Mit Gespür für Familiengeschichten

Zur Neuausgabe der Natalia-Ginzburg-Biografie von Maja Pflug

Von Monika RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wenn bei uns zu Hause, als ich noch ein Kind war, meine Geschwister oder ich bei Tisch ein Glas umstießen oder ein Messer fallen ließen, dann donnerte die Stimme meines Vaters: Benehmt euch nicht rüpelhaft! Wenn wir die Sauce mit Brot auftunkten, rief er: Schleckt die Teller nicht aus! Macht kein Geschmier! Macht keine Sudeleien!“

Unvergesslich sind diese ersten Sätze Natalia Ginzburgs aus ihrem mit dem höchsten italienischen Literaturpreis, dem Premio Strega, ausgezeichneten Roman „Familienlexikon“ (1963), der innerhalb von zwei Monaten entstand und aus Splittern und Bruchstücken nicht nur den Alltag ihrer weitverzweigten Verwandtschaft, sondern auch der italienischen Gesellschaft im Turin der 1930er- und 1940er-Jahre eindringlich schildert. Sie nähert sich ihrer großbürgerlichen Familie, in der Katholizismus, Judentum, Kommunismus, Musik und Naturwissenschaften gemeinsam ihren Einfluss entfalteten, durch das familieneigene Vokabular und Redensarten, die auch dann noch – zumindest in der Erinnerung – Zusammenhalt suggerierten, als zeitgeschichtliche Erfahrungen die Bindungen gelockert hatten oder fast gänzlich abreißen ließen: Sagte man Jahre später etwa „Simpel“, hat man die Gestalt eines Vaters heraufbeschworen, der seine Mitmenschen schonungslos zu kommentieren und kategorisieren pflegte. „Simpel“ oder „Neger“ war dann ein Dummkopf, der sich „linkisch, ungeschickt und schüchtern benahm, wer sich unpassend kleidete, wer nicht bergsteigen konnte und wer keine Fremdsprachen kannte.“

Maja Pflug, die sich vor Jahren als Übersetzerin Natalia Ginzburgs Werken verschrieben hat, liefert in ihrer Ginzburg-Biografie, die 1995 zum ersten Mal erschien und nun eine zweite Auflage erlebt, die fehlenden Fakten und die ergänzende beziehungsweise Gegenperspektive der Familienmitglieder. Indem sie entlang der Vita der Autorin Situationen und Episoden rekonstruiert, diese mit der Geschichte der Stadt und des Landes unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Natalia Ginzburg darin miteinander verbindet, Zeitzeugen, Freunde und die Autorin selbst zu Wort kommen lässt, gelingt ihr eine lebendige Darstellungsweise.

Natalia Ginzburg wurde 1916 als fünftes Kind des Anatomieprofessors Giuseppe Levi und Lidia Tanzi in Palermo geboren. Als Nachzüglerin der Familie ist sie ein einsames, aber fantasiebegabtes Kind mit imaginären Freunden gewesen, dessen Schreibpensum vom frühen Alter „ein Gedicht pro Tag“ war und das mit 17 seine erste Veröffentlichung in der Literaturzeitschrift „Solaria“ feiern durfte. Das Studium der Literaturwissenschaft bricht sie ab und heiratet 1938 den Slawistik-Professor Leone Ginzburg, der zusammen mit Carlo Levi und Cesare Pavese zu den Mitarbeitern des Einaudi-Verlags zählte. Obwohl sie lange nicht wahrhaben wollte, dass er die „richtige Person“ ist, geht sie in der Zeit des Faschismus mit ihrem sieben Jahre älteren Ehemann und ihren drei Kindern in die Verbannung in das Dorf Pizzoli in den Abruzzen. Mit viel Feingefühl porträtiert Pflug Natalia Ginzburgs Beziehungen, auch zu ihrem zweiten Ehemann, der im Gegensatz zum ausgeglichenen, in sich ruhenden Leone Ginzburg, der als Widerstandskämpfer an den Folgen der Folter im Gefängnis der Nazis starb, ein ausgesprochener „Wirbelsturm“ war. Sie heiratete den Anglistik-Professor Gabriele Baldini 1952 und lebte mit ihm in Rom.

Doch nicht nur in ihrem Privatleben wird Familie großgeschrieben – zeitweilig stellt die Geburt ihrer Söhne das Schreiben in den Schatten –, auch ihre Werke kreisen um die Familie. Neben dem erwähnten „Familienlexikon“ haben sich ihre Erzählungen und Theaterstücke auf unterschiedlichste Weise diesem Thema verschrieben. Schildern die frühen Texte exemplarische Einzelschicksale – in „Die Straße in die Stadt“ (1942), die noch unter dem Pseudonym Alessandra Tornimparte erschien, wird ein einfaches Mädchen, das ihre Hoffnungen auf den Hafen der Ehe setzt, enttäuscht; in „Die Mutter“ (1948) scheidet eine junge Witwe, die ohne ihren Mann für sich keinen passenden Lebensentwurf mehr findet, freiwillig aus dem Leben –, führen spätere Texte wie die zwei langen Erzählungen „Famiglia“ und „Borghesia“ (1977, deutsch „Ein Mann und eine Frau“), ihren Theaterstücken aus den 1960er-Jahren ähnlich, Krise und Zerstörung der Institution Familie vor Augen.

Pflug entdeckt überdies in der Wahl der Gattung eine den schriftstellerischen Haltungen entsprechende Gesetzmäßigkeit, nämlich die Tatsache, dass in Ginzburgs Prosawerken Autobiografie und Fantasie stets in dem Sinne eine Allianz eingehen, dass sie „immer, wenn ich die erste Person benutzte, ungerufen, ungebeten mit in mein Schreiben hineinschlüpfte“, und dass sie vor allem in ihren Theaterstücken andere Personen sprechen ließ. Erst in ihren Essays äußere sie sich selbst unverfälscht, ohne jegliche Erfindung.

Das Schreiben war aber nur ein Teil Natalia Ginzburgs Engagements. Einige Kapitel der Biografie sind der Redakteurin und Lektorin des Einaudi Verlags gewidmet, die zeitgenössische Autoren betreute und Marcel Proust, Gustave Flaubert, Marguerite Duras und Guy de Maupassant übersetzte. Natalia Ginzburg zog schließlich 1983 als unabhängige Linke auf der Liste der Kommunistischen Partei ins Parlament ein. Aussagekräftige Auszüge aus ihren Reden zu Minderheitenproblematik, Frauenfragen, Adoptionsrecht und die allgemeine Lage der Familie runden das facettenreiche Bild einer engagierten Frau und einer der größten Schriftstellerinnen Italiens ab, die auf ihre unaufdringliche Weise zur Veränderung anrufen wollte.

Titelbild

Maja Pflug: Natalia Ginzburg. Eine Biographie.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011.
190 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783803126740

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