei diesem Protest gegen die Unterdrückung stehen bleiben, wir haben die Verpflichtung, unser eigenes Triebleben zu gestalten. […] es bleibt uns das Eigentliche, die Kulturaufgabe noch zu tun: das Schöne zu schaffen als eine Form unserer Liebe.“

Programm ist, das Triebleben zu gestalten, „auch wenn es noch nicht Bestandteil der Kultur geworden ist“. Liebe, Erotik, Triebleben werden hier als aus dem offiziellen Kulturleben ausgeschlossen bezeichnet; doch was macht dann ihren Charakter aus? Sie sind Sumpf, in dem die ältere Generation „behaglich“ sich tummelt. Sumpf ist hier als theoretischer Begriff zu lesen, er entstammt Johann Jakob Bachofens (1815-1887) Theorie des Mutterrechts. Bachofen lässt der mutterrechtlich-ehelichen, der „demetrisch geordneten Gynaikokratie“ eine urzeitliche, noch kaum in Kulturform getretene Geschlechtsordnung vorausgehen, die mit „regellosen Hetärismus“ charakterisiert wird. Wenn Teile der Jugendbewegung um 1913 Bachofens Sumpf-Begriff und damit das semantische Umfeld von, Sumpfzeugung, Sumpfvegetation, Hetärenzeit als Postulat für ihre Abgrenzung zur Elterngeneration wiederaufnehmen, dann tun sie dies im Sinne von Walter Benjamins späterer Bezeichnung des „Mutterrechts“ als „wissenschaftlicher Prophetie“: Das Patriarchat, welches nach Bachofen die mutterrechtliche Ordnung bereits in der Antike abgelöst hat, ist um 1900 völlig in einem neuen, neuzeitlichen „Sumpf“ verkommen. Die Aufgabe der Jugend und ihrer zu entwickelnden Jugendkultur (um 1910 ein Neologismus!) besteht darin, dem Verhältnis der Geschlechter zu erneuter Kulturwerdung zu verhelfen, einen Weg zu finden, in dem das umfassende Triebleben anerkannter Bestandteil der Kultur werden kann.

„Zertrümmerung der Monogamie“ und eine Entmündigung im November 1913

Otto Gross (1877-1920), enfant terrible der psychoanalytischen Bewegung, von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung gleichermaßen geschätzt und gleichermaßen kritisch beäugt, verletzt im Jahr 1913 eine Linie, welche die Psychoanalyse bis dahin nicht überschritten hatte und auch nicht überschreiten wollte. Otto Groß veröffentlicht seine psychoanalytischen Einsichten in der Zeitschrift „Aktion“, dem Publikationsorgan des Expressionismus. Er propagiert die Befreiung des Triebs und des Unbewussten als gänzliche Revolutionierung der Gesellschaft: „Ich habe vor vielen Jahren auf dem Salzburger Psychoanalytikerkongress von der Perspektive gesprochen, die sich mit der Entdeckung des ‚psychoanalytischen Prinzips‘ d.h. der Erschließung des Unbewußten auf die Gesamtprobleme der Kultur und den Imperativ der Zukunft richtet. Es ist mir damals von S. Freud erwidert worden: ,Wir sind Ärzte und wollen Ärzte bleiben‘“

Anstelle des geschützten (und schützenden) Raums wissenschaftlich-ärztlicher Auseinandersetzung tritt die avantgardistische Propaganda durch literarisch-kulturrevolutionäre Manifeste. 1913 erscheinen in der „Aktion“ sechs Aufsätze von Otto Gross: Sie alle umreißen eine – psychoanalytisch vermittelte – „neue Ethik“, sie alle charakterisieren die „Psychologie des Unbewussten“ als eine „Philosophie der Revolution“. „Man kann jetzt erkennen, daß in der Familie der Herd aller Autorität liegt, dass die Verbindung von Sexualität und Autorität, wie sie sich in der Familie mit dem noch geltenden Vaterrecht zeigt, jede Individualität in Ketten schlägt. Die Krisenzeiten hoher Kultur haben bisher immer die Klagen über das Lockern der Ehe und der Familienbande in Gefolgschaft – die Ehe ist eine überwiegend bäuerliche Institution – man konnte indes aus dieser ,Unsittlichkeitstendenz‘ den lebensbejahenden ethischen Schrei nach Erlösung der Menschheit nicht heraushören. […] Der Revolutionär von heute, der mit der Psychologie des Unbewußten die Beziehung der Geschlechter in einer freien und glückverheißenden Zukunft sieht, kämpft gegen Vergewaltigung in ursprünglichster Form, gegen den Vater und das Vaterrecht.“ „Freud hält die bisexuelle Veranlagung des Menschen im ersten Lebensstadium für erwiesen. Nur müsse der Mensch, meint Freud, später im Leben die eine Seite verdrängen, das sei nun einmal so. Dies soll und wird nicht mehr so sein. Mit der fortschreitenden Freilegung der Individualität wird es keinem Menschen mehr einfallen, eine Naturanlage verkümmern zu lassen. […] Die Zertrümmerung der Monogamie und ihrer noch kränkeren Form, der Polygamie, ist nicht nur die Befreiung der Frau, sondern vor allem die des Mannes.“

Hans Gross (1847-1915), der Vater von Otto Gross, international profilierter Jura-Professor in Graz, vorher Prag und Czernowitz, Begründer und Herausgeber des Archivs für Kriminalanthropologie und Kriminalistik, Franz Kafka als akademischer Lehrer im Hauptstudium persönlich bekannt, greift im November 1913 zu einem drastischen Schritt gegen den Sohn. Er lässt ihn entmündigen. Der angegebene Grund bezieht sich auf Otto Gross’ Lebenswandel und seine Drogenabhängigkeit. Im Hintergrund dürfte jedoch die Serie der Publikationen in der „Aktion“, welche offensiv die Zerschlagung der Kleinfamilie, die völlige geschlechtliche Entscheidungsfreiheit der Frau sowie eine hetero- wie homosexuell offene Sexualität propagierte, Einfluss genommen haben. Auch scheint die institutionalisierte Psychoanalyse über ein Gutachten von Carl Gustav Jung die Internierung von Otto Gross in einer psychiatrischen Klinik unterstützt zu haben.

Otto Gross wird am 9. November 1913 von Polizeibeamten aus seiner Wilmersdorfer Wohnung zur Ausweisung aus Preußen geholt und nach Österreich „verschleppt“; an der Grenze wird er den österreichischen Behörden übergeben und – als entmündigt – in der Privatirrenanstalt Tulln bei Wien interniert. Er schreibt am 28. Februar 1914 an die von Maximilian Harden herausgegebene Zeitschrift: „Die Zukunft“: „Und Eins noch liegt gegen mich vor: daß ich mit der bestehenden Gesellschaftsordnung unzufrieden bin. Ob man Dies als Beweis einer geistigen Störung betrachten kann, richtet sich danach, wie man die Norm der geistigen Gesundheit aufstellt. Nimmt man die Anpassung an das Bestehende als das Normale an, dann wird man die Unzufriedenheit mit dem Bestehenden als Zeichen geistiger Gestörtheit auffassen können. Nimmt man die höchste Entfaltung der Möglichkeiten, die dem Menschen angeboren sind, als Norm und weiß man intuitiv und aus Erfahrung, daß die bestehende Gesellschaftsordnung die höchstmögliche Entwicklung des Einzelmenschen und des Menschenthums unmöglich macht, dann wird man das Zufriedensein mit dem Bestehenden als Unterwerthigkeit erkennen.“

Der Expressionismus hat – am „Vorabend“ des Ersten Weltkriegs – seinen großen Skandal. Der in der Öffentlichkeit ausgetragene Vater-Sohn-Konflikt „Gross gegen Gross“ ist der wohl härteste und damit für die Generation der zwischen 1875 und 1895 Geborenen exemplarischste Kampf zwischen einem Vater und einem Sohn.

Franz Kafka hat 1913 die Vorgänge um die Entmündigung von Otto Gross mit Sicherheit zur Kenntnis genommen, falls nicht durch eigene Lektüre, so gewiss über Diskussionen in seinem Freundeskreis. Es ist also davon auszugehen, dass Franz Kafka mit der damals radikalsten Linie der Kritik an den sexuellen Zuständen, die bereits um 1913 die Erkenntnisse der Psychoanalyse auf die gesellschaftlichen Verhältnisse anwenden will, mehr oder weniger vertraut war: „Otto Groß habe ich kaum gekannt, daß hier aber etwas Wesentliches war das wenigstens die Hand aus dem ,Lächerlichen’ hinausstreckte, habe ich gemerkt.“

Franz Kafka hat Otto Gross im Sommer 1917 kennengelernt, sie haben sich zweimal getroffen: auf einer Zugfahrt in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli von Wien nach Prag und im Anschluss daran am 23. Juli auf einer Abendgesellschaft bei Max Brod, bei der Franz Werfel ebenfalls anwesend ist. Otto Gross erzählt dort von einem Plan für eine Zeitschrift mit dem Titel „Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens“, den Franz Kafka begeistert aufnimmt und an dem er sich beteiligen will.

3 Franz Kafkas erneuter Kampf um die Ehe 1919: Julie Wohryzek

Franz Kafka hatte Julie Wohryzek Ende Januar oder Anfang Februar 1919 bei einem Kuraufenthalt im nordböhmischen Schelesen kennen- und liebengelernt und die Beziehung mit der Tochter eines Schusters und jüdischen Gemeindedieners an der Synagoge in Prag-Vinohrady auch nach der zeitlich versetzen Rückkehr der beiden aus der Kur fortgesetzt: „Als ich aber dann nach Prag kam, flogen wir zueinander wie gejagt. Es gab keine andere Möglichkeit, für keinen von uns.“

Die Beziehung intensiviert sich den Sommer über, Verlobung und Heirat werden ins Auge gefasst, im September 1919 teilt Franz Kafka den Eltern diese – nicht unbedingt standesgemäße – Heiratsabsicht mit. Hermann Kafka kommentiert: „Sie hat wahrscheinlich irgendeine ausgesuchte Bluse angezogen, wie das die Prager Jüdinnen verstehen, und daraufhin hast Du Dich natürlich entschlossen, sie zu heiraten. Und zwar möglichst rasch, in einer Woche, morgen, heute. Ich begreife Dich nicht, Du bist doch ein erwachsener Mensch, bist in der Stadt, und weißt Dir keinen anderen Rat als gleich eine Beliebige zu heiraten. Gibt es da keine anderen Möglichkeiten? Wenn Du Dich davor fürchtest, werde ich selbst mit Dir hingehen.“

So zumindest hat Franz Kafka die Äußerung im „Brief an den Vater“ festgehalten; seine Empörung ist nachhaltig und führt letztlich zur Niederschrift des Briefes; der, das sei angemerkt, zwischen dem 4. und 20. November 1919 in eben jener Pension verfasst wurde, in der Franz Kafka und Julie Wohryzek sich kennen gelernt hatten. Zur Zeit der Niederschrift besteht – offiziell aus Gründen einer dem Paar „entwischten“ Wohnung – für Franz Kafka die Absicht zu einer Heirat nicht mehr, bestehen bleibt jedoch der starke Wunsch, die Beziehung auch ohne Eheschließung weiterführen zu können. Diesen Wunsch äußert Franz Kafka sehr selbstbewusst gegenüber Käthe Nettel, der älteren Schwester Julie Wohryzeks. „dann bitte, lassen Sie uns beisammen, so wie wir uns über alle meine Schwäche hinweg, zusammengehörig fühlen. Im Feber will ich mit einigen Hoffnungen für vielleicht ¼ Jahr nach München fahren, vielleicht könnte J., die ja seit jeher auch von Prag fortwollte, auch nach München kommen.“

Das Einverständnis von Julie Wohryzek für diesen Vorschlag einer „Ehe ohne Trauschein“ scheint vorausgesetzt, sonst hätte er den Vorschlag wohl nicht gewagt. Die Beziehung mit Julie zerbricht im Sommer 1920, als Franz Kafka Milena Jesenská kennen lernt.

Hermann Kafkas Äußerung führt die Heiratsabsicht Franz Kafkas auf dessen sexuellen Notstand zurück. Dieses postulierte sexuelle Unbefriedigt-Sein beinhaltet zwei Aspekte: Zum einen eine leichte Verführbarkeit („ausgesuchte Bluse angezogen“) und leichtes Angebunden-Werden („gleich eine Beliebige zu heiraten“), womit zum anderen die Heiratslust auf die Unfähigkeit, sich anders Lust zu verschaffen, zurückgeführt wird. Mit den Sätzen: „Du bist doch ein erwachsener Mensch, bist in der Stadt, […] weißt Dir keinen anderen Rat“ und dem Angebot, ihn sogar ins Bordell zu begleiten („Wenn Du Dich davor fürchtest, werde ich selbst mit Dir hingehen“) negiert Hermann Kafka Franz Kafkas Erwachsensein, weckt die in ihm schlummernden Traumata aus Pubertät und Kindheit und stellt so das „hilflose Kind“ vor dem „übermächtigen Vater“ wieder her.

So zumindest hat Franz Kafka den „Brief an den Vater“ angelegt – dieser ist zeitnah sowohl zum aktuellen Anlass der Vateräußerung im September wie zum Niedergang der Heiratsabsicht im Oktober niedergeschrieben. Bezeichnenderweise überlässt er den Brief der neuen Geliebten Milena Jesenská genau zu dem Zeitpunkt, am 4./5. Juli 1920, an dem er mit Julie Wohryzek Schluss macht: „Ich war vor lauter Klarheit nicht einmal mitleidig […] abscheulich ist es, Henkerberuf ist es, das ist nicht mein Beruf […] Morgen schicke ich Dir den Vater-Brief in die Wohnung […] Und verstehe beim Lesen alle advokatorischen Kniffe, es ist ein Advokatenbrief.“

Angekündigt hatte er den Brief jedoch bereits um den 21. Juni herum mit den Worten: „Wenn Du einmal wissen willst, wie es früher mit mir war…“. Der Brief markiert durch das „Wie-es-früher-mit-mir-war“ für Franz Kafka eine Trennlinie, ein klares Davor und ein klares Danach, eine Grenzziehung also, die ihn grundsätzlich verändert hat.

Im Brief ist er zwar der in die Kindheit zurückgeschlagene, vor der Mächtigkeit des Vaters hilflose Bub Franz Kafka; geschrieben aber hat den Brief der den Vater völlig durchschauende, sich selbstsichere und erwachsene Mann Franz Kafka, der sich selbst als „Riese“ bezeichnet. Denn „Riesenbrief“ kann ja nicht nur einen riesigen Brief, sondern – in Analogie zum „Advokatenbrief“ – durchaus auch, ohne allzu große Spitzfindigkeit, den „Brief eines Riesen“ meinen: Denn um die im Brief als „riesige Figur“ gezeichnete Person Hermann Kafkas zu überbieten und dessen Welt hinter sich zu lassen, bedarf es schon eines „Riesen“. Es entspräche durchaus der feinen Ironie Franz Kafkas, sich gleichzeitig als ein vom Vater in unüberwindbare Kleinheit gepresster und den Sohn-Zustand nie überwindender Sohn („ewiger Sohn“) und als ein den Vater weit übersteigender Riese zu stilisieren, wobei Riese hier heißen würde: Erwachsener geworden zu sein, als der Vater jemals erwachsen war.

Doch welches könnten die advokatorischen Kniffe für die Durchführung dieser doppelten Aktion sein?

4 „Liebster Vater“ im Sumpf / Schreiben als „Pflicht“

Fast zwei Wochen vor der Charakterisierung des „Briefes an den Vater“ als eines Textes voller „advokatorischer Kniffe“ hatte Franz Kafka im Brief vom 23. Juni 1920 an Milena Jesenská eine andere, jedoch ähnliche (und zugleich zurückgenommene) Aussage getroffen: „denn der Brief ist doch zu sehr auf sein Ziel hin konstruiert.“ Versucht man den „Brief an den Vater“ einer groben Gliederung zu unterwerfen, so ergeben sich drei inhaltliche Blöcke: das der übermächtigen Präsenz des Vaters auf Gedeih und Verderb ausgelieferte, nur in diesem Ausgeliefertsein zum Bewusstsein kommende Kind; die Einpassung der Erfahrung dieses Kindes in einen größeren familiären und gesellschaftlichen Rahmen (Familie: Mutter, Geschwister/ Geschäft: Bedienstete/ Judentum als Tradition, das heißt vor allem: Identitätsmarkierung zwischen dem deutschen und tschechischen Ambiente Prags); die Einheit des Heiratenwollens und Doch-Nicht-Heiratenkönnens des (unter dieser Vater-Erfahrung in diesem sozialen Feld) erwachsen gewordenen Kindes, eine in sich spannungsgeladene Einheit, der als antagonistischer Wunsch entgegen gesetzt ist: nur dem Schreiben zu leben.

Diesen drei thematischen Blöcken entsprechen drei advokatorische Strategien, die das biografische Erleben in Richtung gesamtgesellschaftliche Tendenz akzentuieren (vielleicht in der Fortschreibung von Otto Gross’ Plan der Zeitschrift „Blätter gegen den Machtwillen“), trotz dieser Verschiebung bleiben die Erfahrungen dennoch intim autobiografisch:ein Wegducken in Kleinheit vor der riesig-übermächtigen Vaterfigur, das einer völligen „Nihilierung“, einer Vernichtung gleichkäme, bliebe nicht die Differenz, die das Gegensatzpaar Vater-Sohn ständig erzeugt: Der erwachsene Franz Kafka stilisiert bei dem auf Gedeih und Verderb ausgelieferten Kind nur den Verderb, nicht das Gedeihen; die Überprüfung dieser Differenz im Durchspielen des Handelns des Vaters im engen familiären und breiten gesellschaftlichen Umfeld. Das dem Verderb ausgesetzte Ich des Briefes ist nur eines unter vielen: Relativierung der Vaterfigur im Vergleich verschiedener Gedeih- und Verderb-Arten in seiner häuslicher Wirkung und in seiner öffentlichen Repräsentanz, aber trotz des Vergleichs bleibt das Ich des Briefes „gewissermaßen im innersten, strengsten, zuschnürenden Ring“ des Vater-Einflußes gebannt; das offene Aussprechen dieser Differenz als Ermächtigung gegen die väterliche Macht in einer andern Existenzform: der des Schreibens. Dieses Gedeihen allerdings wird durchgespielt am Missverkennen der Heiratsabsichten des Sohnes durch den Vater, also auf Gebiet der Geschlechtlichkeit.

Thema 1: In Form einer Art von „Litanei“ erzählt Franz Kafka die Geschichte der Überwältigungen des einer nicht hinterfragbaren Autorität ausgelieferten und hilflosen Kindes durch die übermächtig gezeichnete Vaterfigur. Allein deswegen, weil der Vater der Vater und so ist, wie er ist, gibt es für das Kind keine Möglichkeit einer eigenständigen freien Entwicklung. Otto Gross hat diesen Sachverhalt so ausgedrückt: „Dieser Konflikt der Individualität mit der ins eigene Innere eingedrungenen Autorität ist mehr als jemals sonst der tragische Inhalt der Kindheitsperiode.“

Die aufs Allgemeine abzielenden Linien des ersten Absatzes des „Briefes an den Vater“ werden durch die Dichte der biografisch vermittelten Einpflanzung der Furcht völlig überwuchert: Das Kind Franz wird vor dem Vater immer kleiner und hilfloser, es verliert alle eigenen Interessen (Schilderung der Schulzeit, Wahl des Studienfachs und des Berufs), ohne dass es die Wünsche des Vaters für sich übernehmen und sie erfüllen könnte; es ist auf diese Weise lebensuntüchtig geworden, ja rettungslos verloren. Es scheint, als verschwände das Kind als eigenständig handeln könnende Person hinter der alles bestimmenden Figur des Vaters, ohne ihm je gleichen zu können.

Advokatorischer Kniff 1: Sich in biografischer Kleinheit wegducken und gleichzeitig die Thematik des Briefes ins Allgemeine verschieben. Sieht man von diesem suggestiv angelegten „Klein- und Kleiner-Werden“ des Sohnes vor dem Vater einmal ab und nimmt folgende Sätze aus dem ersten Absatz des Briefes hinzu: „weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern und weil die Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht“, dann zeichnet sich in dem thematischen Paar „Größe des Stoffs“ und „Furcht vor dem Vater“ auf dem Hintergrund der Psychoanalyse durchaus eine Lesart ab, welche die allgemeine Abzielung des Textes auf generationelle Erfahrung erkennbar werden lässt: Die durch psychoanalytische Arbeit erkenn- und nachvollziehbar gewordene strukturelle Position des Vaters in der Kleinfamilie ist als Wissensbestand der Generation Franz Kafkas zugänglich, während sie der Vatergeneration zumeist verschlossen bleibt. Dieser Wissensvorsprung wird von Franz Kafka sehr geschickt für seine Selbststilisierung in „Kleinheit“ genutzt.

Thema 2: Die Entfaltung des familiären und gesellschaftlichen Umfelds spielt Franz Kafka – in einem Crescendo – durch: Es steigert sich in der Charakterisierung der einzelnen Familienmitglieder über die Bediensteten des väterlichen Geschäfts, von des Vaters „gutmütiger“ Art außerhalb der Familie – „wie ein König auf Reisen“ – bis hin zur Praktizierung des Judentums durch den Vater und den Erfahrungen des Sohnes dabei. Bei diesem Durchgang tun sich Differenzen zur eigenen Erfahrung auf, welche die Machtposition des Vaters zwar nachhaltig gründlich und in Frage stellen, aber das eigene Gebunden-Sein im Zustand interesseloser Nihilierung (Schule, Studium- und Berufswahl) nicht überwinden können und strategisch auch nicht überwinden sollen.

Advokatorischer Kniff 2: Die postulierte einsozialisierte kindliche Kleinheit und Schwäche auch in die pubertäre Auflehnung (ein Beispiel hierfür wird bei der Erteilung des ersten Ratschlags für den Gang zur Prostituierten zu zeigen sein) und das selbstbestimmte Erwachsenen-Sein zu verlängern, um die eigene Handlungs- und Wirkungsmöglichkeit zu verschleiern und den väterlichen Machtzwang auf den Sohn zu demonstrieren. Die Zeichnung des Vaterbilds im breiteren gesellschaftlichen Umfeld „erdet“ den Vater zwar, aber belässt – in strategisch klar angelegter Weise – den erwachsenen Sohn als „Spezialfall in Kleinheit zurückgebundenen Existenz“. Nirgendwo im Schreiben Franz Kafkas hat der Mythos vom „ewigen Sohn“, der den Bannkreis des Vaters nicht verlassen kann und zeit seines Lebens von ihm gedeckelt bleibt, klareren Ausdruck gefunden und finden sollen.

Thema 3: Die Behauptung des Gebannt-Bleibens im „innersten, strengsten, zuschnürenden Ring“ des väterlichen Einflusses ist die Basis von Franz Kafkas Angriff im Riesenbrief: Er hatte den Text nicht mit dem motivierenden Anlass zur Niederschrift des Textes beginnen lassen: der vom Vater für ihn – im Jahr 1919, als 36-jährigen – konstatierten Sexualnot und deren Überwindung im Angebot eines gemeinsamen Bordellbesuchs. Die Verkennung seiner geschlechtlichen Situation und damit auch seiner Heiratsabsichten durch den Vater hat sich Franz Kafka für die Apotheose des Briefes aufgehoben. „Ich wage zu sagen, daß Dir in Deinem ganzen Leben nichts geschehen ist, was für Dich ein solche Bedeutung gehabt hätte, wie für mich die Heiratsversuche.“

Seine Differenz zum Vater, welche im Schreiben, in der „Pflicht“ zu schreiben besteht, bestimmt auch die Auswahl der potentiellen Gattinnen: „Beide Mädchen waren zwar durch den Zufall, aber außerordentlich gut gewählt. Wieder ein Zeichen Deines vollständigen Mißverstehens, daß Du glauben kannst, ich, der Ängstliche, Zögernde, Verdächtigende entschließe mich mit einem Ruck für eine Heirat, etwa aus Entzücken über eine Bluse. Beide Ehen wären vielmehr Vernunftehen geworden […]“.

Diese Vernunft Franz Kafkas entspringt einem doppelten Impuls: Familienvater zu sein und der Pflicht zu schreiben dennoch nachkommen zu können. Wägt man beide Wünsche gegeneinander ab, so wiegt bei der Gattinnenwahl die Möglichkeit des Weiter-Schreiben-Könnens schwerer, ist also eigentlich Franz Kafkas Vernünftigkeit bei den Heiratsversuchen: „Viel wichtiger aber ist dabei [bei meiner Heiratsunfähigkeit (Übernahme aus dem vorgehenden Absatz)] die Angst um mich. Das ist so zu verstehen: Ich habe schon angedeutet, daß ich im Schreiben und in dem, was damit zusammenhängt, kleine Selbständigkeitsversuche, Fluchtversuche mit allerkleinsten Erfolg gemacht […]. Trotzdem ist es meine Pflicht oder vielmehr es besteht mein Leben darin, über ihnen zu wachen, keine Gefahr, die ich abwehren kann, ja keine Möglichkeit einer solchen Gefahr an sie herankommen zu lassen. Die Ehe ist die Möglichkeit einer solchen Gefahr.“

Doch trotz dieser Gefahr wiegt die Lockung der anderen Seite, Heirat und Familiengründung, ebenfalls schwer: Sie würde ihn dem Vater gleichstellen, würde die ihm als Sohn auferlegte Tradition des Kinderkriegens und Fortführung der Familie erfüllen, würde ihn in bürgerlicher Hinsicht selbständig machen. „Heiraten, eine Familie gründen, alle Kinder, welche kommen, hinnehmen, in dieser unsichern Welt erhalten und gar noch ein wenig führen, ist meiner Überzeugung nach das Äußerste, das einem Menschen überhaupt gelingen kann.“

Das Heiraten aber sei ihm, Franz Kafka, „dadurch verschlossen, daß es gerade Dein eigenstes Gebiet ist“. Und warum er dem Vater auf dessen eigenstem Gebiet nicht ebenbürtig werden will, liegt an der Geschlechtlichkeit. Hier, in der Diskussion um Reinheit und Schmutz, greift der erneut ausgesprochene Rat des Gangs zur Prostituierten.

Denn der Ratschlag an den 36-jährigen wird kontrastiert mit einem ähnlichen Ratschlag, der um 1898/99 an den damals ungefähr16-jährigen ergangen war. Dieser erste Hinweise auf die potentiellen Dienste von Prostituierten fiel – man höre und staune – anlässlich einer auf dem Josephsplatz (dem heutigen Námĕsti repúbliky), also in voller Öffentlichkeit geführten Diskussion um Sexualaufklärung zwischen Franz Kafka und den Eltern: „Ich erinnere mich, ich ging einmal abends mit Dir und der Mutter spazieren, es war auf dem Josephsplatz […], und fing dumm großtuerisch, überlegen stolz, kühl (das war unwahr), kalt (das war echt) und stotternd, wie ich eben meistens mit Dir sprach, von den interessanten Sachen zu reden an, machte euch Vorwürfe, daß ich unbelehrt gelassen worden bin, daß sich erst die Mitschüler meiner hatten annehmen müssen, daß ich in der Nähe großer Gefahren gewesen bin […], deutete aber zum Schluß an, dass ich jetzt schon glücklicherweise alles wisse, keinen Rat mehr brauche und alles in Ordnung sei. Hauptsächlich hatte ich davon jedenfalls zu reden angefangen, weil es mir Lust machte, dann auch aus Neugierde und schließlich auch, um mich irgendwie für irgend etwas an Euch zu rächen.“

Der – glaubt man dem ersten Teil des Briefes – um jedes Selbstbewusstsein gebrachte, vor dem Vater eine „stockende, stotternde Art des Sprechens“ gebrauchende, angesichts der Macht des Vaters ständig die eigene „Wertlosigkeit“ einsaugende Franz Kafka erzählt, wie er als circa 16-jähriger auf einem Spaziergang im Zentrum Prags seine Eltern – Vater und Mutter!, in aller Öffentlichkeit! – auf ihr Versäumnis hinwies, ihn sexuell nicht aufgeklärt zu haben. Ein für die Zeit der Jahrhundertwende – denkt man zum Beispiel an die Sexualaufklärung in Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ aus dem Jahr 1891 – eigentlich völlig unerhörter Vorgang, der alle vorherigen Kleinheitsstilisierungen in Frage zu stellen vermag und eine Liberalität des Vaters aufblitzen lässt, die aus dem vorhergehenden Text kaum zu erwarten gewesen wäre. Doch dass Hermann Kafka dem Sohn – in der Öffentlichkeit und vor Augen und Ohren der Mutter – den Ratschlag zur Prostitution erteilt, das scheint den jungen Franz Kafka nachhaltig umgeworfen zu haben: „Du nahmst es entsprechend Deinem Wesen sehr einfach, Du sagtest nur etwa, Du könntest mir einen Rat geben, wie ich ohne Gefahr diese Dinge werde betreiben können. Vielleicht hatte ich gerade eine solche Antwort hervorlocken wollen, die entsprach ja der Lüsternheit des mit Fleisch und allen guten Dingen überfütterten, körperlich untätigen Kindes, aber doch war meine äußerliche Scham dadurch so verletzt oder ich glaubte, sie müsse so verletzt sein, dass ich gegen meinen Willen nicht mehr mit Dir darüber sprechen konnte und hochmütig frech das Gespräch abbrach.“

Die Reaktualisierung dieser Szene auf dem Josephsplatz durch den erneut erteilten Ratschlag zwanzig Jahre später führt zur Niederschrift des „Briefes an den Vater“. Wieder war der Ratschlag im Beisein der Mutter erteilt worden: „Du sprachst ausführlicher und deutlicher, aber ich kann mich an die Einzelheiten nicht mehr erinnern, vielleicht wurde mir ein bisschen nebelhaft vor den Augen, fast interessierte mich mehr die Mutter, wie sie, zwar vollständig mit Dir einverstanden, immerhin etwas vom Tische nahm und damit aus dem Zimmer ging. […] Tiefer gedemütigt hast Du mich mit Worten wohl kaum und deutlicher mir Deine Verachtung nie gezeigt. Als Du vor zwanzig Jahren ähnlich zu mir gesprochen hattest, hätte man darin mit Deinen Augen sogar etwas Respekt für den frühreifen Stadtjungen sehen können, der Deiner Meinung nach schon so ohne Umwege ins Leben eingeführt werden konnte. Heute könnte diese Rücksicht die Verachtung nur noch steigern, denn der Junge, der damals einen Anlauf nahm, ist in ihm steckengblieben und scheint Dir heute um keine Erfahrung reicher, sondern nur zwanzig Jahre jämmerlicher. Meine Entscheidung für ein Mädchen bedeutete Dir gar nichts.“

Advokatorischer Kniff 3: Am Beispiel des zweimaligen Ratschlags zur Prostitution reißt Kafka-Sohn die Differenz zu Kafka-Vater auf. Der Vater, vom Kind-Sohn in voller Reinheit imaginiert und vom erwachsenen Sohn noch immer entschuldigt (obwohl es auf der Hand liegt, dass der Vater den Ratschlag, den er dem Sohn gegeben hatte, wohl auch selbst praktiziert haben dürfte), wird – ohne dass dies explizit gesagt würde – der Unreinheit bezichtigt. Denn das „Gehe-ich-mit-dir-hin“ impliziert ja die Kenntnis der Wege und des Vorgangs durch den Vater, entlarvt den reinen Familienvater und die Institution der Ehe als solche. Aber Franz Kafka kehrt – das ist der subtilste advokatorische Winkelzug des Briefes – die Schmutzzuschreibung nicht um, sondern lässt sie in kindlicher Perspektive stehen: „Der Gedanke, daß Du etwa vor der Ehe auch Dir einen ähnlichen Rat hättest geben können, war mir völlig undenkbar. So war also fast kein Restchen irdischen Schmutzes an Dir. Und eben Du stießest mich, so als wäre ich dazu bestimmt, mit ein paar offenen Worten in diesen Schmutz hinunter. Bestand die Welt also nur aus Dir und mir, eine Vorstellung, die mir sehr nahelag, dann endete also mit Dir diese Reinheit der Welt, und mit mir begann kraft Deines Rates der Schmutz.“ Und: „Es ist nicht leicht, Deine damalige Antwort zu beurteilen, einerseits hat sie doch etwas niederwerfend Offenes, gewissermaßen Urzeitliches, anderseits ist sie allerdings, was die Lehre selbst betrifft, sehr neuzeitlich bedenkenlos.“

Mit dem Thema Schmutz / Nicht-Schmutz betritt Franz Kafka sexualtheoretisches Terrain: Mit der Bezeichnung des Ratschlag des Vaters als „etwas niederwerfend Offenes, gewissermaßen Urzeitliches“ und gleichzeitig als „sehr neuzeitlich bedenkenlos“ klingt die Thematik des Sumpfes, des Geschlechtsdiskurses zwischen 1910 und 1920 an. Denn im Vorwurf des „Urzeitlichen“ klingt der Bachofens Sumpfzeit an, in der „neuzeitlichen Bedenkenlosigkeit“ die Sumpfexistenz der Vätergeneration und die Bereitschaft der Söhne zur Überwindung dieses Sumpfexistenz.

Der Vater ist im Sumpf offener Urzeitlichkeit und neuzeitlicher Bedenkenlosigkeit gefangen; die bürgerliche Fassade der väterlich-ehelichen Reinheit bröckelt. Eine Ehe hatte Franz Kafka erstrebt, aber in Angst um seine Schreib-Existenz nicht realisieren können. Im Durchdenken des erneut erteilten Ratschlags durch den Vater setzt sich Franz Kafka vom Ehezwang frei: Das hier roh gezeigte Verständnis der Ehe als Ort der Stillung geschlechtlicher Not und das damit implizit, aber dennoch klar ausgesprochene Missverständnis der Heiratsabsichten des Sohnes – das Nicht-zur-Kenntnis-Nehmen seiner Intention für eine Ehe – ermöglichen es Franz Kafka, einen Schlussstrich unter die Heiratsabenteuer zu ziehen: Verheiratung und Schreibexistenz kommen sich nicht mehr in die Quere, der Antagonismus hat sich gelöst. Folgerichtig wird Franz Kafka den Versuch unternehmen, Beziehungen ohne Eheschließung aufzubauen.

Der Brief an Julie Wohryzeks Schwester mit dem Inhalt der Aufrechterhaltung der Beziehung ohne Trauschein ist hierzu der erste, mutige Schritt; die Verbindung mit der verheirateten Milena Jesenská, die konsequent zum Schlussmachen mit Julie Wohryzek führt, ist der nächste; die Liebe zu Dora Diamant und ihr gemeinsames Leben in Berlin die konsequente Fortsetzung dieser Linie.

Der „Brief an den Vater“ markiert den Schritt über eine Schwelle, er setzt einen Neuanfang. Denn er kann darüber informieren – wie er Milena Jesenská gegenüber äußert –, „wie es früher mit mir war“. Diese Aussage impliziert, dass es jetzt – nach dem Brief – nicht mehr so ist. Franz Kafka entlässt sich mit dem Brief aus dem „Heiratszwang“, der ihn bis dahin begleitet und bestimmt hat. Der Brief „Liebster Vater“ ist für Franz Kafka ein Befreiungsschlag: Er lässt den Vater und die Anforderungen, die er aus der Existenzweise des Vaters für sich imaginiert hatte, hinter sich zurück, im Sumpf bürgerlicher Doppelmoral.

5 Ausgang

Eine der interessanten, jedoch weithin unbeachtet gebliebenen Aussagen des „Briefes an den Vater“ findet sich ziemlich zu Beginn der Darstellung der Eheproblematik Franz Kafkas und der Institution Ehe insgesamt. Denn in ihr findet sich der „Hebel“, mit welcher die Differenz-Ziehung zum Vater auf dem Gebiet der Geschlechtlichkeit angesetzt werden kann: „Soweit es aber dafür eine direkte Vorbereitung des Einzelnen und eine direkte Schaffung der allgemeinen Grundbedingungen gibt, hast Du äußerlich nicht viel eingegriffen. Es ist auch nicht anders möglich, hier entscheiden die allgemeinen geschlechtlichen Standes-, Volks- und Zeitsitten.“

In dem offenen Bezug auf den allgemeinen Geschlechtsdiskurs zeigt sich, wie Kafkas Zergliederung der Beziehung zu seinem Vater mit Otto Gross’ Kampf gegen Kleinfamilie und Patriarchat verknüpft ist oder wie sich die „offene Urzeitlichkeit und neuzeitliche Bedenkenlosigkeit“ an Herbert Blumenthals „Sumpf-Aufschrei“ im Oktober-Heft des „Anfang“ anschließt.

Plötzlich erweist sich Bachofen nicht als nur „abgehobener“ Sexualtheoretiker, sondern als „Sprachrohr“ einer von der Psychoanalyse beeinflussten, deren Konsequenzen aber kaum durchdenkenden sexualtheoretischen Strömung: Die Väter befinden sich im vorzeitlichen Sumpf, die Söhne, wissend um die Sumpfexistenz der Väter, versuchen diese in der Überwindung der väterlichen Position zu verlassen. Die Metapher des Sumpfes ist eine theoretische, die Urzeitlichkeit, die Kafka dem Vater attestiert, ist ein theoretisch-zeitgebundenes Konstrukt, das jedoch produktive Differenz zu setzen vermag.

Die aufscheinende Differenz lässt erkennbar werden, dass der Text allgemein auf eine generationelle Erfahrung vor dem Hintergrund der Psychoanalyse abzielt: Der Generation der zwischen 1875 und 1895 geborenen Söhne – intellektuell interessierter Söhne wohlgemerkt! – ist ein Wissen um die strukturelle Position des Vaters in der Kleinfamilie zugänglich, über welches ihre Vätergeneration – den zwischen 1845 und 1865/ 1870 geborenen Männern – in dieser Form meist nicht verfügen konnte. Durch die Psychoanalyse ist die Struktur der Kleinfamilie zergliedert und grundsätzlich in Frage gestellt – die für das Funktionieren der patriarchalischen Familie notwendige Identifikationsleistung der Söhne mit dem Vater kann nur über Furcht und Angst gelingen, letztendlich ist es der Angstzustand, der diese Identifikation erzwingt. Auf dem Prüfstand steht die allein auf die Eigenschaft des Vaterseins gegründete Autorität, der väterliche Machtwille. Dieser Machtwille – dem ödipalen Dreieck als Identitätsverortung zwischen Mutter- und Vater-Imago und dessen patriarchatsgemäßer Auflösung in der Unterwerfung unter das väterliche Prinzip eingeschrieben – entfaltet seine höchste Wirksamkeit in der Strukturierung der sexuellen Ausrichtung der Söhne, zum Beispiel im ambivalent erlebten Zwang zur Eheschließung.

Franz Kafka, dessen Schreiben immer zum Ziel hat, seine innerste Existenz in Text zu transformieren (also das, was die Psychoanalyse als die Trias Es, Ich, Über-Ich zu fassen sucht), kann in seiner literarischen Radikalität den psychoanalytischen Ansatz und die entsprechende Terminologie negieren, nicht aber den zeitgenössischen Einfluss, den das Freud’sche Denken allenthalben ausübt. So könnte Franz Kafkas „geistige Heiratsunfähigkeit“ als „Herausspringen aus der Totschlägerreihe“, gelesen werden, welches Bezug nimmt auf die prägende Abfolge von Kind, Vater, Kind in Freuds Satz: „Das Kind ist der Vater des Mannes“.

Die generationelle Klammer aber stellt zwischen 1910 und 1920 die Sumpfmetaphorik dar. Hier greift Walter Benjamins Charakteristik von Kafkas Schreiben als Textur der „Sumpfzeit“: „Kafka räumt ganze ungeheure Areale, die von der Menschheit besetzt waren, nimmt sozusagen einen strategischen Rückzug vor; er nimmt die Menschheit auf die Linie des Sumpfes zurück. Es kommt ihm darauf an, die Gegenwart durchaus zu eliminieren. Er kennt nur Vergangenheit und Zukunft, die Vergangenheit als Sumpfdasein der Menschheit in gänzlicher Promiskuität mit allen Wesen, als Schuld, die Zukunft als Strafe, Sühne, vielmehr: von der Schuld her stellt sich die Zukunft als Strafe dar, von der Erlösung her stellt sich die Vergangenheit als die Lehre, die Weisheit dar.“

Walter Benjamin, der den gesamten „Brief an den Vater“ – Erstausgabe 1952 – nicht kennen konnte, vielleicht aber noch die 1937 von Max Brod veröffentlichten Auszüge in dessen Kafka-Biografie zur Kenntnis genommen hat, fasst dennoch das Schreiben an den „Liebsten Vater“ treffend zusammen: „Schamlosigkeit der Sumpfwelt. Ihre Macht liegt in ihrer Vergessenheit.“ Indem Franz Kafka diese Vergessenheit der Sumpfwelt in der Differenz zwischen Sohn und Vater dem Vergessen in seiner durchaus strategisch angelegten Tiefenschürfung entwindet, schafft sich Franz Kafka ein Schlupfloch, das eine Zukunftsperspektive jenseits der übermächtigen Vaterfigur zulässt.

Schon schwer krank, kurz vor seinem Tod, im letzten Brief an die Eltern, datiert vom 2. Juni 1924, streift Franz Kafka beiläufig die erreichte Ebenbürtigkeit mit dem Vater in der Erinnerung an Gemeinsamkeit im Biertrinken: „Und dann ,ein gutes Glas Bier‘ zusammentrinken, wie Ihr schreibt, woraus ich sehe, dass der Vater vom Heurigen nicht viel hält, worin ich ihm hinsichtlich des Biers auch zustimme. Übrigens sind wir, wie ich mich während der Hitzen öfters erinnere, schon einmal gemeinsame Biertrinker gewesen, vor vielen Jahren, wenn der Vater auf die Civilschwimmschule mich mitnahm.“

Anmerkung der Redaktion: Der vorliegende Text ist eine fußnotenlose Fassung von Karl Brauns Aufsatz „,Liebster Vater’ oder: Franz Kafkas Befreiung aus dem Ehezwang“ (S. 111-133) in dem von Peter Becher, Steffen Höhne und Marek Nekula herausgegeben Band „Kafka und Prag: Literatur-, kultur-, sozial- und sprachhistorische Kontexte“, Böhlau Verlag, Köln / Weimar / Wien 2012. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die Publikationsgenehmigung.

Literatur:

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Peter Becher / Marek Nekula / Steffen Höhne (Hg.): Kafka und Prag. Literatur-, Kultur-, Sozial- und Sprachhistorische Kontexte.
Böhlau Verlag, Köln 2012.
364 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783412207779

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